L. Hölscher: Geschichte der protestantischen Frömmigkeit

Titel
Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland.


Autor(en)
Hölscher, Lucian
Erschienen
München 2005: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
466 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Barbara Stambolis, Universität Siegen, Historisches Institut

Religion galt außerhalb der Kirchengeschichte lange als „terra incognita“.1 Diese Forschungslücke hat sich seither zu füllen begonnen. Das gewachsene Interesse an Religionsgeschichte in der sozial- und kulturgeschichtlichen Forschung ging mit einer Hinwendung zu Fragestellungen einer neuen „history of culture“ einher, zu „handlungsorientierenden Deutungsmustern der Lebenspraxis“, historischen und sozialen Ordnungs- und Sinnvorstellungen sowie dem „Ensemble ethischer und politischer Kriterien der Lebensreglementierung“.2

Insbesondere als Geschichte der Glaubenden beschäftigt Frömmigkeitsgeschichte seither die Geschichtswissenschaft. Die Arbeiten Lucian Hölschers haben daran maßgeblichen Anteil; sein nun vorgelegtes Buch kann in gewisser Weise als Summe langjähriger Forschungen – lesbar nicht nur für ein ausschließlich wissenschaftliches Publikum – angesehen werden. Die Geschichte der protestantischen Frömmigkeit in Deutschland hat besonders Teilaspekte längerfristiger Veränderungen im Bereich kollektiver Vorstellungen, Einstellungen und Verhaltensmuster im Sinne einer „Frömmigkeitsgeschichte als Mentalitätsgeschichte“ zum Gegenstand, die zugleich gesellschaftliche und soziale Veränderungsprozesse einbezieht. Hölscher nennt einleitend entscheidende Stichworte wie „religiöse Praxis“, „religiöse Vorstellungen der Gläubigen“(S. 11); er betont, dass Frömmigkeit „eigentlich keinen festen Objektbereich“ habe, sondern „grundsätzlich jeweils das gesamte Leben“ umfasse (S. 12).

Bevorzugte Themen im Zusammenhang mit der Frage historischer Prozesse der langen Dauer sind Einstellungen und Wahrnehmungsweisen kollektiven Charakters wie nicht zuletzt Glaubensvorstellungen aller Art und somit auch alle Ausdrucksformen religiöser Weltdeutung.3 Es geht Hölscher um Wahrnehmungs- und Erfahrungsgeschichte, über historische Zäsuren hinweg, um Prozesse der langen Dauer und um allmählichen, wenngleich grundlegenden Wandel in der Bedeutung von Frömmigkeit für menschliche Handlungsorientierungen und Weltsichten. Zurecht fragt Hölscher einleitend nach spezifisch protestantischen Frömmigkeitsformen und bemerkt grundsätzlich selbstkritisch für das Unternehmen „Geschichte der protestantischen Frömmigkeit“: „Man kann daran zweifeln, dass ein solches Vorhaben, die Innenperspektive vergangener Welterfahrung auszuleuchten, überhaupt gelingen kann.“(S. 12)

Hölscher hat dabei nicht nur protestantische Frömmigkeitsgeschichte als Geschichte protestantischer Gläubiger im Blick, er differenziert regionale Spielarten des Protestantismus ebenso wie er sich wandelnde Formen konfessioneller Selbstverortung und -abgrenzung beschreibt. Nicht zuletzt richtet er den Blick auf die Vielzahl von Freikirchen und weltanschaulichen Gruppierungen, die seit Jahren als religiös definiert werden, wenngleich sie nicht immer ihrem Selbstverständnis nach religiös waren. Dies gilt für die Reformation, Bewegungen seit der Aufklärung ebenso wie für die Zeit um 1900. Seine übersichtliche und dem Gegenstand angemessene Gliederung folgt somit nicht politischen Zäsuren, sondern „den zu einer Zeit dominierenden Zukunftsvorstellungen“(S. 14).

Historiker haben weitgehend übereinstimmend festgestellt, dass das 19. und 20. Jahrhundert christlich geprägt waren, allen Säkularisierungstendenzen zum Trotz.4 Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass die gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung seit der Aufklärung keineswegs als „durchgehender Säkularisierungsprozess“ zu verstehen ist. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Verwurzelung der Zeitgenossen im christlichen Horizont insgesamt rückläufig war, eine Beobachtung, die allerdings erst dann gemacht werden kann, wenn der Blick über die Grenzen der im engeren Sinne kirchlich-protestantischen Frömmigkeit hinausgeht. Bereits Nipperdey hat das Entstehen einer außerkirchlichen Randzone konstatiert, die er mit dem Begriff „vagierende Religiosität“ umschreibt, eine Suche nach alternativen Orientierungen zum christlichen Horizont. Nipperdey etikettierte hier einen Befund neu, der in der historischen Forschung zur Jahrhundertwende als Zeit tief greifender Verunsicherungen bereits ausführlich thematisiert worden ist und der einen Schwerpunkt in der Darstellung Hölschers bildet.

