Die deutsche Besatzung Norwegens 1940-45 spielte in der deutschen Erinnerungs- und Gedenkkultur der Nachkriegszeit eine marginale Rolle, obwohl beinahe 400.000 deutsche Soldaten (sowie Angehörige von SS und SD, der Zivilverwaltung und andere) in Norwegen stationiert waren. Erst durch die Berichterstattung über die Kinder von Norwegerinnen und deutschen Soldaten und das damit verbundene Interesse an der "Lebensborn"-Organisation rückte in den 1990er Jahren diese Besatzung ins Licht der öffentlichen Aufmerksamkeit. In Norwegen hingegen stellt die deutsche Besatzung einen zentralen Bezugspunkt der nationalen Gedenkkultur dar. Die Volkskundlerin Anne Eriksen betrachtet die um den Widerstand gegen die Besatzungsherrschaft zentrierte Geschichtsversion, wie sie in den Schulen und durch Symbole und Rituale des offiziellen Gedenkens vermittelt wird, sogar als "Gründungsmythos" des modernen Norwegen.1 Das damit verbundene Selbstbild, wonach das norwegische Volk die Besatzungspolitik geschlossen abgelehnt und boykottiert habe, stellte auf jeden Fall einen wichtigen Faktor der wohlfahrtstaatlichen Nachkriegsordnung dar.
Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Ausgangsbedingungen kamen auf Einladung des "Senter for studier av Holocaust og livsynsminoriteters stilling i Norge", des "Institutt for Kulturstudier" der Universität Oslo und von Aktion Sühnezeichen/Friedensdienste etwa 20 norwegische und deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und ca. 60 ZuhörerInnen am 6. und 7. November in Oslo zusammen. Es sollte zum einen um eine Bestandsaufnahme gehen, wie der Umgang mit Nationalsozialismus und 2. Weltkrieg bzw. Besatzungszeit in beiden Ländern nach 1945 ausgesehen hat, welche Versionen nationaler Überlieferung sich durchgesetzt haben und welche Rolle dabei pädagogische, innerfamiliäre und mediale Formen der Vermittlung gespielt haben. Aufmerksamkeit wurde aber auch den geschichtspolitischen Debatten und Auseinandersetzungen in beiden Ländern gewidmet. Gerade im Hinblick auf die Vermittlung ging es schließlich darum, mit welchen "Zielen" die Beschäftigung mit diesem historischen Abschnitt in beiden Ländern verbunden ist und welche Formen der Beschäftigung sich dabei als sinnvoll oder aber als kritikwürdig erwiesen haben. Nicht zuletzt ging es um die aktuelle Bedeutung eines derartigen binationalen Dialogs und um die Frage, ob sich die Erinnerung nicht allmählich aus dem nationalen Rahmen herauslöse und beispielsweise in eine "europäische" Gedenkkultur einmünde.
Die beiden einleitenden Vorträge von Knut Aukrust (Oslo)2 und Klaus Naumann (Hamburg) verdeutlichten einige grundlegende Problemstellungen, welche den Umgang mit Nationalsozialismus und Besatzung in beiden Ländern prägen. Aukrust warf in seinem Beitrag mit dem Titel "Die Ethik der Erinnerung" am Beispiel der biblischen Geschichte vom heiligen Samariter die Problematik der Festschreibung auf Positionen der Zugehörigkeit und der Fremdheit auf, die in Selbstgefälligkeit und Fehleinschätzung der "Anderen" münden können. Die Konstruktion einer nationalen Erinnerungsgemeinschaft im Norwegen der Nachkriegszeit definierte sich, so Aukrust, durch die Zugehörigkeit zur "richtigen" Seite, der Seite des Widerstandes, und bedeutete den Ausschluss derjenigen, die auf der "falschen" Seite der vermeintlichen oder tatsächlichen Kollaborateure gestanden hatten. Damit schrieb die norwegische Gesellschaft im Namen patriotischer und demokratischer Werte einen Teil ihrer Mitglieder in einer ethisch nicht haltbaren Weise auf die Position der ausgeschlossenen "Anderen" fest.
