Cover
Titel
Saksalainen Suomi 1918 [Deutsches Finnland 1918].


Autor(en)
Hentilä, Marjaliisa; Hentilä, Seppo
Erschienen
Helsinki 2016: Siltala
Anzahl Seiten
350 S.
Preis
€ 33,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Manfred Menger, Sundhagen

Die dramatischen Ereignisse nach der Proklamation der finnischen Selbstständigkeit im Dezember 1917, die Zuspitzung der inneren Gegensätze bis zum Ende Januar 1918 einsetzendem Bürgerkrieg sowie die Intervention deutscher Truppen im Frühjahr 1918 und deren Konsequenzen für die Geschicke des Landes gehörten lange zu den umstrittensten, inzwischen aber am gründlichsten erforschten Vorgängen der neueren finnischen Geschichte. Eine mit dem Buch der Hentiläs vergleichbare, ebenso überzeugende und gut lesbare Gesamtdarstellung der Rolle Deutschlands im damaligen Geschehen indessen lag bisher nicht vor. Die Monografie resümiert den Extrakt langjähriger kritischer Forschung, hat aber auch neue Fragestellungen und Interpretationen zu bieten, die nicht nur durch ihre inhaltliche Substanz, sondern ebenso durch eine bildhafte, eingängige und klare Sprache beeindrucken.

Die zentrale Aussage der beiden durch mehrere ihrer ins Deutsche übersetzten Publikationen und durch ihre kulturpolitischen Aktivitäten vielen deutschen Finnlandfreunden bereits bekannten Hochschullehrer und Forscher, lautet kurz und knapp: Finnland wurde zuerst mit Hilfe Deutschlands und dann vor dessen Hilfe gerettet. Ein originelles Wortspiel, das die Sache aber auf den Punkt bringt und schon im Vorwort ihr Hauptanliegen verdeutlicht: Den Nachweis der Ambivalenz des deutschen Vorgehens, der zwiespältigen, überwiegend aber eher kritisch beurteilten Rolle Deutschlands im ersten Jahr finnischer Selbstständigkeit.

Entscheidend für die Entwicklung in Richtung auf ein „Deutsches Finnland“ waren aus Sicht der Verfasser die Schockwirkungen der russischen Oktoberrevolution. Unter deren Eindruck wurde der seit Weltkriegsbeginn nur von einer Randgruppe, den „Aktivisten“, verfolgte Kurs der völligen Abkehr von Russland und Hinwendung zu Deutschland zur Maxime nahezu des gesamten bürgerlichen Lagers. Deutsche Rückendeckung erschien den regierungstreuen Kreisen nun unabdingbare Voraussetzung für die Anerkennung und dauerhafte Respektierung der finnischen Selbstständigkeit durch Sowjetrussland sowie für die Bewahrung des bestehenden Gesellschaftssystems. Trotz mancher im Vorfeld der deutschen militärischen Intervention tatsächlicher oder vermeintlicher Eigenmächtigkeiten des finnischen Gesandten in Berlin, nicht eindeutig autorisierten Hilfsersuchen und Vertragsabschlüssen und anderen Irritationen, die im Detail dargestellt werden, akzeptierten letztlich alle politischen Führungskräfte des weißen Finnland die Position: Wir brauchen deutsche Hilfe, koste es, was es wolle. Die Autoren betonen, dass Finnland von seiner Regierung nahezu bedingungslos an Deutschland ausgeliefert wurde, konzedieren aber auch, dass dabei nicht nur naive Deutschfreundlichkeit, großfinnische Wunschträume oder außenpolitische Unerfahrenheit im Spiel waren. Vielmehr sprachen auch noch nach dem Ende des Bürgerkrieges einige schwerwiegende Faktoren, insbesondere die andauernde fragile Sicherheitslage, dafür, bis zuletzt auf die deutsche Karte zu setzen.

Auf deutscher Seite sei es indessen, so konstatieren die Verfasser rigoros, allenfalls indirekt um Hilfe für die Weißen, vor allem aber um die eigenen Interessen gegangen. Zunächst vor allem darum, der drohenden Gefahr der Bildung einer neuen Ostfront durch von Murmansk her vorrückende Ententetruppen entgegenzuwirken und angesichts der unsicheren Verhältnisse in Russland in der Lage zu sein, jederzeit zu beiden Seiten des Finnischen Meerbusens Druck auf Petrograd auszuüben. Dass Finnland den Preis für die deutsche militärische Unterstützung in Form von Akzeptanz deutscher Hegemonie als künftiger Vasallenstaat des Deutschen Reiches zu errichten habe, belegen die Autoren mit ihrer Analyse der am 7. März 1918 abgeschlossenen deutsch-finnischen Verträge. Zu der schon im März vertraglich wie eine Dienstleistung auf Bestellung arrangierten, von Finnland durch gravierende Einschränkungen seiner eigenen Handlungsfreiheit und in barer Münze zu bezahlenden militärischen Intervention kamen dann noch viel weitgehende Absichten und Maßnahmen. Dazu gehörten der Aufbau einer Armee nach deutschem Muster, die als „Stahlfaust des Nordens“ im Kriegsfall uneingeschränkt deutschem Befehl unterstellt werden sollte, ein Militärbündnis, die Wahl von Friedrich Karl von Hessen, eines Schwagers des Kaisers, zum finnischen König. Ausgesprochen konterrevolutionäre Erwägungen und Befürchtungen vor einem Übergreifen der revolutionären Welle auf ganz Nordeuropa und Deutschland, ein namentlich Wilhelm II. beunruhigendes Szenario, werden von den Autoren als eigenständiges Interventionsmotiv kaum in Betracht gezogen. Vielmehr bewerten sie den finnischen Bürgerkrieg geradezu als Glücksfall für Deutschland, da er den idealen Vorwand lieferte, um in Finnland unter dem Deckmantel humanitärer Hilfe gegen „fremde Räuberbanden“ Fuß zu fassen.

