H. Böning u.a. (Hrsg.): Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte

Cover
Titel
Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte (JbKG), Band 8.


Herausgeber
Böning, Holger; Kutsch, Arnulf; Stöber, Rudolf
Erschienen
Stuttgart 2007: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
345 S.
Preis
Einzelheft € 93,00, Jahresabbonement € 82,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Horst Pöttker, Technische Universität Dortmund, Institut für Journalistik

Was ist ein Jahrbuch? Nach Auffassung des Rezensenten jedenfalls ein Buch, das sich auf ein bestimmtes Kalenderjahr bezieht. Im vorliegenden Fall sind es deren drei. Die von Wilbert Ubbens besorgte Bibliographie bezieht sich auf 2005, im Titel wird 2006 angegeben und erschienen ist der Sammelband 2007. Die Zahl 2006 auf dem Titelblatt ist mithin ein Konstrukt, das allein der Publikationslogik folgt. Der Deutsche Presserat beispielsweise ist dazu übergegangen, seine Jahrbücher nach den Jahren des tatsächlichen Erscheinens zu benennen. Möglich wäre auch, das Jahr zu nehmen, auf das sich die Bibliographie bezieht. Auf jeden Fall sollten Historiker mit der Differenzdimension Zeit sorgfältig umgehen, auch wenn sie in publizistischer Rolle Quellen generieren. Schließlich ist diese Dimension für die Geschichtswissenschaft konstitutiv.

Für die Herausgeber spielt Zeit als Strukturierungsfaktor durchaus eine Rolle. Das zeigt sich an der chronologischen Anordnung der Beiträge: Astrid Blome (Bremen) wendet sich in ihrem Auftaktbeitrag „zur Genese der Wissensgesellschaft“ den Adressbüros des 17. Jahrhunderts als Teil der modernen Informationsinfrastruktur zu. Danach rekonstruiert Rolf Graber (Kreuzlingen) das politische Bewusstsein der Züricher Landbevölkerung um 1800 anhand überlieferter Protestäußerungen zur so genannten „Mediationsverfassung“ Napoleons für die Schweiz. Die folgenden, breiten Darlegungen von Alla Keuten (Bremen) sind St. Petersburger deutschsprachigen Periodika zwischen 1805 und 1815 gewidmet, deren Bedeutung für die Entwicklung der Öffentlichkeitskultur in Russland oft übersehen wird. Die Umbruchepoche um 1848 rahmt die Gegenstände von Reinhart Siegerts (Freiburg im Breisgau) luzidem Aufsatz: Spuren der Zensur in populären Volkslesestoffen dieser Jahre. Über eine große Lücke von fast einem Jahrhundert hinweg folgt Stephanie Seuls (Bremen) wieder sehr breite Darlegung der Entwürfe für ein Nachkriegseuropa in der britischen Deutschlandpropaganda der Jahre 1940/41. Dann analysiert Stephan Buchloh (Ravensburg-Weingarten) die westalliierte, insbesondere US-amerikanische Filmpolitik im besetzten Deutschland der Jahre 1945 bis 1949, wobei er sich dem Problem der zunehmenden Überlagerung von Demokratisierungsbemühungen durch kommerzielle Interessen zuwendet. Thomas Lietz, Rebekka Honeit und Stefan Rauhut (Leipzig) schließen die Reihe der inhaltlichen Aufsätze ab mit einer Untersuchung zur Rundfunknutzung Jugendlicher in der DDR der 1980er-Jahre, die sich auf historisches Datenmaterial des „Zentralinstituts für Jugendforschung“ (ZIJ) stützt und die These vertritt, in der jüngeren DDR-Bevölkerung habe sich weniger ein Loyalitätsverfall gegenüber der SED als ein grundlegender Wertewandel hin zu hedonistischen Haltungen vollzogen.

