J. Sneeringer: A Social History of Early Rock‘n’Roll in Germany

Cover
Titel
A Social History of Early Rock‘n’Roll in Germany. Hamburg from Burlesque to The Beatles 1956–69


Autor(en)
Sneeringer, Julia
Erschienen
London 2018: Bloomsbury
Anzahl Seiten
XI, 289 S., 16 SW-Abb.
Preis
£ 76.50
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wolfgang Rumpf, Bremen Zwei/Kultur

Ein erstaunliches Projekt: Die Autorin ist Associate Professor für Geschichte am Queens College der City University of New York und richtet den Blick auf die Musikszene in Hamburg-St. Pauli während der 1950er- und 1960er-Jahre. Ihre ausführliche Recherche führte sie ins Hamburger Staatsarchiv, ins St. Pauli-Archiv, ins Museum für Hamburgische Geschichte und ins Archiv der Forschungsstelle für Zeitgeschichte. Aufgrund der reichhaltigen Quellenlage zeichnet Julia Sneeringer im Zentrum ihrer Studie ein plastisches Bild der St. Pauli- und Reeperbahnszene ab den 1950er-Jahren, als sich dort neben Rotlichtbezirk und Halbweltmilieu, neben Matrosen, GIs, Trinkern und Prostituierten die ersten Musikclubs etablierten, die Anfang der 1960er-Jahre Rock’n’Roll- und Beatmusiker auftreten ließen. Einige dieser Musiker – wie die Beatles oder Chuck Berry – wurden bald darauf Weltstars. Die Keimzelle lag in St. Pauli, in diesem offenen und mitunter hemmungslosen Milieu, das weder eine Sperrstunde noch andere Tabus kannte, die im restlichen Hamburg und im Rest der Republik üblich waren. Bill Haley rockte im Kino, die ersten Filme mit Elvis Presley begeisterten die Halbstarken, man kam zu Live-Konzerten in den Star-Club, ins Top Ten oder den Kaiserkeller. Sneeringer gliedert ihren Band in Musiker, Publikum („Fans and Audiences“) und Autoritäten („The Authorities“), womit Behörden und die Hamburger Verwaltung gemeint sind, denn allzu oft verstießen Clubs und Fans gegen geltendes Recht.

Bevor die Autorin in ihren Hauptschwerpunkt eintaucht, entwirft sie ein nahezu idyllisches Bild von St. Pauli und geht bis ins Jahr 1820 zurück, als der Stadtteil an Hafen und Elbe noch eine romantische Kulisse war, die trotzdem von den Bürgern immer argwöhnisch als der „Wilde Westen“ Hamburgs angesehen wurde. Zu diesem Image gehörte auch, dass sich dort schon früh Etablissements für Unterhaltung ansiedelten – etwa das Operettenhaus am Spielbudenplatz. Dieser historische Rundgang durch die Zeit vor dem Rock’n’Roll erklärt den Sonderstatus St. Paulis, seine Insellage, sein späteres wildes Image. Man erfährt nebenbei auch, woher der Straßenname „Große Freiheit“ stammte – später der Club, in dessen Nummer 39 der Star-Club beheimatet war: Große Freiheit meinte Handels- und Religionsfreiheit und geht auf ein Dekret aus dem Jahr 1610 zurück. Ein solcher Zugang mit der historischen Tiefendimension und dem Rückblick vor allem ins 19. und frühe 20. Jahrhundert ist ungewöhnlich und hat bisher die Forschung kaum interessiert. Denn alle Untersuchungen zur speziellen Hamburger Rock’n’Roll-Historie1 setzen erst in den 1950er-Jahren ein, als im besonderen Milieu St. Paulis die Kultur der „Halbstarken“ mit ihren eigenen Musikpräferenzen Rock’n’Roll und Beat dominant wurde. Durch den Blick zurück liefert Sneeringer Erklärungen für den Sonderstatus und das dubiose, zwielichtige Image des Quartiers, das sich heute zum Beispiel durch das alljährliche Reeperbahn-Festival im Juni neu zu erfinden sucht. Die Reeperbahn galt Anfang der 1960er-Jahre als Geburtsstätte der Beatles und der Rattles; die Reeperbahn heute ist eine Bühne für Newcomer und internationale Talente aus den Bereichen Singer/Songwriter, Soul, Blues und Pop.

