Die Philosophie müsse „das Phänomen des Fortbestehens der Religion als eine kognitive Herausforderung ernst nehmen“, so jüngst der Freigeist Jürgen Habermas.1 Na denn! Tatsächlich ist die Kunde von der Bedeutung der Religion inzwischen auch in die deutsche Welt der Geisteswissenschaften gedrungen. So kommt es gar zu einem UTB-Taschenbuch über den Pietismus, dessen Text schon früher in einer ersten Fassung in einem kirchengeschichtlichen Handbuch erschienen war.2 Als „Überblick“ ist das Taschenbuch ausdrücklich für eine breite Leserschaft gedacht – auch ökonomisch und zeitökonomisch dank eines guten Preises und einer maßvollen Seitenanzahl. Im Umschlagtext wird das Buch besonders den Profanhistorikern ans Herz gelegt.
Pietismus: über den jeder schon etwas gehört hat, aber niemand außer den Fachmännern und -frauen so richtig Bescheid weiß. Der Autor Johannes Wallmann, Theologe und Kirchenhistoriker, ist einer dieser Fachmänner der Pietismusforschung. Und da liegt auch schon die Krux des Büchleins. Es gibt von diesen ausgewiesenen, alten Pietismus-Kennern nur wenige, und sie führen Kontroversen etwa über kabbalistische Wurzeln in der Theologie Friedrich Christoph Oetingers oder über die chiliastische Verortung pietistischer Missionskonzepte. In diesem Sinne und ganz entgegen dem Auftrag und der Intention eines Handbuchs unternimmt Wallmann einiges, das Gärtlein der Pietisterei schön abgegrenzt zu halten vom Treiben der restlichen Wissenschaftswelt.
Wallmann beruft sich bei seiner Definition des Pietismus vielfach auf Albrecht Ritschel (S. 23-27), der das in den Augen etlicher Pietismusforscher bis heute einzig gültige Kompendium dieser Frömmigkeitsbewegung geschrieben hat. Ritschel lebte im 19. Jahrhundert. Diese Definition beschränkt Pietismus auf eine religiöse Erweckungsbewegung des späten 17. und des 18. Jahrhunderts. Damit fällt Wallmann hinter den weiteren Pietismusbegriff des neuen Standardwerks „Pietismus und Geschichte“ zurück, in dem auch das 20. Jahrhundert und Bereiche wie etwa die fromme „Semantik“ einbezogen werden.3
Bei Johannes Wallmann aber besteht die Welt aus Männern und ihren Ideen. So konstruiert der Autor Pietismus als eine chronologische Abfolge männlicher Biografien und Erscheinungsdaten ihrer Werke. Frauengestalten ragen in diesen pietistischen Mikrokosmos nur selten und wie Irrläufer der Geschichte. Methodisch peinlich, auch wenn Männer und ihre Ideen – wer mag daran zweifeln – wichtig für Theologie und Geschichte sind. In der Skizzierung pietistischer Lebensläufe sowie der Darlegung pietistischer Lehren und deren Genese liegt denn auch das Verdienst des Handbuchs. Mit reichem Detailwissen und souveränem Gestus führt der Autor den Leser durch das Leben der wichtigsten Pietisten und ihrer Vordenker: Johann Arndt, Philipp Jakob Spener, August Hermann Francke und so weiter; anhand seiner prominenten Vertreter wird auch der reformierte Pietismus mitbedacht. Sinnfällig sind die Kapitel nach den großen Pietisten geordnet. Der Kirchenhistoriker erzählt von persönlichen Begegnungen dieser Männer, ihrer gegenseitigen Beeinflussung – und ihren jeweiligen Bezügen zum spezifisch Pietistisch-Theologischen: dem Bibelzentrismus, dem Chiliasmus oder dem Konventikeltum. Hin und wieder nennt Wallmann auch historische Daten, die die Verfasstheit des Pietismus auf Staatsebene markieren.
In seinem beschränkten Themenbereich stellt Wallmann originelle Thesen auf, etwa wenn er den an der Verbalinspiration zeitlebens festhaltenden Johann Albrecht Bengel als den „Vater der modernen Textkritik“ bezeichnet (S. 220). Einem Handbuchleser, der sich über den Pietismus einen ersten Überblick verschaffen will, wird gleichwohl die Ironie solcher Aperçus entgehen. Überhaupt sind allzu viele seiner Ausführungen gemessen an dem Anspruch eines Überblicks recht spezialistisch und interessant nur für Eingeweihte. Für den Pietismus zentrale Begriffe wie „Heiligungsstreben“ oder „Apokatastasis panton“ werden diskutiert, theologisch eingeordnet – und nicht erklärt.
