H.-L. Kieser: Vorkämpfer der "Neuen Türkei"

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Titel
Vorkämpfer der "Neuen Türkei". Revolutionäre Bildungseliten am Genfersee (1870-1939)


Autor(en)
Kieser, Hans-Lukas
Erschienen
Zürich 2005: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
197 S.
Preis
€ 24,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Klaus Jaschinski, Deutsch-Ägyptische Gesellschaft Berlin e.V.

Die vorliegende Abhandlung über Leben und Wirken der osmanischen resp. türkischen Bildungsdiaspora auf Schweizer Boden geht in ihrer Entstehung zurück auf das Schweizerische Nationalfondsprojekt „Schweiz-Türkei: Lebenswelten und Kulturbegegnungen“ und ist darüber hinaus Teil einer von der Philosophischen Fakultät der Universität Zürich anerkannten Habilitation. Da Annäherung ein aktuelles Postulat offizieller europäischer und türkischer Politik geworden ist, und Annäherung, wie Hans-Lukas Kieser meint, ohne historische Auslotung nicht gelingen kann, wird hier gleichsam im kleinen Rahmen versucht, Europa, das Osmanische Reich und die Türkei als „gemeinsamen, hoch interaktiven historischen Raum“ zu projizieren und auszuleuchten. Das Hauptaugenmerk gilt der „orientalischen Diaspora“ in der Schweiz zur Jahrhundertwende, „die trotz dynamischem west-östlichem Wechselverhältnis tiefe Brüche, wenig übergreifende Gemeinschaft und viel dauerhafte Hassliebe hervorgebracht hat“ (S. 9). Außerdem soll mit dazu angeregt werden, die Schweiz jener Epoche „aus der Perspektive der muslimischen Elitediaspora zu betrachten, der sie als Zentrum politisch-kultureller Aufbrüche diente. Sie war - oft idealisierte - Zitadelle europäischer Kultur für Eliten, die allesamt, wenn bisweilen auch in kurzschlüssiger Weise, nach einer Synthese von westlicher Zivilisation und eigener Tradition trachteten“ (S. 20).

Unterteilt ist die Abhandlung in sieben Kapitel, gefolgt von einem Dokumentenanhang, der u.a. über osmanische Zeitschriften im Genfer Presseregister (1895-1905) und die Zahl der in Genf und Lausanne Studierenden aus dem Osmanischen Reich und der Türkei (1892-1954) Auskunft gibt. Schon im ersten Kapitel wird die Schweiz als Arena politisch-kultureller Aufbrüche um die Jahrhundertwende kenntlich gemacht und auf Gründe eingegangen, die junge bildungsbeflissene Osmanen/Türken bewogen, sich für einen helvetischen Bildungsaufenthalt zu entscheiden. Es folgen Betrachtungen zur „ratlosen osmanischen Nation“ und ihren politischen Ärzten unter besonderer Berücksichtigung der Militärischen Ärzteschule in Konstantinopel, in der neben Medizinern schlechthin auch eine sich zur Rettung des Osmanischen Reiches berufene Elite Gestalt annahm, die später in Europa durch das Comité Union et Progrès (CUP) in Erscheinung trat und von sich reden zu machen verstand. Die nächsten beiden Kapitel beleuchten die osmanische Opposition in Genf in den vier Jahrzehnten vor der Machtergreifung durch die Jungtürken (1908) und die Gründung von Vereinigungen der Foyers Turcs in Istanbul, Lausanne und Genf nach 1910. Anschließend richtet sich der Blick auf den „orientalischen Schauplatz“ Schweiz während des Ersten Weltkrieges und in der Nachkriegskrise. Im Mittelpunkt steht hier die inzwischen stark angewachsene „orientalische Diaspora“ mit ihren sozialen Interaktionen, politischen Aktivitäten und ihrem intellektuellen Umgang mit dem Krieg und dem Untergang des Osmanischen Reiches. Daran knüpfen Betrachtungen an zur „hohen Zeit“ des türkischen Nationalismus in Europa von 1918 bis 1923, als Lausanne zum Zentrum propagandistischer Agitation gegen Entente-Friedensreglungen für Nah- und Mittelost avancierte und als Verhandlungsort der modernen Türkei auf dem Weg der Staatswerdung zu einem immens wichtigen internationalen Triumph verhalf. Der so gespannte thematische Bogen, der auch einen Vergleich zwischen türkischem und jüdischem Nationalismus beinhaltet, schließt mit der Analyse von Interaktionen zwischen Atatürk und dem Genfer Anthropologen Eugène Pittard bei der Entwicklung der Türkischen Geschichtsthese.

