Buchpreis: Essay Kategorie Zeitgeschichte

Von
Christoph Classen

Essay von Christoph Classen, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Die diesjährigen Preisträger behandeln überwiegend die Geschichte der „alten“ Bundesrepublik in ihrer gesamten zeitlichen Spanne zwischen dem Kriegsende bis Mitte der 1990er-Jahre. Sie lassen sich in drei Gruppen einteilen: Zwei der Bücher, Christina von Hodenbergs Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit und Detlef Siegfrieds Darstellung der Jugendkultur, behandeln im weiten Sinne das Spannungsfeld zwischen kulturellem Wandel und Politik in der Zeit der frühen Bundesrepublik bis zum Ende der „langen“ 1960er-Jahre. Zwei weitere, Jens Hackes Untersuchung der liberal-konservativen Philosophie der so genannten „Münsteraner Schule“ und Carola Dietzes Biografie des Philosophen und Soziologen Helmuth Plessner widmen sich – wenngleich Dietzes Arbeit sich nicht nur auf die Nachkriegszeit bezieht – dem akademischen Milieu und der Ideengeschichte. Die beiden letzten beschäftigen sich dagegen mit dem Ende des westdeutschen Teilstaates: Andreas Wirsching liefert eine Überblicksdarstellung zu den 1980er-Jahren und Gerhard A. Ritter analysiert den Einigungsprozess aus sozialpolitischer Sicht bis Mitte der 1990er-Jahre.

Der Träger des ersten Preises in der Kategorie Zeitgeschichte, das Buch „Der Preis der Einheit“ von Gerhard A. Ritter, untersucht die Entwicklung der Sozialpolitik im Zuge der deutschen Wiedervereinigung. Ritter wagt sich damit – für einen Historiker eher ungewöhnlich – auf ein gesellschaftlich äußerst umstrittenes Terrain im Zentrum der gegenwärtigen Reformdebatten. Ist primär die Wiedervereinigung (sprich der Osten) schuld an der Krise des Sozialstaates? Oder ist das deutsche Sozialstaatsmodell generell überholt und der Bankrott der sozialstaatlichen Sicherungssysteme nur durch schnellstmögliche Abschaffung und den Wechsel zu einem marktliberal orientierten System zu verhindern? Solche Fragen beherrschen die politische Agenda, und die dazugehörigen simplen Überzeugungen finden sich nicht nur an den Stammtischen. Das Verdienst von Gerhard A. Ritters Buch ist es, solchen vereinfachenden Alternativen den Boden zu entziehen und auf der Basis einer empirisch dichten, historisch fundierten Argumentation zu differenzierenden und abgewogenen Schlussfolgerungen zu kommen. So spart er durchaus nicht mit Kritik an konkreten politischen Entscheidungen, betont aber auf der anderen Seite, wie schwierig es ist, das gewachsene, komplexe System der sozialen Sicherung zu verändern, dessen Kontinuität über alle politischen Umbrüche des 20. Jahrhunderts hinweg bemerkenswert ist. Er attestiert ihm „grundsätzlich Problembewältigungskraft und […] Lernfähigkeit“ (S. 404), nicht ohne andererseits darauf hinzuweisen, dass keineswegs sicher ist, ob dies angesichts einer sich immer rascher verändernden Welt auch für die Zukunft ausreichen wird. Das Buch kann als Hinweis dafür gelesen werden, dass Zeithistoriker auch und gerade dann zur Vertiefung gegenwärtiger politischer Diskussionen beitragen können, wenn sie ihre wissenschaftliche Seriosität und die damit verbundenen methodischen Standards nicht aufgeben.

