Chr. Flügel: Spätantike Arztinschriften

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Titel
Spätantike Arztinschriften als Spiegel des Einflusses des Christentums auf die Medizin.


Autor(en)
Flügel, Christian
Reihe
Beihefte zum Göttinger Forum für Altertumswissenschaft 20
Erschienen
Göttingen 2006: Edition Ruprecht
Anzahl Seiten
410 S.
Preis
€ 99,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Charlotte Schubert, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Die Arbeit von Christian Flügel zu den spätantiken Arztinschriften, eine Dissertation im Fach Geschichte der Medizin an der Ruhr-Universität Bochum aus dem Jahr 2005, stellt den Versuch dar, das Thema mit einem interdisziplinären Ansatz aus den Fächern Patristik, Klassische Philologie und Antike Medizingeschichte zu bearbeiten. Allerdings ist dieser Versuch, drei große Wissenschaftsfelder heranzuziehen, wirklich gewagt: So trägt Flügel über weite Strecken komplexitätsreduziertes Handbuchwissen vor, das stellenweise noch nicht einmal von Fachleuten aus den Altertumswissenschaften generiert wurde. Für die als Hauptquellen verwendeten Inschriften gibt Flügel das Corpus der Arztinschriften seines Lehrers Christian Schulze 1 als Referenz an und verwendet darüber hinaus auch die einschlägigen Corpora, in denen die jeweilige Inschrift zu finden ist (CIL, ICUR, ILCV, MAMA, TAM usw.).

Befremdend wirkt es jedoch, dass diese Inschriften gleichsam nur als Aufhänger behandelt werden, um in jedem Kapitel ein Thema abzuhandeln, das weit über das, was man aus der Inschrift selbst gewinnen kann, hinaus geht: „Kirchliche Sexualmoral und Arztberuf“, „Kirchliches Frauenbild und Ärztinnenberuf“, „Das Gebot der Nächstenliebe und der Arztberuf“, „Die kirchlichen Ämter und der Arztberuf“, „Seelsorge und Arztberuf“, „Religiöse Überzeugungen und Ärzteschulen“, „Christlicher Lebensschutz und Schwangerschafts-, Geburts- und Kindermedizin“ sowie „Auferstehungsglauben und Iatrotheologie“. So entstehen dann Kapitel mit übergreifendem Anspruch zu Themen wie der christlichen „Sexualmoral“ oder dem christlichen „Frauenbild“. Solche Großkapitel haben aber kaum noch die nötige wissenschaftliche Differenzierung. Als Beispiel sei hier auf das Thema Sexualmoral verwiesen: Kann man wirklich (S. 68) mit Verweis auf Haeberle pauschal behaupten, der hellenistische Kulturkreis habe ein hedonistisches Verhältnis zur Sexualität gehabt, das „auch religiös begründet war“? Gab es nicht auch in den antiken nicht-christlichen Religionen Erscheinungen, die das Asketische oder wenigstens die Keuschheit stark betonten? So fehlt auch jede kritische Auseinandersetzung mit den Thesen von Foucault, ohne die heute das Thema Sexualität – und damit auch die Fragen von Enthaltsamkeit und Keuschheit – in der Antike nicht mehr behandelt werden kann, vor allem im Hinblick auf die in römischer Zeit zunehmenden Tendenzen von Askese und die dazu von Foucault vertretene Ansicht, dass sich der Wert der Ehe grundlegend verändert habe.2

Eine sorgfältige und intensive Analyse der literarischen Quellen, die für alle der hier dargestellten Epochen jeweils den kulturellen, sozialen und gesellschaftlichen Kontext erst herstellen, fehlt bei Flügel komplett. Im Hinblick auf die Texte der antiken Medizingeschichte wird entweder aus zweiter Hand zitiert (so etwa S. 242 der hippokratische Eid) oder in einer solchen Ungenauigkeit referiert (so etwa S. 248 zu den gynäkologischen Texten des Corpus Hippocraticum: „[...] im Sinne von Hippokrates [...], also dass bestimmte Verhaltensauffälligkeiten durch den herumwandernden Uterus verursacht werden“), dass man sich fragt, ob der Autor diese Texte überhaupt je gesehen hat.

