R. Sachsse: Die Erziehung zum Wegsehen

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Titel
Die Erziehung zum Wegsehen. Fotografie im NS-Staat


Autor(en)
Sachsse, Rolf
Anzahl Seiten
453 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Paula Diehl, Centre Marc Bloch, Berlin

Die NS-Propaganda setzte vor allem auf die suggestive und assoziative Kraft der Bilder und entwickelte eine ganze Bildpolitik, die oft die legitimatorischen Lücken der politischen Praxis füllen sollte. In diesem Zusammenhang waren fotografische Bilder von grundlegender Bedeutung. An ihnen haftete noch die Idee einer abgebildeten Wirklichkeit, die vor allem in dokumentarischen, journalistischen und pädagogischen Kontexten Ausdruck bekam. Denn die Gewöhnung an Bildmotive, Bildstile und Bildtechniken kann den Blick des Betrachters schulen und ihn sogar zum „Wegsehen“ erziehen. Die Fotografie ist immer eines der wichtigsten Medien für die Prägung der Wahrnehmung und des Gedächtnisses 1, und sie gehörte im Nationalsozialismus zu einer umfassenden Blickerziehung. Weggesehen wurde „vom ungeheuerlichen Geschehen, das alltäglich sichtbar war“ (S. 49), von Diskriminierung, Verfolgung und Ermordung.

In „Die Erziehung zum Wegsehen. Fotografie im NS-Staat“ untersucht der Fotograf und Professor für Designtheorie und Designgeschichte die bildpädagogischen Strategien des Nationalsozialismus und die Rolle der Fotografie als Propaganda- und Ideologiemedium. Damit präsentiert Sachsse eine umfassende Geschichte und Analyse der Fotografie im Nationalsozialismus. Die Untersuchung ist feinfühlig und komplex. Sie vernetzt mehrere Felder miteinander: Bildästhetik, Fototechnik, Ideologie, Propagandastrategien, Presse, Fotografenorganisationen, staatliche Kontrollinstanzen und Repressionsapparat bilden die Teile eines Mosaiks der Erziehung zum Wegsehen. Berücksichtigt werden Stile, Bildgestaltung, technische Bedingungen der Fotografie sowie ihre strategische Nutzung durch die NS-Propaganda. Sachsse beschreibt außerdem die Entwicklung des Fotografenberufs, seiner Amateure und der entsprechenden Organisationen. An diesem Punkt bewegt sich das Buch im Bereich der Institutionengeschichte und zeichnet den Verfestigungsprozess des Berufes und die Institutionalisierung der Amateurfotografen nach. Doch die Analyse zielt in erster Linie nicht auf individuelle Handlungen oder auf die Bildproduktion bestimmter Akteure, sondern bettet diese in ein funktionierendes „Kommunikationssystem“ ein.

Das Buch ist in zwölf Kapitel gegliedert, hat einen Dokumententeil von über 130 Seiten mit bisher teilweise nicht veröffentlichtem Material und ein Kurzbiografieverzeichnis mit 550 Einträgen. Die Arbeit stützt sich auf Archivmaterial, Fachliteratur und Ausstellungskataloge. Fotografien, Filme, NS-Dokumente und zeitgenössische Veröffentlichungen bilden weitere Quellen der Untersuchung. Als „Sohn eines Fotografen-Handwerks-Innungs-Obermeisters“ hatte Sachsse die Möglichkeit, in den 1950er-Jahren „in die – teils aus der Zeit des NS-Staates stammenden – Regularien einer spezifischen und bereits damals obsoleten Form der Berufsausbildung“ eingeführt zu werden und schon „als Kind zahlreiche Fotografinnen und Fotografen“ kennen zu lernen (S. 19), die als Zeitzeugen befragt werden konnten. Die in diesem Rahmen privat geführten Interviews statten seine Argumentation mit einem tiefen und feinfühligen Einblick aus – leider werden diese Interviews nicht als Material für die Beweisführung herangezogen, und manche überzeugend geführte Aussagen bleiben ohne Beleg.