Verdienstvoll ist neben einem Personenregister die ausführliche Bibliografie, eingeteilt in einen allgemeinen, einen regionalen und (zusätzlich den einzelnen Kapiteln zugeordnet) biografischen Abschnitt. In extenso werden dabei die älteren und ältesten Darstellungen bedacht – da diese, wie Wallmann im Vorwort vermerkt, bibliografisch schwer zu ermitteln seien. Das mag richtig sein. Nur: Wallmann beschränkt sich bei den Literaturangaben aus dem 20. oder gar 21. Jahrhundert ausschließlich auf die Werke, die seiner Lesart des Pietismus und seiner Methodik entsprechen. Alles andere ist für ihn „sprunghaft angestiegene, teilweise sehr spezialistische Literatur“ (S. 7).
Welch einen Bärendienst erweist Wallmann mit seiner Beschränktheit dem schillernden, packenden, vielfältigen Thema Pietismus! Diese von dem Kirchenhistoriker „spezialistisch“ genannte Literatur hat inzwischen aufgezeigt, welche Potentiale im Forschungsfeld Pietismus stecken, wie Pietismus interdisziplinär und interkulturell die Wissenschaft belebt.4
So fehlt bei Wallmann der ganze fromme und verquere Makrokosmos des Pietismus. Selbst sein in der Einleitung gegebenes Versprechen hält er nicht, er werde trotz seiner Konzentration auf Theologisches und Frömmigkeitsgeschichte auch literaturgeschichtliche oder sozialgeschichtliche Aspekte berücksichtigen (S. 27). Goethe und Hölderlin tauchen schmückend in Nebensätzen auf, was herzlich wenig mit Literaturgeschichte zu tun hat. Und Sozialgeschichtliches? – Fehlanzeige.
Ganz zu schweigen von Wallmanns Beschränkung des Pietismus auf den Zeitraum bis ins 18. Jahrhundert.5 Wie interessant wird der Pietismus unter dem Aspekt der „longue durée“. Die Auswirkungen des Pietismus auf Bürgertum, auf Politik, auf Wirtschaft, auf Sozialverhalten, auf die Welt von heute gar bleiben vollkommen unerwähnt. Damit zementiert der Professor für Kirchengeschichte nebenbei die bedauerliche, weit verbreitete Religions-Abstinenz der deutschen Zeitgeschichtsschreibung. Freilich, es handelt sich nur um ein Handbuch: Gleichwohl wäre es die Aufgabe gerade eines solchen, auf die vielfältigen Themenfelder hinzuweisen.
Um zu zeigen, was Wallmann und seinem Handbuch damit entgeht, sei hier ein aktuelles Beispiel genannt aus der Forschung, die der Autor keines Blickes und keines bibliografischen Vermerkes würdigt: Die Untersuchungen des US-Amerikaners Jon F. Sensbach über eine schwarze Weltbürgerin des 18. Jahrhunderts.6 Der Historiker Sensbach rekonstruiert das Leben dieser in der Karibik aufgewachsenen Frau, die zum christlichen Glauben übertritt und Herrnhuterin wird, lesen und schreiben lernt (ihre Briefe gehören zu den ersten schriftlichen Zeugnissen einer schwarzen Frau), als Predigerin tätig ist, in Europa und schließlich in Afrika lebt und als Missionarin arbeitet. Dieses Buch ist – methodisch interessant und anknüpfungsfähig. Theologie oder Missionskonzepte sind hier relevant, weil Sensbach aufzeigt, wie sie Leben beeinflussen, den Alltag verändern, Mentalitäten prägen, Geschichte über Jahrhunderte bestimmen. Es ist bei einem solchen Forschungsansatz ganz augenfällig: Diese Themen sind nichts für den Sperrbezirk kirchenhistorischer Gelehrsamkeit. Sie gehen weit darüber hinaus und werden daher erst jenseits einer selbstgefälligen Pietismusforschung richtig interessant für die Gelehrtenwelt.
Und hier gilt es denn doch zähneknirschend einen Schritt zurück zu treten. Allzu oft fristet die neue Pietismusforschung ihr Dasein in völliger Theologie-Ferne. Jüngstes Beispiel ist Ulrike Gleixners „Historische Anthropologie der Frömmigkeit“ über Pietismus und Bürgertum.7 Zwar deutet die Untersuchung die Potentiale an, die in einem solchen Ansatz stecken können. Dennoch zeigt Gleixner in einer vor allem deskriptiven und wenig analytischen Herangehensweise (nicht zuletzt, weil sich Pietismus ohne Theologie nicht analysieren lässt), warum neue Ansätze in der Pietismusforschung für die Geschichtsschreibung ähnlich irrelevant und undienlich sein können, wie Wallmanns methodische Ignoranz. Immerhin: während bei Gleixner der Weltgeist Philipp Matthäus Hahn seinen Auftritt in langatmigen Beschreibungen als streitsüchtiger Ehemann hat, wird er in dem vorliegenden Handbuch des Pietismus als Ingenieur, Erfinder und Stundenhalter beschrieben – Wallmann vermittelt doch zumindest einige relevante Fakten.