Der Zeitraum der Untersuchungen erstreckt sich über gut siebzig Jahre, quasi von den Anfängen der Konstituierung einer „jungosmanischen“ Opposition in Genf gegen den Sultan und sein Regime bis zur Lausanner Orientkonferenz. Personen, Zeitströmungen und politische Geschichte werden gemeinsam in ihrer wechselseitigen Beeinflussung erfasst und vorgestellt mit der Maßgabe, sie in ihren Entwicklungen und Brüchen zu verstehen. Kieser zufolge liegt ein besonderer Erkenntnisgewinn „in der Herleitung jener Gewalt, die die türkisch-osmanischen Eliten sich und der Gesellschaft im Umgang mit der eigenen, problematisch gewordenen islamischen Identität antaten“ (S. 135). Innerhalb der kleinen „orientalischen Diaspora“ auf Schweizer Boden traten Komplexität, Ratlosigkeit und Zerrissenheit der osmanischen und muslimischen Gesellschaft häufig wie mannigfaltig zutage, allerdings als eine von der Wirklichkeit im Heimatland in vielem abgehobene Realität, als ein teils sehr an Extremen festgemachtes Abbild mit einer geradezu ultimativ auf Veränderung drängenden Komponente, bei der es neben Meinungsaustausch und Agitation auch einen Hang zur Konspiration zu verzeichnen gab. Welche Ähnlichkeiten die türkistischen mit den übrigen nichtmuslimischen Nationalistenklubs zum Beispiel der Zionisten, Armenier oder Bulgaren auf Schweizer Boden auch hatten, ein wichtiger Unterschied kristallisierte sich dennoch im stärker gebrochenen Verhältnis zur Religion heraus. Den Türkisten bereitete es offenkundig weit mehr Mühe, ihr Begehren, die Höhen westlicher Zivilisation erklimmen zu wollen, mit der nationalistischen Selbstbestätigung als Orientalen und Muslime in Einklang zu bringen. Einerseits gab es sehr wohl das Bestreben, die islamische Herkunft als einen Bestandteil türkischer Ethnizität zu begreifen und zu integrieren, allerdings unter Beiseiteschieben jeglicher Offenbarungsinhalte. Andererseits wertete man den Islam regelrecht ab durch Glorifizierung des vorislamischen Türkentums. Mag sein, dass die meisten orientalischen Studierenden die damalige westliche Wissenschaft und Zivilisation vorbehaltlos bejahten und Vorbehalte gegenüber der Kultur hegten. Aber diese Kultur gehörte zur christlich-abendländischen Zivilisation und konfrontierte die „orientalische Diaspora“ mit zahlreichen Stereotypen, die ihre Lebenswelt im Grunde abwerteten. Beim Erklimmen der Höhen westlicher Zivilisation kam sie so gesehen kaum umhin, sich mit diesen Stereotypen auseinanderzusetzen. Darüber erfährt man allerdings vergleichsweise wenig, abgesehen von den Ausführungen zur Türkischen Geschichtsthese, die so gesehen auch ein Extrem dieser Auseinandersetzung verkörpert.

Eine Vielzahl an Personen (Osmanen, Türken und Schweizer) lässt Hans-Lukas Kieser im Rahmen von Handlungen und damit verknüpfter Motivation Revue passieren. Immerhin bekleideten gut zwei Dutzend Mitglieder der Westschweizer Foyers Turcs nach 1923 Spitzenpositionen in der jungen Republik Türkei, darunter Mahmut Esat Bozkurt, ehemals Präsident des Lausanner „Türk Yurdu“ (türkisches Heim), als Wirtschafts- (1922-1923) und Justizminister (1924-1930); Şükrü Saraçoğlu, ehemals Präsident des Genfer „Türk Yurdu“, als Finanzminister (1927-1930 und 1933-1938) sowie als Ministerpräsident (1942-1946); und Cemal Hüsnü Taray als Erziehungsminister (1929-1930). Wie sehr die Schweiz für die „orientalische Diaspora“ in ihrem Werdegang zum politischen, rechtlichen und zivilisatorischen Modell wurde, bezeugt schließlich auch die Übernahme des Schweizerischen Zivilgesetzbuches durch die Republik Türkei im Jahre 1926.

Alles in allem entstand eine interessante und aufschlussreiche Abhandlung, die gerade durch Auswertung umfangreichen Quellenmaterials viel Wissenswertes vermittelt, ohne in Lobgesang auf Schweizer Bildungsqualität zu verfallen, zumal vieles hier kritisch in Augenschein genommen und hinterfragt wird.

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