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Titel
Die Kunst des Möglichen. Zur Entstehung der Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert


Autor(en)
Messmer, Kurt
Anzahl Seiten
240 S.
Preis
€ 49.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Dominik Sauerländer, Pädagogische Hochschule der Fachhochschule Nordwestschweiz, Brugg-Windisch

Noch immer ist die Entstehungsgeschichte der Schweiz in der Öffentlichkeit von einem geschichtskulturellen Narrativ beherrscht, das fachwissenschaftlich längst widerlegt ist.1 Selbst bei offiziellen Führungen im nationalen Parlamentsgebäude werden die Besuchenden über den Schwur der drei Eidgenossen auf dem Rütli informiert und es wird ihnen erzählt, wie diese Gründerväter 1291 den sogenannten Bundesbrief beschworen hätten, aus dem die heutige Schweiz hervorgegangen sei.2 Der Stand der aktuellen Forschung zur Entstehung der Eidgenossenschaft wird in der breiten Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Vielmehr ist die um 1470 im sogenannten Weissen Buch von Sarnen erstmals überlieferte Geschichte von Wilhelm Tell und dem Bundesschwur auf dem Rütli bis heute dominant geblieben. Die Narration ist ein antihabsburgischer Befreiungsdiskurs, der die Entstehung der Eidgenossenschaft als Abwehrdispositiv gegen eine willkürliche habsburgische Herrschaft erklärt. Der Bundesschwur wurde vom Chronisten Aegidius Tschudi um die Mitte des 16. Jahrhunderts erstmals auf das Jahr 1307 festgelegt. Da blieb er, bis Ende des 19. Jahrhunderts eine auf 1291 datierte, aber bisher kaum beachtete Landfriedensurkunde zu einem staatspolitischen Gründungsdokument erhoben wurde. Durch die Verbindung dieses „Bundesbriefs“ mit den Legenden um Rütlischwur und Wilhelm Tell entstand eine Meistererzählung, deren Attraktivität nach wie vor ungebrochen ist. Sie erhält im Zeitalter des spätmodernen Nationalismus als identitätsstiftende Tradition sogar wieder neuen Auftrieb.

Es ist das Verdienst des Historikers und Geschichtsdidaktikers Kurt Messmer, diese Erzählung für ein interessiertes, aber wissenschaftsfernes Publikum eingängig und umfassend zu dekonstruieren. Das heisst: eigentlich tut er viel mehr als das. Er stellt der teleologischen Erzählung (Befreiungstradition), die 1291 ansetzt und 1848 in der modernen Schweiz gipfelt, das „offene Feld“ (S. 14) der historischen Entwicklung gegenüber. Er zeigt, wie Individuen und Gesellschaften Handlungsspielräume nutzen, wie sie Entwicklungen zu steuern versuchen, wie sie sich aber auch pragmatisch nach den Verhältnissen richten, wenn es opportun oder unausweichlich erscheint. Und er bettet die verschiedenen Stränge der eidgenössischen Gründungslegende in ihre jeweilige Entstehungszeit ein. Dabei illustriert Messmer, wie sie sich mit den politischen und wirtschaftlichen Veränderungen entwickeln und laufend an die aktuellen Erfordernisse kultureller und politischer Identität angepasst werden. Damit schreibt er die Faszination der Schweizer Gründungslegenden keineswegs klein, vielmehr macht er sie zu dem, was sie wissenschaftlich gesehen sind: spezifische Reaktionen auf innen- und aussenpolitische Herausforderungen.