Es ist das besondere Verdienst der Arbeiten Hölschers und nicht nur dieses Buches, einen solchen Interpretationsrahmen für die Beschreibung und den Wandel protestantischer Frömmigkeit zugrunde zu legen. Es geht um Aufbrüche und Umbrüche vielfältiger Art, die sich beispielsweise im Zeitalter der Aufklärung im Rückgang des Kirchenbesuchs, in liturgischen Reformen und spezifischen Ausformungen des Begräbnisrituals manifestierten. Stets bleibt Religion und damit Frömmigkeit als umfassende Lebenspraxis Bezugspunkt der Beschreibung, indem die Gemeinde, religiöse Erziehung, der Gottesdienst, Konfirmation, Begräbnis und andere „religiöse Lebensriten“ (S. 120) mehr den Mittelpunkt der Darstellung bilden. Die einleitende Frage, ob es denn eine spezifisch protestantische Frömmigkeit gebe, findet sich in Teilantworten wider, die sich zusammenfügen lassen. Hölscher widmet sich ausführlich dem protestantischen Gottesdienst; er legt besonderes Gewicht auf die Schriftorientiertheit protestantischer Frömmigkeit, geht folgerichtig auf religiöse Texte und Lieder, Gesangbücher u.a. mehr ein.

Eine besondere Schwierigkeit protestantischer Frömmigkeitsgeschichte, die regionale Vielgestaltigkeit, beschreibt Hölscher ebenso wie das Mit- und Gegeneinander konfessionsräumlich getrennter und dicht nebeneinander existierender Lebenswelten und den Blick auf das jeweils „Andere“. Die „konfessionelle Landkarte“ (S. 45-48), immer wieder unter wechselnden Herrschaften neu zusammengesetzt und verändert, macht allgemeingültige Aussagen kompliziert. Hölscher verbindet immer wieder Exemplarisches und Besonderes, indem er die „religiöse Geographie“ facettenreich (S. 157ff.) einbezieht. Der Leser wird beispielsweise über regionale Unterschiede im Zusammenhang mit Abendmahlsbeteiligung zu unterschiedlichen Zeiten, in verschiedenen Regionen und innerhalb verschiedener religiöser Gemeinschaften informiert. Weitere Differenzierungen lassen sich nach gründlichen Auswertungen des von Hölscher herausgegebenen "Atlasses zur religiösen Geografie im protestantischen Deutschland" (4 Bde. 2001) vornehmen. Insbesondere in dem Kapitel „Regionale Frömmigkeitskulturen“ veranschaulicht Hölscher die konfessionsräumliche Vielfalt, mehrheitlich protestantisch oder katholisch, gemischt konfessionell, konfessionell stabil oder in Bewegung, zugleich industrialisiert oder ländlich. Es ist nicht als Kritik zu verstehen, aber anzumerken, dass zwar Württemberg als stark pietistisch geprägt berücksichtigt, Minden-Ravensberg hingegen nicht als Beispiel genannt wird. Dem Rheinland widmet Hölscher einen eigenen Abschnitt, Westfalen hingegen nicht. Es wird zweifellos die Aufgabe regionalgeschichtlicher Untersuchungen sein, lokale und regionale Varianten protestantischer Fest- und Feiertagsgestaltung gründlicher zu untersuchen. Dies ist in der Tat ein weites Feld, liegen doch bis heute zwar zahlreiche Arbeiten zu Reformationsjubiläen vor, ohne dass die protestantische Fest- und Feierkultur, der Buß- und Bettag, Luther-, Bodelschwingh- und andere Feiern auch nur annähernd als aufgearbeitet gelten kann. Für katholische Frömmigkeit ist hier ebenfalls erst ein Anfang gemacht.5

Ebenfalls als Anmerkung sei darauf hingewiesen, dass die konfessionsgeschichtlich wichtige Frage, ob das 19. Jahrhundert gar als zweites konfessionelles Zeitalter zu bezeichnen sei, in dem Buch nicht ausdrücklich diskutiert wird.6 Olaf Blaschke hat damit eine wichtige Diskussion angestoßen, er hat, wie sich jüngst gezeigt hat, nicht nur Zustimmung gefunden und weitere Forschungen angestoßen.7 Diese und andere Fragen haben ihren Platz in anderen, mehr wissenschaftsintern wahrgenommenen Publikationen. Ähnliches gilt auch für die seit einiger Zeit intensiv geführten Debatten um Religion und Nation, Religion und Nationalreligion.8 Diese und andere Aspekte finden in Hölschers „Geschichte der protestantischen Frömmigkeit“ indes durchaus Eingang, ebenso wie die seit Jahren in der Forschung und nicht zuletzt von Hölscher selbst untersuchte Frage, inwieweit das 19. Jahrhundert als Zeitalter weiblicher Frömmigkeit par excellence bezeichnet werden kann.9

