B. Alavi u.a. (Hgg.): Migration und Fremdverstehen

Cover
Titel
Migration und Fremdverstehen. Geschichtsunterricht und Geschichtskultur in der multiethnischen Gesellschaft


Herausgeber
Alavi, Bettina; Henke-Bockschatz, Gerhard
Reihe
Schriften zur Geschichtsdidaktik 16
Erschienen
Anzahl Seiten
268 S.
Preis
€ 35,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Haslinger, Collegium Carolinum München

Der vorliegende Band ist ein Beitrag zur Diskussion um die Zukunft einer multikulturellen Gesellschaft in Deutschland und versteht sich als Plädoyer für einen um Fehlperzeptionen bereinigten interkulturellen Dialog. Im Zentrum stehen dabei Aspekte der Integration von MigrantInnen in die Mehrheitsgesellschaft. Migrationsvorgänge selbst werden nur am Rande thematisiert, einzelne Varianten von Migration (bis hin zu ‚ethnischen Säuberungen’) auch im Hinblick auf Folgewirkungen nur grob unterschieden. Bemerkenswert erscheint, dass einige Beiträge sich von ‚klassischen’ Konzepten der Interkulturalität deutlich distanzieren. Obwohl die Alternativangebote sehr vage bleiben, ermöglichen die meisten Beiträge dennoch einen guten Einblick in den Stand der Diskussion und bieten wertvolle Anregungen für interkulturelles Lernen.

Der Band dokumentiert eine Fachtagung vom Oktober 2003, wobei vor allem die theoretischen Aufsätze über diesen Rahmen deutlich hinausweisen. Das Buch enthält drei Arten von Beiträgen: methodisch-theoretische Arbeiten (von Bettina Alavi, Umut Erel und Martin Sökefeld), Studien zu Einzelthemen (von Waldemar Grosch, Saskia Handro, Olaf Hartung und Karen Schönwälder) sowie zahlreiche Berichte aus Projekten, Workshops und dem Arbeitskreis Hochschullehrernachwuchs. In ihrem einführenden Beitrag verweist die Mitherausgeberin Bettina Alavi darauf, dass Migration und Fremdverstehen nur interdisziplinär zu erschließen seien. Im Geschichtsunterricht sei das Thema Migration teils direkt, teils indirekt präsent. Viele Schüler aus so genannten Migrantenfamilien verfügten nur über Migrationserfahrung aus zweiter Hand, durch Erzählungen ihrer Eltern oder Großeltern; sie spürten jedoch im Alltag die damit verbundenen Zuschreibungen. Alavi bezieht nun gegen die Position Stellung, die Anerkennung einer Differenz zwischen Eigenem und Fremden sei eine Voraussetzung für Fremdverstehen. Diese Sicht- und Darstellungsweise führe dazu, dass Migration, „die in einer modernen Gesellschaft eine normale Form von Mobilität darstellt, zu einem Fremdheitsproblem ‚gemacht’ wird“ (S. 34). Alavi zieht daraus die Schlussfolgerung, Migranten seien unbedingt als Subjekte in das interkulturelle Lernen mit einzubeziehen.

Auch Martin Sökefeld sieht eine Wechselwirkung zwischen der Integrationserwartung und der Festschreibung von scheinbar gegebenen Kollektiven, die im Grunde das Integrationsziel negiere. „So erneuert gerade der Diskurs über Integration, deren Anspruch nie eingelöst werden kann, ständig die Abgrenzung und Differenz zwischen ‚uns’ und ‚den anderen’.“ (S. 51) Erfolgsgeschichten von Einwanderern würden „individualisiert und personalisiert“ und damit zur Ausnahme gemacht (S. 52). Demgegenüber fordert Sökefeld eine Ersetzung des Integrationsdiskurses durch einen Diskurs der Anerkennung, „der Einwanderer in Deutschland als normale Angehörige der Gesellschaft begreift“ (S. 54).