Die Hauptthese des Buches ist, dass die „staatlich gelenkte Propagandafotografie“ selbst ein „Medium zur Erziehung zum Wegsehen“ war (S. 14). Die NS-Propaganda zielte auf die „Schaffung positiver Identifikationsmuster“, die sie für die Konstruktion der nationalsozialistischen Welt brauchte. Doch nicht immer waren die Ansprüche an die NS-Fotografie widerspruchslos. „Fotografische Bilder sollten in sich ‚ehrlich’, ‚wahrhaftig’ und ‚wirklich’ sein.“ Allerdings wurden unter Wahrhaftigem und Wirklichem bestimmte Motive verstanden, die sich aus dem ideologischen NS-Katalog rekrutieren ließen wie „arbeitende Bevölkerung“, „schöne deutsche Landschaft“ oder „alten deutschen Städten“ (S. 135-136) und ein Wunschbild der Realität widerspiegelten. Hier macht Sachsse auf die widersprüchlichen Anforderungen der NS-Propaganda aufmerksam. Vor allem bei Hitlers Bildern musste die Fotografie zwei Ansprüchen gerecht werden: den Authentizitätsanspruch und den Transport von Symbolwerten, wie Sachsse am Beispiel Heinrich Hoffmanns Hitler-Porträts zeigt. Da die Erlaubnis, den „Führer“ zu fotografieren nur sehr sparsam anderen Fotografen erteilt wurde, prägte Hoffmanns Fotografie das öffentliche Bild Hitlers.

Das siebte Kapitel „Rassismus, Verfolgung und Widerstand im Foto“ ist für die oben genannte Hauptthese zentral. In diesem Abschnitt widmet sich Sachsse der Funktion der Bilder und audiovisueller Quellen in der Legitimation der Ideologie und der rassistischen Politik im Nationalsozialismus. Leider werden einige Argumente etwas voreilig miteinander verknüpft. So erscheint die in der NS-Propaganda unterdrückte Erotik als „legitimatorische Basis“ für die SS-Organisation Lebensborn e.V., was der SS-Forschung zum Thema widerspricht.2 Von Gewinn ist vor allem Sachsses Beschreibung der Erziehung zum rassistischen Blick in der Schule, in Fotozeitschriften und in den Aktivitäten der DAF. Besonders die Schulfotografie bot ideale Bedingungen für die visuelle Begründung der NS-Ideologie, wie Sachsse mit einer sehr eindringlichen Passage zur Übung des rassistischen Blicks belegt.3 Dabei wird die Familienfotografie zum wichtigen Motiv, an dem der rassistische Blick geübt werden konnte. „Hier wurde das Bild der generationsübergreifenden Großfamilie beschworen, das in Deutschland nicht mehr existierte, aber als Schimäre einer familienübergreifenden Geborgenheit in der Rasse – noch vor dem Staat – sich zur Ikonenbildung anbot.“ (S. 159)

Sachsse beobachtet, dass „alle Erinnerungen über längere Zeit in positive Eindrücke und Bilder zusammenfließen, die sämtliche negativen Elemente zur Seite drücken“ (S. 14). Mit diesem Ansatz wird es möglich, über die Nachzeichnung fotografischer Motive hinaus zu gehen, und die Produktion sowie die Verbreitung von Diskursen im Nationalsozialismus darzustellen. Sachsse zeigt die NS-Fotogeschichte nicht als einzelne Episode, sondern verknüpft sie mit einer Geschichte der Fotografie in Deutschland (Kapitel 3). Diese fängt im 19. Jahrhundert an, wobei die 1920er-Jahre stärker betont werden und hört erst am Ende der 1950er-Jahre auf. Damit beleuchtet der Autor Übergänge, Brüche und Kontinuitäten sowohl auf der Produktions- als auch auf der personellen Ebene. Durch die Berücksichtigung eines weiteren Zeitraumes wird deutlich, dass der geübte Blick nicht sofort am Ende des NS-Regimes nachlässt, sondern darüber hinaus die Zeit nach dem Krieg prägt, und dass er wiederum schon vor dem Nationalsozialismus vorbereitet wird. Damit unternimmt Sachsse eine Spurensuche nach dem visuellen Gedächtnis auch nach 1945. Wichtig für die Aufzeichnung von Kontinuitäten und Brüchen ist die „ästhetische Genese des Nationalsozialismus“. Der Autor macht auf strukturelle Übernahmen moderner Bildformen der Fotografie aufmerksam wie etwa das Prinzip der Reihung, die Kontrakomposition oder die Konzeption von Bildserien. Die Fotomontage wurde bis 1934 in der NS-Fotografie verwendet, danach war sie „wegen der offensichtlichen Nähe zu John Heartfield“ und zur „Exilpropaganda nicht mehr gefragt“ und ist erst während des Krieges wieder aufgetaucht (S. 50).

