M. Brecht u.a. (Hrsg.): Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung

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Titel
Neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung.


Herausgeber
Brecht, Martin; Peucker, Paul
Erschienen
Göttingen 2005: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
294 S.
Preis
€ 49,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hedwig Richter, Universität zu Köln

Am 4. Mai 1830 notierte Goethe in seinem Tagebuch zur Biografie des barocken Pietisten und Grafen Niklaus Ludwig von Zinzendorf (1700-1760) „Betrachtungen darüber aus dem höheren sittlichen und weltlichen Standpuncte“. Den 14 Autor/innen aus Deutschland, England, den USA und der Schweiz, unter denen sich einige prominente Namen der Wissenschaftswelt finden, ist diese höhere Betrachtung teilweise in glänzender Weise gelungen, teilweise mühen sie sich in den Niederungen der hagiografischen Detailversessenheit. Beachtenswert ist zweifellos, wie reflektiert und kritisch viele der Aufsätze mit dem Untersuchungsgegenstand umgehen, zumal die Beiträge auf eine Tagung anlässlich des Zinzendorf-Jubiläums 2000 in Herrnhut zurückgehen. Tatsächlich hat die Literatur über den Gründer der Herrnhuter Brüdergemeine (bzw. der Evangelischen Brüder-Unität) nicht zuletzt dank einiger Herrnhut-Forscher innerhalb der Gemeine selbst ein hohes Niveau erreicht, was sich auch in diesem Sammelband zeigt.

Wer sich ein Bild von Zinzendorf machen will, diesem rasenden Barock-Grafen und Weltbürger, der seine Zeitgenossen durch Originalität, Frömmigkeit und Intellekt beeindruckte und entsetzte, dem ist mit diesem Band durchaus gedient. Denn anders als der Titel erklärt, geht es bei den wenigsten Aufsätzen um neue Aspekte der Zinzendorf-Forschung. Vielmehr handeln die meisten Beiträge, von denen hier nur einige genauer besprochen werden sollen, die altbekannten, gleichwohl wichtigen Fragestellungen ab: Mission, Ekklesiologie, Umgang mit Separatisten oder Ausbreitung der Brüdergemeine. Hilfreich für einen informierenden Einblick ist auch das Personenregister.

So widmet sich die Historikerin Carola Wessel (†) Zinzendorfs Überlegungen zur Mission. Sie beschreibt die bekannten und beeindruckenden Grundsätze des Grafen über die „Heidenmission“: seine Toleranz und seine Abneigung gegen jeden Zwang, sein Verständnis für fremde Kulturen oder sein Engagement für die Entrechteten wie beispielsweise die Sklaven oder Indianer. Diese Grundsätze haben gewiss zu dem außerordentlichen Erfolg der Herrnhuter Mission geführt, auch wenn die tatsächliche Missionspraxis, die freilich nicht immer so harmonisch verlief, von Wessel nicht behandelt wird. Der Aufsatz des britischen Historikers Colin Podmore über die englische Brüdergemeine erklärt viel über Zinzendorfs Kirchenverständnis, wobei Podmore zeigen kann, wie dieses bei dem Grafen durch pragmatische Gesichtspunkte beeinflusst werden konnte. So war das Verhältnis zwischen den englischen Brüdern und Zinzendorf nicht nur wegen der unterschiedlichen Mentalitäten gespannt, hatten doch die Engländer durch ihre liberalere Gesellschaftsordnung zu wenig Verständnis für die autoritäre Zinzendorfsche Kirchenzucht. Zinzendorf wollte lange auch keine eigene Gemeine in England gründen, um nicht mit den Anglikanern in Konflikt zu geraten.