„Fehler“ im Detail nachzuweisen, kann nicht das Anliegen dieser Rezension sein (S. 345 muss es Universität „Ingolstadt“ statt „Augsburg“ heißen, statt „starker Observanz“ „strikte Observanz“). Robert Schumann hat pointiert formuliert, „das Alphabet des Tadels“ habe „Millionen Buchstaben mehr als das des Lobs“.10 Dies sei der Polemik von Friedrich Wilhelm Graf in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 28. Oktober entgegengehalten. Warum, so kann man fragen, ist es wichtig zu sagen, dass Hölscher „ein in der Wolle gefärbter Protestant“ sei? Der zwar nicht zwingende, aber nahe liegende Verdacht, es handele sich hier um den Vorwurf der Blickverengung aufgrund „subjektiver Sympathie“ 11 entbehrt für die Darstellung Hölschers jeder Grundlage. Dass Kultur- und Mentalitätengeschichte andere Ansätze zugrunde legt als Kirchengeschichte und dass darin ein Gewinn zu sehen ist, steht außer Frage. Dass viele Fragen offen bleiben, liegt in der Weite des Forschungsfeldes begründet. Die „Geschichte der protestantischen Frömmigkeit“ wird weiterführende Arbeiten anregen, nicht zuletzt regionale Studien, die deutlich machen, dass „mental geographies“ in Deutschland – auch frömmigkeitsgeschichtlich – „were so often bound up with a sense of being protestant and catholic“.12

Anmerkungen
1 Schieder, Wolfgang, Kirche und Revolution. Sozialgeschichtliche Aspekte der Trierer Wallfahrt von 1844, in: Archiv für Sozialgeschichte 14 (1974), S. 419-454; Ders., Religionsgeschichte als Sozialgeschichte. Einleitende Bemerkungen zur Forschungsproblematik, in: GG 3, 1977, S. 291-298.
2 Jaeger, Friedrich, Der Kulturbegriff im Werk Max Webers und seine Bedeutung für eine moderne Kulturgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 18 (1992), S. 371-393, bes. S. 392.
3 Raulff, Ulrich, Mentalitäten-Geschichte. Zur historischen Rekonstruktion geistiger Prozesse, Berlin 1987, S. 14.
4 Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1800-1866, Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 404.
5 Vgl. Stambolis, Barbara, Religiöse Festkultur. Zu Umbruch, Neuformierung und Geschichte katholischer Frömmigkeit in der Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), S. 240-273.
6 Blaschke, Olaf (Hg.), Konfessionen im Konflikt. Deutschland zwischen 1800 und 1970: ein zweites konfessionelles Zeitalter, Göttingen 2002, Vorwort 8f.
7 Kretschmann, Carsten, Pahl, Henning, Ein ‚Zweites Konfessionelles Zeitalter’? Vom Nutzen und Nachteil einer neuen Epochensignatur, in: Historische Zeitschrift 276 (2003), 369-392.
8 Haupt, Heinz-Gerhard, Langewiesche, Dieter (Hgg.), Nation und Religion in der deutschen Geschichte, Frankfurt am Main 2001; Stambolis, Barbara, Religiöse Symbolik und Programmatik in der Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts im Spannungsfeld konfessioneller Gegensätze, in: Archiv für Kulturgeschichte 82 (2000), S. 157-189.
9 Hölscher, Lucian, "Weibliche Religiosität"? Der Einfluss von Religion und Kirche auf die Religiosität von Frauen im 19. Jahrhundert, in: Kraul, Margret, Lüthi, Christoph (Hgg.), Erziehung der Menschen-Geschlechter. Studien zur Religion, Sozialisation und Bildung in Europa seit der Aufklärung, Weinheim 1996, S. 45-62.
10 Härtling, Peter, Schumanns Schatten, Köln 1998, S. 25.
11 „Wie soll auf der einen Seite ein gläubiger Katholik, auf der anderen Seite ein Freimaurer in einem Kolleg über die Kirchen- und Staatsformen oder über Religionsgeschichte, – wie sollen sie jemals über diese Dinge zur gleichen Wertung gebracht werden?! Das ist ausgeschlossen. Und doch muss der akademische Lehrer den Wunsch haben und die Forderung an sich selbst stellen, dem einen wie dem andern durch seine Kenntnisse und Methoden nützlich zu sein.“ Weber, Max, Wissenschaft als Beruf, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Winckelmann, Johannes, Tübingen 1988, S. 582-613, hier S. 602.
12 Blackbourn, David, A Sense of place. New Directions in German History, German Historical Institute London, The 1998 Annual Lecture, London 1999, S. 12.