Schließlich zählt Sachsse als Bedingung der „Erziehung zum Wegsehen“ die spezifische Situation im totalitären Staat. Dabei ging es sowohl um die Kontrolle über die Akteure-, – Berufs- und Amateurfotografen, – die durch die Gleichschaltung der Institutionen erreicht werden konnte, als auch um die Kontrolle über die Produktion und Zirkulation von Bildern. Durch „Gleichschaltung von Bild- und Wortreporter“ (S. 28), aktive Bildzensur und Regulierung des Bildgebrauchs in den täglichen Pressekonferenzen konnte die veröffentliche Bildproduktion überwacht werden. Teilweise sorgte schon die Antizipierung der Akteure für die Erfüllung des NS-Bildprogramms. „Gelegentlich brauchte die Presse auf ein Bildverbot gar nicht erst hingewiesen zu werden, etwa im Falle von Erich Röhm nach dem 1. Juli 1934; hier trug der vorauseilende Gehorsam in den Bildredaktionen bereits kräftige Früchte.“ (S. 36)

Durch die Verfolgung der jüdischen und oppositionellen Fotografen und die Gleichschaltung der übrig gebliebenen Berufs- und Amateurfotografen seien „die Täter unter sich“ gewesen: „Mögliche Reporter, Dokumentatoren und Zeugen waren weg, anderen schauten weg. Die Bilder, die zu Verfolgung, Vertreibung und Holocaust bekannt sind, repräsentieren mit ganz wenigen Ausnahmen nur noch einen Blick, den der Täter und Gaffer.“ (S. 166) Diese Bilder entstanden nicht nur als privates Fotomaterial, sondern auch als Hetzpostkarten. Der Autor bemerkt zu Recht, dass Täter und Opfer sich bewusst waren, dass sie fotografiert wurden. So wird Fotografie schon vor Abu Ghraib zum Teil eines Entwürdigungsrituals. „Die Täter posieren mit ihren Opfern in der Art von Jägern mit ihrer erlegten Beute.“ (S. 167)

Abschließend zeigt Sachsse, wie die „Erziehung zum Wegsehen“ durch die private Erinnerung eindringt. „Zum einem haben Millionen von Menschen in diesem Staat ihre Jugend tatsächlich als positive Zeit im Gedächtnis, und dies im hohen Maße aufgrund der medialen Leistung der Amateurfotografie. Und zum anderen hat gerade die breite Förderung einer positiven Erinnerungsproduktion jenes private Moment der Nischenexistenz des Einzelnen so weit gefestigt, dass das Unrecht, das Millionen anderen Menschen geschah, schlicht übersehen wurde.“ (S. 140)

Mit seiner vielschichtigen Analyse der Verhältnisse zwischen Propaganda, Blick, Bild, Medien und kollektivem Gedächtnis ist es Rolf Sachsse gelungen, am Beispiel der Fotografie im Nationalsozialismus Bildforschung als komplexe und umfangreiche geschichtswissenschaftliche Analyse durchzuführen.

Anmerkungen:
1 Belting, Hans, Bild-Anthropologie, München 2001, S. 214.
2 Lilienthal, Georg, Der „Lebensborn e.V.“. Ein Instrument nationalsozialistischer Rassenpolitik, Frankfurt am Main 1993.
3 Vom Autor zitiert: Mosse, George L., Der nationalsozialistische Alltag, Königsstein 1978 (S. 117-118).

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