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Titel
Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs


Herausgeber
Jureit, Ulrike; Wildt, Michael
Erschienen
Anzahl Seiten
354 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jürgen Reulecke, Sonderforschungsbereich 434 "Erinnerungskulturen", Justus-Liebig-Universität Gießen

„Zur Relevanz...“: Der Untertitel des hier anzuzeigenden Sammelbandes deutet bereits an, dass die beiden HerausgeberIn Ulrike Jureit und Michael Wildt angesichts des derzeitigen modischen Breittretens des Generationenbegriffs bei der Konzipierung ihrer Aufsatzsammlung eine (zumindest gewisse) Distanz mit Blick auf dessen Verwendung in den Medien, in Politikerreden und auch in diversen Wissenschaftsdisziplinen bewegte. Und tatsächlich bestreitet dann auch einer der AutorInnen, nämlich der Soziologe M. Rainer Lepsius, die dem Begriff „Generation“ oft unkritisch unterstellte Relevanz weitgehend: Er charakterisiert ihn als einen „in hohem Maße unspezifischen Begriff“, mit dem man alles Mögliche assoziieren könne (S. 47), und hält ihn deshalb allenfalls in Spezialfragen für „vielleicht zweckmäßig“ (S. 51). So weit wollen die HerausgeberIn in ihrer abgewogenen und umsichtigen Einleitung allerdings nicht gehen, auch wenn sie zu diversen Verwendungsweisen von „Generation“ durchaus kritisch Position beziehen und zum Beispiel die Frage stellen, was die Rede von „Generation“ unter Umständen auch verdeckt, wie sehr diese Rede bloß selbstreferentiell ist bzw. inwieweit man bei der Analyse generationeller Verhältnisse letztlich den Selbststilisierungen sozialer Gruppen aufsitzt. Ausdrücklich betonen Jureit und Wildt aber, dass sie „Generation“ unter vier Aspekten mit Erklärungsanspruch ernstnehmen wollen: als Begriff für „Identitätskonstruktion, Kollektivbezug, Erfahrungsgemeinschaft und Handlungsrelevanz“ (S. 9). Diese Blickweisen stellen sie einleitend auch bei ihrer Vorschau auf die dreizehn Beiträge des Bandes als durchgehende Linien heraus.

Auf den ersten Blick werden fachspezifische Forschungsansätze nebeneinander gestellt, und der geschichtswissenschaftliche Zugriff überwiegt – die Mehrzahl der AutorInnen stammt aus der Historikerzunft (neben den beiden Herausgebern auch Christina Benninghaus, Mark Roseman, Heinz D. Kittsteiner, Christina von Hodenberg und Habbo Knoch), gefolgt von drei Soziologen (neben M. Rainer Lepsius Heinz Bude und Kurt Lüscher), einer Psychoanalytikerin (Erika Krejci), einer Literaturwissenschaftlerin (Sigrid Weigel) und einem Kulturwissenschaftler (Kaspar Maase). Dennoch gehen die meisten Beiträge in bemerkenswerter Weise interdisziplinär vor und bemühen sich jeweils, über den Zaun ihres Faches zu blicken. Zugeordnet haben die HerausgeberIn die dreizehn Aufsätze in verständlicherweise etwas künstlich wirkender Form den vier Blöcken „Der Begriff ,Generation’“, „Generation – Genealogie – Geschlecht“, „Heroische und postheroische Generationen“ sowie „Generation und kollektive Verständigung“.

Nun wird jeder, der sich seit Jahren mit dem Thema „Generation“ beschäftigt, angesichts der zunehmenden Flut einschlägiger Veröffentlichungen und dessen in kurzer Zeit erheblich gewachsener wissenschaftlicher Beachtung, die auch zu einem Göttinger Graduiertenkolleg mit dem farblosen Titel „Generationen in der Geschichte“ geführt hat, einen zunehmenden Überdruss bei sich feststellen und an einen Band wie den vorliegenden mit dessen unspezifischem Titel mit der Frage herangehen, ob dieser nicht letztlich die schon vorhandene diffuse Forschungslandschaft mit ihren immer mehr zerfransenden Rändern nur um eine weitere Sammlung heterogener Fingerübungen aufbläht. Tatsächlich ist es dann zum Teil auch so, dass man in den Beiträgen manches lesen kann, was von den AutorInnen selbst oder von verwandten Geistern schon an anderen Stellen breit behandelt worden ist; und dass Karl Mannheim mit seiner berühmten Schrift „Das Problem der Generationen“ aus dem Jahre 1928 in fast jedem Aufsatz mehr oder weniger breit immer noch Reverenz erwiesen wird, versteht sich fast von selbst. Insofern liegt es nahe, danach zu fragen, ob und wo in diesem Sammelband innovatorischere Gesichtspunkte zu finden sind.