Wie das praktisch verlief, wird im Buch in einem instruktiven Überblick verdeutlicht. Etwa 13.000 Mann starke Interventionstruppen wurden in riskantem Transport über die vereiste und verminte Ostsee gebracht. Von Anfang April bis Mai operierten diese kampferfahrenen Truppen in Südfinnland gegen militärisch unbedarften Rote Verbände. Die abschließende Gewichtung des deutschen Einschreitens für den Ausgang der Kämpfe bleibt indessen etwas unbestimmt. Es heißt, Deutschlands Hilfe habe den Ausgang des gleichzeitig mit den unter General G. Mannerheim vom Norden her gegen die Revolutionäre vorrückenden finnischen Weißen geführten Krieges vielleicht nicht entschieden, ihn aber jedenfalls verkürzt, und so eine höhere Zahl an Todesopfern verhindert. An den zügellosen Terrormaßnahmen außerhalb des Kampfgeschehens (mit 7.370 hingerichteten, weiteren 12.000 in den Gefangenenlagern vor allen durch Hunger und Seuchen umgekommenen „Roten“, die ihrerseits 1.630 Gewaltverbrechen begingen) waren die Deutschen nach schwer zu verifizierenden Angaben mit ca. 100 Hinrichtungen beteiligt. Der „Pöbel“ stand nach Auffassung des Befehlshabers der „Ostseedivision“, des Generals Rüdiger von der Goltz, „außerhalb des Völkerrechts“. Dennoch sollen deutsche Soldaten vielfach die Mordgier („murhanhimo“) der Sieger gedämpft haben. Dagegen ist trotz internationaler, vor allem schwedischer Appelle, von offizieller deutscher Seite nichts geschehen, um deren Massenterror Einhalt zu gebieten.

Etwa die Hälfte der Monographie widmet sich dem Geschehen vom Mai bis zum Dezember 1918, also der Periode in der Finnland de facto unter deutschem Kommando stand und in der manches geschah, um diese Konstellation auf Dauer zu bewahren. Die Stärke dieses zweiten Teils des Buches besteht sicher darin, dass einige in der bisherigen Forschung noch kaum, jedenfalls aber noch nie so detailliert behandelte Vorgänge ins Blickfeld rücken. Dabei beeindruckt vor allem die von den Autoren gewählte alltagsgeschichtliche Perspektive, die Tatsache, dass sie nicht allein das Agieren der deutsch-finnischen Führungsebene im Blick haben, sondern auch das Alltägliche und Gewöhnliche im außergewöhnlichen Verhältnis zwischen den mehr oder weniger regierungstreuen Bevölkerungskreisen und den bis zum Dezember im Lande verbleibenden deutschen Soldaten darstellen.

Man erfährt, durch viele Fakten belegt, dass die Deutschen zumeist sehr freundlich aufgenommen, bewirtet und gefeiert wurden – und zwar nicht nur von der „feinen“ Helsinkier Gesellschaft, sondern landesweit und nicht begrenzt auf die Oberschichten. Dabei war die Motivation der „einfachen Leute“ aber nicht vorrangig politisch geprägt, sondern von Freude und Erleichterung über die Aussicht auf Ruhe und Frieden. Die von den Siegern kolportierte These nach der die Deutschen nicht als Eroberer, sondern als selbstlose Helfer ins Land kamen, soll das Gefühl der Erlösung noch befördert haben. Natürlich war das nur eine Seite der Medaille. Für die Verlierer des fast von der gesamten Spitze der Sozialdemokratie unterstützten, mit radikaldemokratischen, sich von den Vorstellungen und Praktiken der Bolschewiki unterscheidenden Zielstellungen geführten Kampfes, gab es in der nun mehr als je zuvor zerklüfteten Gesellschaft keinen Grund für eine prodeutsche Euphorie.

Zu den eigenständigen, bislang kaum im Blick gewesenen Vorgängen gehören auch Skizzen über das soldatische Alltagsleben, Aussagen über Aktionen gegen Zersetzungserscheinungen, über zunehmende Disziplinverstöße, Schwarzmarktgeschäfte, Schmuggel, Raub und eine florierende Beschaffungswirtschaft deutscher Wachmannschaften. Diese Schilderungen beruhen auf einer profunden Auswertung eines umfangreichen, bisher wenig beachteten Quellenmaterials.

Das Fazit der Autoren lautet: Finnland war unter den Bedingungen der deutschen militärischen Präsenz vertraglich und de facto noch kein wirklich unabhängiger, sondern ein in seiner Souveränität stark eingeschränkter Staat, dem dauerhaft der Status eines deutschen Protektorats drohte. Dass dennoch die verklärende Erinnerung, der von der Freiheitskriegsliteratur kolportierte Mythos von Deutschland als selbstloser Helfer, die Zeiten überdauerte, war, wie abschließend resümiert wird, vor allem darauf zurückzuführen, dass ein „Deutsches Finnland“ zwar eine ernsthaft drohende Gefahr, aber letztlich infolge der deutschen Niederlage nicht realisierte Alternative im Ringen um Finnlands Selbstständigkeit blieb. Es handelt sich um ein inspirierendes Buch, das auch in deutscher Übersetzung erscheinen sollte.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/