Das zweitplatzierte Buch von Jens Hacke, „Philosophie der Bürgerlichkeit“, richtet das Interesse erneut auf das „überraschende Gelingen“ der Demokratie in Westdeutschland. Seine Arbeit ist eine ideengeschichtliche Untersuchung der Münsteraner „Ritter-Schule“, einer liberal-konservativen Gruppe von Philosophen, zu denen Hermann Lübbe, Odo Marquard und Robert Spaemann zählen. Während der Beitrag der Linken und Linksliberalen im Umfeld der „Frankfurter Schule“ an der „intellektuellen Gründung“ der Bundesrepublik inzwischen gut belegt ist, galt dies für ihre konservativen Antipoden bisher nicht; vielmehr entbehrt es nicht der Ironie, dass populären Auffassungen zufolge die im Kern eher illiberale „68er-Bewegung“ für eine Fundamentalliberalisierung oder gar „zweite Gründung“ der Bundesrepublik verantwortlich gemacht wird, während die liberal orientierten jüngeren konservativen Verteidiger der institutionellen Ordnung in dieser Erzählung bisher zumeist bestenfalls als Bremser vorkamen. Jens Hackes Studie korrigiert dieses schiefe Bild, indem sie die Bedeutung jenes skeptisch-pragmatischen, liberal gewendeten Teils des deutschen Konservativismus für die Identitätsfindung und Stabilisierung des zunächst bekanntlich nur als Provisorium angelegten Teilstaates herausarbeitet.

Den dritten Platz teilen sich zwei Bücher, Carola Dietzes Biografie Helmuth Plessners unter dem Titel „Nachgeholtes Leben“ und Detlef Siegfrieds „Time is on my side“, eine Untersuchung der westdeutschen Jugendkultur. Auch der Philosoph und Soziologe Hemuth Plessner gehörte zu jenen liberalen Intellektuellen, die sich ähnlich wie die „Münsteraner“ Gedanken um die Bewältigung der Moderne machten, ohne dabei dem Mainstream kulturkritischer Ressentiments einerseits oder utopischer Zukunftsentwürfe anderseits zu folgen. Freilich bildete Plessner als interdisziplinär denkender Grenzgänger zwischen Soziologie und Philosophie keine Schule und schien lange fast vergessen. Der Ansatz von Carola Dietzes Buch, das auf ihrer bereits mit dem Hedwig-Hintze-Preis des Verbandes der Historiker und Historikerinnen Deutschlands ausgezeichneten Dissertation beruht, ist demzufolge auch weniger auf seine Wirkungsgeschichte gerichtet. Im Genre der klassischen Biografie bezieht die Autorin dessen Denken vor allem auf die Emigrations- und Remigrationserfahrungen des „Halbjuden“ Plessner, der Deutschland 1933 verlassen hatte und 1950 einem Ruf auf den Lehrstuhl für Soziologie in Göttingen folgte. Die Darstellung verbindet so eine moderne, kritisch-reflexive Biographieforschung mit Aspekten der vielfach gebrochenen Ideen- und Wissenschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts.

Die westdeutsche Jugendkultur der 1960er-Jahre ist bisher zumeist im Hinblick auf den Fluchtpunkt „1968“ als Politisierungsprozess und Generationskonflikt gedeutet worden. Dem widerspricht Detlef Siegfrieds materialreiche, in Hamburg als Habilitation eingereichte Studie „Time is on my side“ nicht grundsätzlich, aber sie setzt durch ihre breite sozial- und kulturgeschichtliche Perspektive doch einen spürbar anderen Akzent. Denn anders als nicht nur die zeitgenössischen Deutungen annahmen, werden Konsumorientierung und Politisierung hier nicht als Gegensätze, sondern als aufeinander aufbauende, „positiv miteinander verkoppelt[e]“ (S. 18) Prozesse interpretiert. Die Partizipation von Jugendlichen am Massenkonsum und die Entstehung der Popkultur seit Ende der 1950er-Jahre bildete demnach die Voraussetzung für einen tiefgreifenden Wertewandel, der 1967/68 nicht am Anfang stand, sondern gewissermaßen „nachholend“ politisch kulminierte.