Die chronologische Anordnung fördert eine Lesehaltung, die nach historischen Prozessen Ausschau hält und analoge, genetische oder kritische Bezüge zwischen den untersuchten Phänomenen und Epochen sucht. Beispielsweise könnte man fragen, ob das propagandistische Europa-Konzept der Briten von der alliierten Nachkriegspolitik tatsächlich aufgegriffen worden ist. Dass das Jahrbuch 2006 mit seinen heterogenen Themen und großen Sprüngen in dieser Hinsicht wenig hergibt, kann den Herausgebern kaum vorgehalten werden. Schmerzlich für den Rezensenten ist, dass sich dem Band zur Entwicklung des Journalismus schon deshalb kaum etwas entnehmen lässt, weil die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts übersprungen wird, in der die Professionalisierung dieses modernen Berufs vor allem in den angelsächsischen Ländern, etwas später auch auf dem europäischen Kontinent den entscheidenden Schub erfuhr. Am aufschlussreichsten hierzu ist noch Siegerts Beitrag, der den Wandel von der Zensur theoretischer Spitzenleistungen der Naturwissenschaften oder der Staatsphilosophie in der frühen Neuzeit zur politischen Zensur der unterhaltsam informierenden, an breiteres Publikum gerichteten Presse im Vormärz illustriert. Hinsichtlich Relevanz, Prägnanz und Innovation halte ich ihn für den Höhepunkt des Aufsatzteils.

Es schließt sich ein methodischer Teil zur Erschließung und Archivierung von Pressequellen an. Albrecht Hoppe und Rudolf Stöber (Bamberg) stellen traditionell deskriptiv ihr DFG-Projekt zur Digitalisierung der Amtspresse Preußens in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor, während Holger Böning sich in einer ausgeweiteten Rezension von Nicholson Bakers „Der Eckenknick oder wie die Bibliotheken sich an den Büchern versündigen“ (Rowohlt 2005) gegen die vermeintlich ökonomische Zeitungsarchivierung per Mikrofilm engagiert: „Lasst endlich unsere Bücher in Ruhe. Besinnt Euch auf die Aufgabe, die Generationen von Bibliothekaren mit Leidenschaft und selbstverständlicher Verantwortung wahrgenommen haben. Erhaltet die beispiellose Weite und Vielfalt unserer Bibliotheksbestände. Stoppt endlich die sinnlose Zerstörung historischer Zeugnisse, die auch die nachfolgenden Generationen noch benötigen! Schluss mit allen Experimenten, die den Zugang zu Buch und Zeitung sukzessive versperren.“ (S. 254) Dass einem verdienten Kommunikationshistoriker der positivistische Kragen platzt, wünschte man sich häufiger.

Rezensionen und die schon erwähnte Zeitschriftenbibliographie nebst einem unentbehrlichen Register zum Aufsatzteil umfassen etwa ein Drittel des Bandes. Dass in einem Jahrbuch an die 70 Werke (neben Büchern auch dokumentarische CDs und DVDs) besprochen werden, scheint von der anhaltenden Fruchtbarkeit des Forschungsfeldes (Kommunikations-)Geschichte zu zeugen, das vom Zeitgeist nicht gerade gedüngt wird. Dass dabei allerdings nur 20 Rezensenten tätig waren, in fast einem Drittel der Fälle Holger Böning, wozu noch zehn Rezensionen der beiden Mitherausgeber Arnulf Kutsch oder Rudolf Stöber kommen, hinterlässt dagegen den Eindruck eines ziemlich geschlossenen Zirkels. Bei der außerordentlich sorgfältigen und nützlichen, weil sonst unerschlossenes Schrifttum zugänglich machenden Aufsatz-Bibliographie ließe sich allenfalls über die Systematik nachdenken. Dass Presse und Film eigene Rubriken sind, während Hörfunk, Fernsehen und Internet unter dem Rubrum „Elektronische Medien“ zusammengefasst werden, mag noch angehen. Dass aber Werbung und Public Relations eine Kategorie bilden, während Journalismus als solche fehlt, kann der Rezensent schwer akzeptieren.

Im Großen und Ganzen wieder ein solides, vielleicht etwas traditionell gestaltetes, kommunikationsgeschichtliche Forschungen eher durch Detailinformationen fundierendes als durch innovative Fragestellungen anregendes Buch, dessen Nutzen bereits, aber nicht allein darin besteht, dass es die Bedeutung einer von der gegenwärtigen Wissenschaftsentwicklung vernachlässigten Teildisziplin unterstreicht.

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