Zu den beliebten Beschäftigungen der Herrnhuter Forschung gehört das Name-Dropping: Welcher große Geist hat was über die Brüdergemeine im Allgemeinen und Zinzendorf im Besonderen gesagt? Neben Heine (sein Kommentar: „süßlich vermuffter Betgraf“, S. 266) oder Hoffmann von Fallersleben (S. 267) darf da vor allem einer nicht fehlen: Goethe, der den Herrnhutern verschiedene literarische Denkmäler gesetzt hat und als junger Mann wohl einmal kurz davor war, selbst ein „Bruder“ zu werden. Der Literaturwissenschaftler Paul Raabe nimmt sich dieses dankbaren Themas an und listet die Stellen, Begegnungen und Einschätzungen in Goethes Leben und Werk auf, resümierend, der Geheimrat sei von dem Grafen bis zum Ende seines Lebens wegen der „Verbindung eines reichsgräflichen Adels mit dem Adel der Seele“ (S. 238) fasziniert gewesen. Zum Herrnhuter Name-Dropping gehört seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch Karl Barth. Der Theologe und Karl Barth-Biograf Eberhard Busch belässt es in seinem ausgezeichneten Beitrag aber nicht bei den altbekannten Zitaten. Vielmehr stellt er prägnant anhand der Barthschen Kritik die Theologie und Ekklesiologie dieser beiden großen Geister dar. Zugleich werden dabei problematische Punkte in Zinzendorfs Lehre und Praxis aufgezeigt.

Dabei hat die Forschung bereits viel über die zahlreichen Zinzendorfschen Kritiker geschrieben. Dem Pietismusforscher Martin Brecht gelingt es in seinem Beitrag die Kritik der berühmtesten unter ihnen (Bengel, Oetinger, Moser etc.) knapp zu fassen. Brecht verfällt nicht dem weit verbreiteten Bedauern über diese Kritik und lehnt es ab, diese als bloße Polemik zu charakterisieren. Stattdessen arbeitet er heraus, inwieweit die Kritiker übereinstimmten und ihre Anfragen berechtigt waren: etwa das elitäre Kirchenverständnis, die skurrile Zinzendorfsche Trinitätslehre oder die exzentrische Sprache (S. 227f.). Interessant ist, dass sich unter den Kritikpunkten teilweise auch Karl Barths Anfragen wieder finden, wie sie Eberhard Busch darstellt. Brecht bleibt mit seiner Konzentration auf den Diskurs der wichtigen Männer ganz der gängigen Pietismusforschung verpflichtet. Diesem Kurs bleibt auch der Theologe Horst Weigelt treu. Zum Thema „Zinzendorf und die Schwenckfelder“ trägt er eine erstaunliche Fülle an Daten und Fakten zusammen. Weigelt beschreibt die Auseinandersetzung Zinzendorfs mit diesen Separisten und sein Bemühen um sie bis hin nach Amerika, wohin die Bedrängten schließlich auswanderten. Dabei beleuchtet Weigelt auch Zinzendorfs fragwürdigen Führungsstil und seinen sturen Eigenwillen.

Wie wenig Platz die alte Hagiografie in der heutigen brüderischen Zinzendorfforschung hat, zeigt der Theologe und Psychoanalytiker Hans-Christoph Hahn. Nach dem Tod des charismatischen Gemeindegründers waren seine Anhänger krampfhaft bemüht, dessen Bild wieder „kirchlich strubenrein zu machen“ (S. 259). Der Autor stellt dar, wie dieses Bild konstruiert und funktionalisiert wurde – und welche Aspekte dabei bedauerlicher Weise ausgeklammert wurden, etwa Zinzendorfs Plädoyer für Individualität (S. 262f.) oder seine Idee vom „Mutteramt des Heiligen Geistes“ (S. 261). Die Bedeutung Zinzendorfs in der Gegenwart verdeutlicht schließlich Dietrich Meyer. Der Beitrag des Pietismusforschers ist wichtig, weil er dem Anliegen Zinzendorfs gewiss am nächsten kommt. Zinzendorfs Bedeutung, so Meyer, liege weniger in der Theologie, als vielmehr im Bereich der evangelischen Gemeinde- und Laienfrömmigkeit (S. 272). Er zitiert Zinzendorf: „Nicht darin besteht das Wesen des Christentums, dass man fromm sei, sondern dass man glückselig sei“ (S. 282).