Umut Erel spricht ebenfalls von einer „jahrelangen Pathologisierung vor allem der zweiten Generation von MigrantInnen als entwurzelt, ohne Heimat und kulturelle Leitmodelle“. Seit dem 11. September 2001 geselle sich eine Neuauflage rassistischer Diskurse dazu; es werde behauptet, dass „diese kulturellen Differenzen transhistorisch und unassimilierbar sind“ (S. 57). Im Zentrum der weiteren Überlegungen steht die Tragfähigkeit des Konzepts der Hybridität. Unter Verweis auf innermuslimische Diskurse kritisiert Erel eine Bewertung von Verhaltensweisen, „die scheinbar westlich sind, als legitime und positive Hybridität“, während andere Formen, die sich explizit als muslimisch identifizierten, „durch einen orientalisierenden Blick essentialisiert“ würden (S. 62). Erel schließt sich dabei auch Alavis Kritik an bisher gängigen multikulturalistischen Sichtweisen an. Diese dienten oft dazu, „die konservativsten Werte ethnischer Minderheitsgruppen und ihrer Vertreter als die authentischsten zu sehen, da sie scheinbar die größte Distanz zu den kulturellen Praktiken der ethnischen Mehrheitsgesellschaft haben“ (S. 66). Ungleichheiten seien allerdings nicht allein auf kulturelle Diversität zurückzuführen, sondern auch Produkt materieller und rechtlicher Ungleichheiten, „die sich nicht durch eine noch so differenzierte Theorie von Kultur begreifen lassen“ (S. 66).

Eine migrationshistorische Studie im engeren Sinn liefert Karen Schönwälder, die die Arbeitsmigration nach dem Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei (1961) thematisiert und dabei bis Mitte der 1970er-Jahre das Fehlen eines politischen Gesamtkonzepts konstatiert. Später sei die Bereitschaft gestiegen, partielle Einwanderungsprozesse de facto hinzunehmen (S. 43). Unter den weiteren historischen Einzelstudien finden sich zwei Aufsätze zum öffentlichen Umgang mit Flucht und Vertreibung in West- und Ostdeutschland. Waldemar Grosch lässt viel Wohlwollen für die Vertriebenen mitschwingen und steht beispielsweise auf dem Standpunkt, diese hätten keine Gelegenheit erhalten, ihre spezifische Kultur in die westdeutsche Aufnahmegesellschaft einzubringen. Saskia Handro bietet demgegenüber eine feingesponnene Analyse einer ostdeutschen Verdrängungs- und Erinnerungsgeschichte. Die Biografien eines Viertels der DDR-Gesamtbevölkerung standen laut Handro in einem Gegensatz zum staatlich selbstverordneten Vergessen, wobei die Vertreibung in der Propaganda allerdings als Teil einer „’anderen’ (west)deutschen Geschichte“ durchaus präsent blieb (S. 183). Obwohl Vertriebenennetzwerke zerstört wurden, entwickelte sich in der Literatur und im familiären Raum ein eigenständiges kommunikatives Gedächtnis, das mit der offiziellen Lesart nie in Übereinstimmung gebracht werden konnte. Handro schließt mit dem Plädoyer, die ostdeutsche Geschichte von Flucht und Vertreibung sei „nur in ihren Verflechtungen mit der westdeutschen Parallelgeschichte“ zu erzählen (S. 192).