Andreas Wirschings „Abschied vom Provisorium“ behandelt die zentralen Entwicklungen und Tendenzen in Politik, Gesellschaft und Kultur vom Antritt der Regierung Kohl 1982 bis zur Wiedervereinigung 1990. Als sechster Band der „Geschichte der Bundesrepublik Deutschland“, deren erste Bände 1981-1987 erschienen sind, schließt er dieses seinerzeit noch von einer anderen Historikergeneration vor dem epochalen Einschnitt von 1989/90 begonnene Vorhaben einer Gesamtdarstellung der Geschichte der Bundesrepublik nunmehr ab. Wirsching widersteht dabei der naheliegenden Versuchung, die Geschichte bis 1990 als „Erfolgsgeschichte“ mit der Wiedervereinigung als Höhepunkt zu erzählen. Vielmehr sieht er die 1980er-Jahre in der Kontinuität des vorhergehenden Jahrzehnts, mithin als Inkubationsphase gegenwärtiger Probleme wie der Überlastung der Sozialsysteme und der ungünstigen demographischen Entwicklung. Das wirft zwar die Frage nach Versäumnissen der damaligen Politik auf, doch greift diese, folgt man dem Autor, letztlich zu kurz. Denn die zentralen sozio-kulturellen Wandlungsprozesse vollzogen sich jenseits der Steuerungsmöglichkeiten von Politik, deren Interventionsmöglichkeiten durch die zunehmende Komplexität der politisch-gesellschaftlichen Machtverteilung ohnehin begrenzt blieben. Wirsching betont – etwa für den zentralen Bereich der Sozialpolitik – das hohe Maß an Pfadabhängigkeit und kommt damit zu ganz ähnlichen Einschätzungen wie Gerhard A. Ritter.

Das letzte hier hervorzuhebende Buch trägt den Titel „Konsens und Krise“. Christina von Hodenberg liefert darin einen Einblick in die westdeutsche Medienöffentlichkeit zwischen der Besatzungszeit und den frühen 1970er-Jahren – ein Gegenstand, der bisher nur sehr punktuell ausgeleuchtet war. Ähnlich wie bei Siegfried wird auch hier ein längerfristiger Wandlungsprozess herausgearbeitet, in diesem Falle vom „Konsensjournalismus“ der 1950er-Jahre zum „zeitkritischen“ Paradigma und einer stark polarisierten Medienlandschaft der 1960er- und 1970er-Jahre. Spektakuläre Ereignisse wie die „Spiegel-Affäre“ und die Studentenunruhen sind dafür zwar symptomatisch aber keineswegs ursächlich. Anders als bei Siegfried wird in der Freiburger Habilitationsschrift für diese Entwicklung nicht eine systemimmanente Modernisierung als ursächlich angesehen, sondern sie wird primär als Liberalisierungsprozess gedeutet, der an die Generationenfolge gekoppelt war. Eine Schlüsselrolle kam demnach den so genannten „45ern“ unter den Journalisten zu, die, aufgrund ihrer tiefen Prägung durch Krieg und Zusammenbruch, Restaurationstendenzen und staatlicher Machtkonzentration stets skeptisch gegenüberstanden. Zumindest zeitweise sei es dabei zu Allianzen zwischen der „45er“- und der „68er“-Generation gekommen.

Abschließend sollen einige, vielleicht subjektive Eindrücke skizziert werden. Vor allem sticht ins Auge, dass – sieht man von Ritters Studie zur Wiedervereinigung ab – die Arbeiten ausschließlich den westdeutschen Teilstaat behandeln. Die Diskussionen über eine „integrierte deutsche Nachkriegsgeschichte“, wie sie im letzten Herbst auf einer unter anderem vom Institut für Zeitgeschichte veranstalteten Tagung diskutiert wurden, tragen offenbar noch in hohem Maße programmatischen Charakter.1 Ähnliches ließe sich für die Auswahl, wenngleich mit Einschränkungen, im Hinblick auf vieldiskutierte Konzepte wie „Transnationalität“, vergleichende Ansätze und eine stärker diachrone Perspektive sagen.