Ein erster Teil der Publikation widmet sich unter dem Titel „Plädoyer für einen Blickwechsel“ dem aktuellen Forschungsstand zu den politischen Entwicklungen des Spätmittelalters im Gebiet der späteren Eidgenossenschaft. Im 13. Jahrhundert spielen hier Landfriedensbündnisse zwischen Reichsstädten und Reichskommunen eine Rolle als Gegenmodell zur hochadligen Landesherrschaft. Im 14. Jahrhundert gelingt es den eidgenössischen Städten, ihren Herrschaftsraum auf Kosten Habsburgs zu vergrössern. Luzern kann sich mit Hilfe der eidgenössischen Orte im Sempacherkrieg gegen die eigene Landesherrschaft behaupten.
Im 15. Jahrhundert festigt sich die Eidgenossenschaft. Durch die gemeinsame Eroberung des habsburgischen Aargaus 1415 erhalten die beteiligten Orte erstmals eine verbindende Aufgabe. Die Verwaltung der Gemeinen Herrschaften schafft „Zusammenhalt durch Zusammenarbeit“ (S. 21). Die Tagsatzungen werden zu zentralen Verhandlungsorten über innen- und aussenpolitische Fragen. Einzelne Bündnispartner behalten sich aber vor, ihre politischen Koalitionen nach ihren Bedürfnissen zu wählen. Zürich schert aus und koaliert im Alten Zürichkrieg mit Habsburg, der Konflikt endet nach Jahren in einem Bündnisfrieden, der mit einem Schiedsgericht neue Verbindlichkeit schafft. Trotzdem bleibt die Eidgenossenschaft ein labiles Gebilde, ein Bündnissystem ohne gemeinsamen Bund, ohne Hauptort, zentrale Regierung oder gemeinsame Armee.
Unter dem Titel „Im historischen Steinbruch“ legt der Autor in einem zweiten Teil den Fokus auf den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel. Er zeigt die eidgenössischen Orte als Glieder des europäischen Wirtschaftsraumes, als aktive Mitgestalter wie als Nutzniesser europäischer Entwicklungen. Dazu gehören auch die Friedensverträge mit Habsburg und der aussenpolitische Erfolg in den Burgunderkriegen. Den inneren Zusammenhalt sollen die in dieser Zeit auftauchenden mythischen Helden Tell und Winkelried gewährleisten. Dazu kommt die Selbstsicht der Eidgenossen als „auserwähltes Volk“, das seine militärischen Erfolge als Gottesurteil in der Auseinandersetzung mit den Fürstenstaaten interpretiert.
Der letzte Teil „Die Geschichte der Geschichte“ widmet sich der modernen Interpretation des zur griffigen Erzählung mutierten Gründungsmythos im 19. und 20. Jahrhundert. Am Schluss steht dabei seine Stärkung in der Geistigen Landesverteidigung der 1930er- und 1940er-Jahre. Er wird nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nahtlos weiter tradiert und erhält erst in den 1960er-Jahren entschiedenen Widerspruch aus der Forschung. Dessen ungeachtet bleibt er geschichtskulturell bis heute prägend.
Das Schlusswort von Peter Gautschi „Geschichte und Erinnerung als Chance und Bereicherung“ fasst die Themen des Buches zusammen und endet mit einem Plädoyer für eine moderne Landesgeschichte, die sich im Sinne von Messmers Buch einer neuen Meisterzählung verweigert und vielmehr als „unabgeschlossenes Entwicklungsprojekt“ zu konzipieren ist (S. 224).

Messmer reichert seine Darstellung durch zahlreiche exemplarische Vertiefungen an. Diese machen die Lektüre gerade auch für Laien erhellend und zeigen die verschiedenen Facetten der historischen Entwicklung. Gerade die zahlreichen Beispiele aus der Geschichtskultur des 19. und 20. Jahrhunderts sind spannend und vielfach neu. Umgekehrt wird dadurch die Gesamtpublikation aber auch etwas unübersichtlich. Die Lektüre ist – gerade für Laien – durch die Fülle der Beispiele anspruchsvoll. Schade auch, dass der Autor auf eine reduzierte, kommentierte Literaturliste „zum Weiterlesen“ verzichtet.
Davon abgesehen gelingt es Kurt Messmer aber, die Geschichte der Eidgenossenschaft auf der Basis der aktuellen Forschung spannend, facettenreich und insbesondere für ein Laienpublikum verständlich darzustellen. Die Kontextualisierung der verschiedenen historischen Legenden im Rahmen der politischen und wirtschaftlichen Strukturen zeichnet das Werk besonders aus. Damit wird die Entwicklung des im monarchischen Europa aussergewöhnlichen „kommunal-föderalistischen“ Bündnissystems (Andreas Würgler)3 plastisch und nachvollziehbar.

Anmerkungen:
1 Roger Sablonier, Gründungszeit ohne Eidgenossen. Politik und Gesellschaft in der Innerschweiz um 1300, 4. Aufl., Baden 2013; Bernhard Stettler, Die Eidgenossenschaft im 15. Jahrhundert. Die Suche nach einem gemeinsamen Nenner, Menziken 2004; André Holenstein, Mitten in Europa. Verflechtung und Abgrenzung in der Schweizer Geschichte, 2. Aufl., Baden 2015.
2 Bruno Meier, 1291. Geschichte eines Jahres, Baden 2018, S. 7.
3 Andreas Würgler, Boten und Gesandte an den eidgenössischen Tagsatzungen. Diplomatische Praxis im Spätmittelalter, in: Rainer C. Schwinges / Klaus Wriedt (Hrsg.), Gesandtschaftswesen im Mittelalter, Ostfildern 2003, S. 287–312, hier S. 287.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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