In der US-amerikanischen Forschung haben Wissenschaftler/innen wie José Casanova längst die Bedeutung von Religion jenseits der eng verstandenen Kirchengeschichte und eben auch für das 20. Jahrhundert aufgezeigt.8 Inzwischen haben auch hierzulande Forscher wie Friedrich Wilhelm Graf oder Hartmut Lehmann dargelegt, wie befruchtend theologische Aspekte auf die Profangeschichte – gerade auch auf die zeithistorische – wirken können.9 Die Themen der Pietismusforschung dürfen nicht im engen Zirkel der Spezialisten verwesen: So sind etwa die jüdischen Einflüsse auf den Pietismus, auch die kabbalistischen Wurzeln des schwäbischen Theologen Oetinger, wichtig bei der Untersuchung des süddeutschen kirchlichen Widerstands in der NS-Zeit; und die divergierenden pietistischen Missionskonzepte haben Bedeutung nicht zuletzt für die Migrations- und Kolonialgeschichte, überhaupt für das weite Forschungsfeld der Transfergeschichte.
Wallmann aber setzt einen weiteren Stein auf die Mauer zwischen Profan- und Kirchenhistoriker/innen. Religion wird bei ihm nicht zu der von Habermas postulierten kognitiven Herausforderung, sondern provoziert nur müdes Abwinken. Schade drum. Eine aktuelle Überblicksdarstellung zum Pietismus bleibt ein frommer Wunsch.
Anmerkungen:
1 Habermas, Jürgen; Ratzinger, Joseph, Dialektik der Säkularisierung, Bonn 2005, S. 28.
2 Möller, Bernd (Hg.), Die Kirche in ihrer Geschichte, Göttingen 1990.
3 Geschichte des Pietismus. Hgg. von Brecht, Martin; Deppermann, Klaus; Gäbler, Ulrich und Lehmann, Hartmut, Göttingen 1993-2004, 4 Bd. Wallmann hat gegen diese Erweiterung des Pietismus-Begriffs heftig Stellung bezogen. Sein Hauptargument: Es sei eine neue Definition, die vom alten „Kurs“ abkomme. (Wallmann, Johannes, Fehlstart. Zur Konzeption von Band 1 der neuen Geschichte des Pietismus, in: Pietismus und Neuzeit 20 (1994), 218-235).
4 Vgl. Lehmann, Hartmut, Engerer, weiterer und erweiterter Pietismusbegriff, in: Pietismus und Neuzeit 29 (2003), S. 18-37, hier 32 f. Beispielhaft für diese Potentiale zeigt sich das im neuesten Text von Mettele, Gisela, Eine „Imagined Community“ jenseits der Nation. Die Herrnhuter Brüdergemeine als transnationale Gemeinschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 45-68.
5 Freilich gibt es einige Argumente für diese zeitliche Einschränkung. Wallmann legt sie ausführlich in der Zeitschrift „Pietismus und Neuzeit“ dar, führt damit letztlich jedoch nur vor, wie wenig praktikabel und hilfreich seine Definition ist. Wallmann, Johannes, Eine alternative Geschichte des Pietismus. Zur gegenwärtigen Diskussion um den Pietismusbegriff, in: Pietismus und Neuzeit 28 (2002), S. 30-71.
6 Sensbach, Jon F., Rebecca’s Revival. Creating Black Christianity in the Atlantic World. Cambridge 2005.
7 Gleixner, Ulrike, Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit. Württemberg 17.-19. Jahrhundert, Göttingen 2005; vgl. hierzu auch die Rezension von: Friedrich, Markus, H-Soz-u-Kult, 15.09.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-3-164>.
8 Casanova, José, Public Religions in the Modern World, Chicago 1994; ders.: Civil Society and Religion. Retrospective Reflections on Catholicism and Prospective Reflections on Islam, in: Social Research 68/4 (2001), S. 1041-1080.
9 Graf, Friedrich Wilhelm, Die Wiederkehr der Götter. Religion in der modernen Kultur. München 2004; Lehmann, Hartmut, Protestantisches Christentum im Prozess der Säkularisierung, Göttingen 2001.