Zweitens fällt auf, dass die Arbeiten, die die frühe Zeit der Bundesrepublik behandeln, ihre Geschichte mit jeweils unterschiedlichen Akzenten als erfolgreiche Liberalisierungs-, Demokratisierungs- und Modernisierungsgeschichte deuten, während diejenigen, die die 1980er- und 1990er-Jahre beschreiben, eher Schwierigkeiten und problematische Tendenzen wie z.B. die Überforderung des Sozialstaates und der Politik insgesamt betonen. Offenbar unterscheiden sich nicht zuletzt die Bezugspunkte: Von 1945 her betrachtet erscheint die Geschichte der Bundesrepublik nach wie vor als „Erfolgsgeschichte“. Setzt man ihre erfolgreiche Etablierung jedoch voraus, dann fällt es schwerer, die Geschichte des westdeutschen Staates nicht auch unter dem Aspekt aktueller Problemlagen wahrzunehmen.

Drittens relativieren die einschlägigen Studien von Hacke, Siegfried und von Hodenberg die Bedeutung der Zäsur von „1968“. Im Unterschied zur medial geprägten öffentlichen Wahrnehmung mit ihrer Privilegierung des Spektakulären werden dagegen durchweg langfristige, häufig zeitlich vorausgehende und bisweilen subkutane Wandlungsprozesse sowie konkurrierende Einflüsse betont.

Viertens schließlich kann man die Auswahl der Jury als Indiz dafür nehmen, dass methodische Fragen nach den zurückliegenden Aufregungen inzwischen pragmatisch gehandhabt werden: Jedenfalls findet man unter den Preisträgern politikhistorische Zugänge neben sozial- und kulturgeschichtlichen Ansätzen, ebenso die klassische „intellectual history“ und die auf Seiten der Forschung lange gering geschätzte Form der Biografie.

Anmerkung:
1 Vgl. Lindner, Sebastian, Deutsch-deutsche Geschichte auf dem Prüfstand. Gelungene Neuauflage der DDR-Forschertagungen. Deutschlandforscher-Tagung in Suhl, in: Deutschland Archiv 40/1 (2007), S. 140-143.

Von der H-Soz-u-Kult Jury „Das Historische Buch 2007“ wurden in der Kategorie Zeitgeschichte folgende Titel auf die vorderen Rangplätze gewählt:

1. Ritter, Gerhard A.: Der Preis der deutschen Einheit. Die Wiedervereinigung und die Krise des Sozialstaats, München 2006. Rezension von André Steiner, H-Soz-u-Kult, 20.09.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-3-216>.
2. Hacke, Jens: Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik, Göttingen 2006. Rezension von Ulrich Bielefeld, H-Soz-u-Kult, 07.06.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-2-143>.
3. Dietze, Carola: Nachgeholtes Leben. Helmuth Plessner 1892-1985. Eine Biographie, Göttingen 2006. Rezension von Jens Hacke, H-Soz-u-Kult, 15.12.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-4-202>.
3. Siegfried, Detlef: Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre, Göttingen 2006. Rezension von Philipp Gassert, H-Soz-u-Kult, 25.06.2007, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2007-2-183>.
5. Wirsching, Andreas: Abschied vom Provisorium: 1982 - 1990 [Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 6; hrsg. von Karl Dietrich Bracher …], München 2006. Rezension von Reiner Marcowitz, H-Soz-u-Kult, 20.07.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-3-047>.

Die Listen sowie detaillierte Angaben zur Jury und zum Verfahren können Sie auf dem Webserver von H-Soz-u-Kult <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/buchpreis> nachlesen.

Zitation
Buchpreis: Essay Kategorie Zeitgeschichte, In: H-Soz-Kult, 19.07.2007, <www.hsozkult.de/text/id/texte-920>.
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