Faszinierend ist die Darstellung des Germanisten Hans-Jürgen Schrader, der sich Zinzendorfs als Poeten annimmt. Auch das kein neuer Aspekt der Forschung, doch die Einordnung der Zinzendorfschen Lyrik nicht nur in den Kontext der Brüdergemeine, sondern auch in den kulturgeschichtlichen Zusammenhang und in den Horizont der Literatur des 20. Jahrhunderts lässt den Artikel herausragen. Schrader kombiniert literaturwissenschaftliches Wissen mit Theologie, Brüder- und Kulturgeschichte. Der Germanist sucht nach den Wurzeln der verschrobenen Zinzendorfschen Lyrik, voll einer „orgiastischen Obsession“ (S. 144), die nach damaligem und heutigem Verständnis weitgehend als misslungen gelten müsse. Wenig erstaunlich, dass diese wilde Poesie früh schon zensiert und verstümmelt wurde und die Zinzendorfschen Lieder etwa heutiger Gesangbücher viel von der schillernden Originalität des alten Geistes verloren haben. Die Lyrik des Grafen bleibt dank Schrader kein unerklärliches Element der Heiligenverehrung. Der Literaturwissenschaftler weist in seiner Analyse den Zinzendorfschen Versen innerhalb der Brüder-Unität die Funktion der Identitätsstiftung zu (S. 153 et passim).

Bemerkenswert ist auch der Beitrag des Amerikaners Craig Atwood. Er analysiert eine der schwierigsten und faszinierendsten Phänomene der Herrnhuter Brüdergemeine: die so genannte „Sichtungszeit“, in der die Gemeine in rauschenden Festen, in einer barock schwelgenden, hoch erotischen Sprache und in liturgischen Kuriositäten die Wunden Jesu feierten. Die „Sichtungszeit“ kann gemäß Atwoods Interpretation keineswegs wie in der Forschung üblich auf die 1740er-Jahre beschränkt werden. Vielmehr wurde diese Phase von den Gemeinen in den USA und Deutschland quasi erfunden und für ihre Zwecke als abschreckendes Beispiel genutzt. Mit dieser methodisch interessanten Herangehensweise und durch das kritische Hinterfragen der Traditionskonstruktion beschreitet Atwood recht neue Wege in der Zinzendorfforschung.

Leider berücksichtigen die Autor/innen neben den Ausnahmen nur selten übergreifende Aspekte und nicht immer stellen sie analytische Fragen von allgemeinem Interesse. Dienlich und wichtig wäre eine Einleitung gewesen mit programmatischem oder analytischem, mit einem umfassenderen Zugriff auf den Barock-Grafen und seine Gemeine. So drängt sich etwa eine Reflexion über die Rolle der Tradition in der Brüder-Gemeine, ihre Konstruktion und ihre Instrumentalisierung geradezu auf. Auch stellt sich angesichts der Brüdergeschichte und den vielen wandernden und fliehenden Separatisten in den Beiträgen die Frage nach der Migration im 18. Jahrhundert. Welche Push- und Pull-Faktoren konnte Religion in der alten und neuen Welt bieten, wie ist die Selbstbezeichnung als „Pilgergemeine“ in diesem Kontext einzuordnen? Und da beispielsweise die internationale Forschung über die Brüdergemeine längst den Gender-Aspekt entdeckt hat, bleibt hier für den Sammelband eine bedauerliche Lücke zu vermerken. Zumal gerade die Geschlechterfrage Zinzendorf beschäftigt hat wie wenig andere seiner Zeitgenossen.

Nicht alle Autor/innen kommen zum Goetheschen höheren Standpunkt in ihrer Zinzendorf-Betrachtung – aber auch wenn so mancher Gedankengang unter der Last unnötiger Details zusammenbricht, so wird doch, wie Hahn es nennt, die „Regenbogen-Farbigkeit“ des Grafen (S. 271) in diesem Sammelband deutlich.

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