Wer sich auf den Band einlässt – das kann man ohne Einschränkungen sagen –, erhält eine ganze Reihe von Anregungen, die deutlich über den bisherigen Diskussionsstand hinausgehen und neue Fragehorizonte eröffnen. Um hier nur einige solcher (selbstverständlich subjektiv ausgewählten) Aspekte mit Anregungscharakter zu nennen: Zwar findet sich in dem Band mit guten Gründen immer wieder der eher traditionelle Zugriff, Generationen als rückblickend identifizierte Kollektive kritisch differenzierend in ihre Zeit zu stellen (z.B. Roseman, Kittsteiner, von Hodenberg), aber es wird gleichzeitig verstärkt auch danach gefragt, wer (mit welchen Interessen bzw. aus welchen Bedürfnislagen und mit welchen Strategien) in einer bestimmten Epoche die Anreger, Akteure, Träger und Mitläufer einer Generationenbeschwörung, im Extremfall einer Generationendemagogie waren (z.B. Lepsius, Benninghaus, Wildt, Jureit). Der in dem Band mehrfach aufgegriffene Gedanke einer „Zeitheimat“ (vor allem, aber nicht nur auf W.G. Sebald zurückgehend) liefert darüber hinaus zumindest ansatzweise den Anstoß, die altersspezifischen Selbstverortungsbedürfnisse, d.h. die je nach Lebensalter unterschiedlichen Zuschreibungen von „Zeitheimat“, mit dem Generationenbegriff oder – besser gesagt – mit dem Begriff der (individuellen wie kollektiven) „Generationalität“ in Verbindung zu bringen, dabei mehr von Mannheim abzurücken und viel stärker als in den bisherigen sozialwissenschaftlichen Theoriegebäuden Anregungen Sigmund Freuds und der Psychoanalyse aufzugreifen (Bude, Weigel, bes. Krejci), um zum Beispiel die zwiespältige Wirksamkeit der zwischengenerationellen Übertragung von Erfahrungen besser zu verstehen – Stichwort „Ambivalenz“ (Lüscher).

Mit „Generationalität“ kommt m.E. ein bisher viel zu wenig thematisierter erfahrungsgeschichtlicher Zugriff in den Blick, der auch und nicht zuletzt geschlechtsspezifische Differenzierungen nahe legt (Benninghaus). Die Frage nach den unterschiedlichen Medien bei der Weitergabe (oder auch Zurückweisung) von gemachten Erfahrungen („Gefühlserbschaft“) und nach der medialen Erzeugung von „oftmals unbewusste[r] innere[r] Emotionalität“ (Knoch, Weigel) spielt in diesem Kontext ebenso eine Rolle wie die Frage nach den Einflüssen der eigenen generationellen Verortung des Forschers, der sich dem Generationenthema zuwendet (Maase). Zu letzterem Punkt ein Hinweis auf ein kleines, aber bezeichnendes Defizit des Bandes: Bei den Kurzvorstellungen der AutorInnen am Schluss des Bandes ist – absichtlich? – das Geburtsjahr weggelassen worden. Wie erhellend gerade bei diesem Thema die mit der eigenen „Generationalität“ verbundenen Erfahrungen und Deutungsmaßstäbe des Autors bei seiner Analyse sein können, hat Maase (leider als Einziger) treffend ausgeführt (S. 329ff.).

Ein knappes Fazit verbietet sich angesichts der Vielfältigkeit und auch Heterogenität der Anregungen, die dieser Sammelband vermittelt. Aber er widerlegt insgesamt nun doch das provozierende und wohl bewusst überspitzt formulierte Pauschalurteil von Lepsius, dass die derzeitige Forschungslandschaft zum Thema „Generation“ im Wesentlichen von „Deduktionen“ bestimmt sei, die nichts erklärten: „Zuschreibungen ohne Angabe der Zuschreibungsregeln und vage definierte Generationslagerungen“ (S. 52). Das Spektrum der Diskussion – der vorliegende Band zeigt es – ist keineswegs (nur) von platter Deduktion bestimmt, sondern zweifellos sehr viel bunter und trotz des partiell provozierenden modischen Charakters dieser Diskussion weiterhin höchst anregend, vor allem aber in spannender Weise insbesondere in erfahrungsgeschichtlicher Richtung „on the road“.

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