Insgesamt ist die Klassische Philologie mit ihrer ausgereiften Methodik in die Untersuchung viel zu undifferenziert einbezogen, so wird beispielsweise der Einfluss poetischer Formensprache auf die Grabepigramme weitgehend ausgeblendet, wichtige rhetorische Figuren wie Metapher, Allegorie und Analogie werden ohne Unterscheidung einfach synonym gebraucht (S. 30). Die Alte Geschichte wird als grundlegende Disziplin für diese Fragestellung nicht einmal im Vorwort erwähnt, geschweige denn, dass Flügel ihre Forschungsergebnisse oder wenigstens die althistorische Handbuchliteratur miteinbezogen hätte. Es ist bedauerlich, dass heute, da jede Form der Wissenschaftspolitik und -förderung die Interdisziplinarität derart in den Vordergrund stellt, solche Arbeiten in einem wichtigen Querschnittsfach wie der Medizingeschichte, die per se interdisziplinär arbeiten muss, der Sache einen derartigen Bärendienst erweisen.

Anmerkung:
1 Schulze, Christian, Medizin und Christentum in Spätantike und frühem Mittelalter. Christliche Ärzte und ihr Wirken, Tübingen 2005.
2 Foucault, M., Der Wille zum Wissen (Sexualität und Wahrheit 1), Frankfurt a.M. 1983 (französisch: Histoire de la sexualité, Bd. 1: La volonté de savoir, Paris 1976); Der Gebrauch der Lüste (Sexualität und Wahrheit 2), Frankfurt a.M. 1989 (französisch: Histoire de la sexualité, Bd. 2. L’usage des plaisirs, Paris 1984); Die Sorge um sich (Sexualität und Wahrheit 3), Frankfurt a.M. 1989 (französisch: Histoire de la sexualité, Bd. 3. Le souci de soi, Paris 1984). Vgl. dazu auch Rousselle, A., Der Ursprung der Keuschheit, Stuttgart 1989.

Kommentare

Von Flügel, Christian 15.08.2007

Zu Recht wird in Charlotte Schuberts Besprechung meiner medizinhistorischen Dissertation „Spätantike Arztinschriften als Spiegel des Einflusses des Christentums auf die Medizin“ auf die Schwierigkeiten interdisziplinärer Untersuchungen hingewiesen. Die Heranziehung von Standardwerken anderer wissenschaftlicher Disziplinen zur Beleuchtung fachfremder Aspekte ist als wissenschaftliche Methode zweifellos problematisch und wird unter der entsprechenden Überschrift in der Einleitung der Doktorarbeit entsprechend kritisch diskutiert (S. 45ff.). Der Vorwurf der Rezensentin, der Autor verwende „komplexitätsreduziertes Handbuchwissen“ ist insofern weder originell, noch wird auf die inhaltliche Schwäche dieses Umstands eingegangen. Schuberts Beanstandung, der Begriff der „Hysterie“ werde in unangemessener „Ungenauigkeit referiert“, übersieht, dass mit diesem Begriff seit der Antike unklare, unverständliche und wechselnde Symptome bei Patientinnen (aus der Sicht männlicher Ärzte) bezeichnet werden. Auch ihre Kritik an der Zitierung des Ärzteeides „aus zweiter Hand“ ignoriert die unmittelbar anschließende Begründung für dieses Vorgehen: die Bedeutung dieses Passus ist umstritten – vor allem aber blickt die Untersuchung in eine andere Richtung: Warum konnte sich der Eid trotz Anrufung heidnischer Gottheiten im christianisierten Raum halten?

Dass im beanstandeten Kapitel zur Sexualmoral vornehmlich auf einen Sexualwissenschaftler (Erwin J. Haeberle) Bezug genommen wird, statt die „kritische Auseinandersetzung mit den Thesen von Foucault“ zu suchen, mag vielleicht für eine medizinische Doktorarbeit verständlich sein, ist aber auch aus psychiatrischem Blickwinkel ein berechtigter Vorwurf. Schuberts Einwurf hingegen, ob es nicht auch außerhalb des Christentums „Erscheinungen, die das Asketische oder wenigstens die Keuschheit stark betonten“, gegeben habe, zeigt, dass sie das Buch wohl nur punktuell gelesen haben kann, denn exakt hierauf wird noch im selben Kapitel eingegangen (S. 82).

Charlotte Schubert ist offenbar nicht an einer ausgewogenen Besprechung interessiert. Ihre einseitig negative Bewertung macht sie an Randerscheinungen fest, ohne auf das Kernthema „Medizin und Christentum“ überhaupt einzugehen. Die Rezensentin instrumentalisiert eine medizingeschichtliche Doktorarbeit in der Auseinandersetzung um „Wissenschaftspolitik und -förderung“, wie Schubert selbst völlig zusammenhanglos anführt.


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