Die Geschichte des Rock’n’Roll und des Beat, der Musikclubs und der Jugendszene in St. Pauli beginnt dann tatsächlich erst nach 1945. Hamburg, im Zweiten Weltkrieg stark zerstört durch britische Bomber, ist die größte Stadt der Bundesrepublik, zudem ein Medienzentrum (mit „Abendblatt“, „stern“ und „Spiegel“) und entwickelt sich ab 1955 zum durchgehend geöffneten Rotlichtbezirk mit Strip-Clubs wie der Roten Katze, zwielichtigen Cabarets und eben den neuen Musikkellern und Tanzlokalen, in denen sich die Jugend trifft. Drei Männer prägten die Clubs: Bruno Koschmider (1926–2000) managte den Kaiserkeller, Peter Eckhorn (1939–1978) das Top Ten und Manfred Weissleder (1928–1980) den Star-Club. Letzterer eröffnete 1962 mit dem Slogan: „Die Not hat ein Ende! Die Zeit der Dorfmusik ist vorbei!“ Dort traten dann junge britische Bands aus Liverpool auf – wie die Liverbirds, Gerry and the Pacemakers oder die Beatles. Stars aus Übersee wie Ray Charles oder Fats Domino spielten erste Gigs in Deutschland. Im Publikum: junge Hamburger Fans, Seeleute, Underdogs und Stricher. Dass es dabei auch zu Rangeleien und Schlägereien kam, rief in den wenig toleranten frühen Sixties auch die Presse und die Polizei auf den Plan, sodass Rock’n’Roll und Beat gern mit Halbstarken-Krawall und Gewalt in Verbindung gebracht wurden. 1964 schloss die Ordnungsbehörde den Star-Club zeitweilig wegen prügelnder Kellner.

Exemplarisch für die verbreitete Anti-Rock’n’Roll-Stimmung steht das „Spiegel“-Cover vom Dezember 1956, als Elvis Presley in der Titelstory unter der Überschrift „Von Dixieland nach Kinseyland. Rock’n’Roll-Singer Elvis Presley (siehe ‚Schlager‘)“ heftig denunziert wurde.2 Dazu passen auch die Aktivitäten des von Sneeringer in den Archivunterlagen ausfindig gemachten Jugendschützers Kurt Falck, der 1965 einen regelrechten Krieg gegen Weissleder und den Star-Club führte. Sneeringer datiert das Ende dieser Rock’n’Roll-und Beat-Epoche auf das Jahresende 1969, als der Star-Club mit einem letzten Konzert von Hardin & York seine Pforten schließen musste. Mit Live-Musik war kein Geschäft mehr zu machen, Popmusik war gesellschaftsfähig geworden, hatte sich davon verabschiedet, eine Subkultur zu sein, die sich durch Massenhysterie, Beatlemania, Jugendgewalt und Krawall auszeichnete. Es wurden Schallplatten gehört – bald brauchte die Jugend auch die Live-Clubs auf St. Pauli nicht mehr. Versöhnliches berichtet die Autorin am Schluss, wenn sie über den 2008 eingeweihten Beatles-Platz an der Reeperbahn und die Beatles-Touristen aus aller Welt schreibt, die dort im Schatten der Fab Four aus Blech ihre Selfies machen. Dabei übergeht sie die Tatsache, dass die Stadt Hamburg mit dem Erbe der Beat-Ära nicht besonders pfleglich umgegangen ist. So gibt es bis heute kein offizielles und gefördertes Beatles-Museum oder ein Fotoarchiv mit den Hinterlassenschaften des St. Pauli- und Szene-Fotografen und Journalisten Günter Zint (geb. 1941).

Kritisch anzumerken ist, dass der Fußnotenapparat und die Bibliographie (insgesamt 100 Seiten) fast größer wirken als der englisch-amerikanische Haupttext im Buch (175 Seiten). Zudem führen einige Übersetzungen von historisch feststehenden deutschen Begriffen in die Irre. Die Reichsmusikkammer der NS-Zeit wird zur „Reich Music Chamber“, und der Star-Club-Slogan vom Ende der „Dorfmusik“ ist übersetzt mit „The misery is at an end! The era of village music (Dorfmusik) is over!“ – beides überflüssig und unangebracht: Die Reichsmusikkammer gehört zum Grundwissen deutscher NS-Geschichte, sie war maßgeblich für die Verbote und die Vertreibung jüdischer Musiker (Beispiel Comedian Harmonists) verantwortlich. „Dorfmusik“ meinte in den 1950er-Jahren volkstümliches, konservativ-spießiges Liedgut und erinnert an Bierzelte und ländliche Feste. Damit sollte im Star-Club endgültig Schluss sein. Ansonsten ermöglicht diese fleißige und gründliche Recherche über einen bis heute schillernden Hamburger Bezirk, in dem Rock’n’Roll und Beat eine erste Heimat im Nachkriegs-Deutschland fanden, ein buntes Bild dieser Ära. Vor allem über den Rückgriff auf die Unterhaltungsszene und Vergnügungsmeile des 19. Jahrhunderts kann Julia Sneeringer den Blick noch einmal weiten. Denn auch Rock’n’Roll, Beat und Jugendkultur fielen nicht vom Himmel, sondern entstanden genau dort, in einem Milieu zwischen Halbwelt und Laissez-faire, wo der Boden dafür bereitet war.

Anmerkungen:
1 Siehe besonders Detlef Siegfried, Time Is on My Side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006, S. 3, um ein Nachwort ergänzte Aufl. 2017; sowie die Hinweise bei Wolfgang Kraushaar, Die Protest-Chronik 1949–1959. Eine illustrierte Geschichte von Bewegung, Widerstand und Utopie, 4 Bde., Hamburg 1996.
2 Elvis, the Pelvis, in: Spiegel, 12.12.1956, S. 52–62, http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-43064913.html (22.06.2018).

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