Zum Bereich Museen und Ausstellungen enthält der Band insgesamt drei Beiträge. Olaf Hartung geht der Frage der „Gleichschaltung“ der Museumsdidaktik nach 1933 nach (am Beispiel des Verkehrsmuseums in Nürnberg und des Bergbaumuseums in Bochum). Er kommt zum Ergebnis, dass beide Museen auf die vorgegebene Leitlinie, ein Massenpublikum anzusprechen, die nationale Identität der Besucher zu stärken und Sachverhalte populärer darzustellen, mit Selbstanpassung reagiert hätten, „so dass von einer von außen erfolgten Gleichschaltung tatsächlich keine Rede sein kann“ (S. 257). Am Beispiel völker- und missionsgeschichtlicher Sammlungen liefert Arnold Vogt einen guten Überblick zur Problematik der Präsentation von „Fremdem“, verbunden mit deutlicher Kritik an der „musealen Routine“, die oft die Illusion nähre, unverrückbare Wahrheiten zu verkünden. Stattdessen gelte es, verfremdende Elemente einzubauen und damit tatsächliche Distanz zu verdeutlichen (S. 140). Angesichts der derzeitigen Konjunktur von Migrationsausstellungen stellt Andreas Urban schließlich die Frage, wie eine Ausstellung beschaffen sein müsste, „die für die Vielfalt von Fremdheit sensibilisiert und einen Resonanzboden für Offenheit und Toleranz gegenüber fremden Zuwanderern schafft“ (S. 156). Dem Konzept der Wanderausstellung „hier geblieben – Zuwanderung und Integration in Niedersachsen 1945–2000“ folgt allerdings eine ernüchternde Analyse der Reaktionen von Besuchern, die vor allem nach der „Bestätigung eigener Erfahrungen“ gesucht und sich „auf die Besonderheiten der eigenen Lebensgeschichte[n]“ berufen hätten (S. 160).

Den Ausgangspunkt des Beitrags von Monika Juneja-Huneke bildet die These, dass auch postkoloniale Ansätze der Polarität zwischen Eigenem und Fremden und damit im Grunde einer eurozentrischen Betrachtungsweise Vorschub leisten. Alternativ plädiert die Autorin für einen weltgeschichtlichen und interdisziplinären Zugang (S. 195f.). Sie führt den Begriff der „Zirkulation“ ein, der Begegnung in mehrere Richtungen bedeuten und für Prozesse der Kommunikation und Sinnbildung sensibilisieren soll (S. 199).

Ein letzter Schwerpunkt des Bandes ist die Thematisierung von Migrationsgeschichte im Unterricht. So referiert etwa Bodo von Borries die Ergebnisse des Geschichtswettbewerbes „Weggehen – Ankommen. Migration in der Geschichte“, und Vadim Oswalt entwickelt aus dem Umstand, dass die Migrantengesellschaften in der nationalgeschichtlichen Darstellung kaum Erwähnung finden, den Vorschlag, die Geschichte von Herkunftsländern in die gängigen Lehrplanthemen einzubetten (S. 108).

Als Projektbericht gestaltet ist der Beitrag von Sabine Liebig zu einem in Hannover und Madison/Wisconsin stattfindenden Lehrerfortbildungsseminar. Dabei war festzustellen, dass amerikanische Lehrer wesentlich sensibler auf das Thema Migration reagierten als ihre deutschen Kollegen, die sich sehr wenig „mit interkulturellem Lernen oder dem Hintergrund ihrer ausländischen Schülerinnen und Schüler beschäftigen“ (S. 95). Der Bericht von Andreas Körber über einen Workshop zum Interkulturellen Lernen kommt zum Ergebnis, dass die befragten SchülerInnen mit Migrationshintergrund dem Konzept einer allgemeinen kulturübergreifenden Geschichte eindeutig Vorrang gegenüber der Nationalgeschichte gaben, an einem Geschichtsunterricht, der Migration als Thema in den Mittelpunkt stellte, jedoch nur wenig Interesse zeigten (S. 212).

Wolfgang Hasberg notiert schließlich als Tagungsergebnis, dass Fremdverstehen, Migration und interkulturelle Erziehung in der Geschichtsdidaktik zwar immer wieder diskutiert würden, dass bislang jedoch noch keine „konsequente Zusammenschau dieser drei Teilaspekte geleistet“ worden sei (S. 233). Insgesamt kann festgehalten werden, dass mit dem vorliegenden Band trotz der breiten Themenstreuung durchaus ein erster Schritt in diese Richtung getan wurde. Eine konsequentere Zusammenführung der Teilergebnisse und ein Blick über die Grenzen Deutschlands hinaus hätte die erzielte Schrittgeschwindigkeit jedoch noch erheblich steigern können. Die Frage etwa, ob sich im interkulturellen Lernen im europäischen Rahmen ein Paradigmenwechsel abzeichnet, muss auf der Grundlage dieses Bandes noch offen bleiben.

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