Naumanns Vortrag nahm seinen Ausgangspunkt darin, dass es im deutschen Kontext unmöglich war und ist, eine ähnlich harmonisierte und geschlossene "Erinnerungsgemeinschaft" zu konstruieren. Wie auch immer die Versuche ausgesehen haben, die Verbrechen der NS-Zeit aufzuarbeiten, zu bewältigen oder Schlussstriche zu ziehen, es blieben stets Ambivalenzen und Spannungen wirksam. Immer wieder mussten bis dahin unberücksichtigte Aspekte der NS-Verbrechen und ihrer gesellschaftlichen Bedingungen zur Kenntnis genommen werden. Naumann schlug vor, diese grundlegende Ambivalenz, die das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Geschichte kennzeichnet, nicht als ein zu überwindendes Defizit (an positiven nationalen, Werte stiftenden Identifikationsmöglichkeiten) wahrzunehmen, sondern als ständigen Anlass zur Debatte und Auseinandersetzung. Und eben dies wirkt jenen Schließungs- und Exklusionsmechanismen entgegen, um die es auch in Aukrusts Vortrag ging. Hiermit waren die wesentlichen Fragen aufgeworfen, die sich durch die gesamte Konferenz hindurch zogen. An diesen Fragen entlang sollen die Beiträge der Konferenz kurz skizziert werden:
In welcher Weise wurde NS- bzw. Besatzungsgeschichte in Deutschland und Norwegen zum Gegenstand einer offiziellen "nationalen" Aufarbeitung und Erinnerung?
Oliver von Wrochem lieferte in seinem Vortrag einen Überblick über die Prozesse gegen Angehörige von Wehrmacht und anderen Besatzungsorganen wie der Gestapo, bei denen es um in Norwegen begangene Kriegsverbrechen ging. Er arbeitete zum einen heraus, dass es entgegen des Bildes, die norwegische Besatzungsherrschaft sei eine der "milderen" gewesen, sehr wohl dokumentierte Verbrechen gegeben hat, und zum anderen, dass dieser Tatsache in der deutschen Öffentlichkeit kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Der Mythos von den ehrenhaften Besatzungstruppen, insbesondere der "sauberen Wehrmacht" blieb hier offenbar sehr wirkungsmächtig.
Berit Reisel betonte in ihrem Kommentar, dass die Deutschen bei der Aufarbeitung von NS-Verbrechen unausweichlich der Tatsache ins Auge blicken mussten, dass große Teile der deutschen Bevölkerung an den Verbrechen beteiligt waren , während die Kollaborateure in Norwegen als die "Anderen" aus der nationalen (Erinnerungs-)Gemeinschaft ausgegrenzt wurden. Vor diesem Hintergrund zeichnete sie die politische Aufarbeitung der Konfiszierung jüdischen Eigentums im Zuge der Deportation der norwegischen Juden nach. Die Schwierigkeiten, dieses Thema überhaupt auf die politische Agenda zu setzen und eine Entschädigung zu erreichen, zeigten für Reisel, dass die norwegische Gesellschaft nach wie vor nicht bereit ist, den norwegischen Holocaust und die Beteiligung von Norwegern daran als integralen Bestandteil der eigenen Geschichte anzuerkennen.
Wem boten die nationalen Gedenkkulturen Identifikationsmöglichkeiten und welche Ausschlüsse produzierten sie?
Odd-Bjørn Fure (Oslo) zeigte in seinem Vortrag, dass der norwegische Holocaust bislang in der norwegischen Forschung über und Erinnerung an die Besatzungszeit einen sehr geringen Stellenwert eingenommen hat. Insbesondere die Beteiligung von Norwegern am Verfolgungs- und Vernichtungsschicksal der norwegischen Juden sei kein Bestandteil des norwegischen Geschichtsbewusstseins. Fure forderte, über eine gründliche Aufarbeitung des "norwegischen Holocaust" in Norwegen hinaus, die Integration dieses Teils der Geschichte in nationale Selbstbilder. Auch andere, bislang als "nicht erinnerungswürdig" betrachtete Aspekte der Besatzungsgeschichte müssten Teil der nationalen Erinnerungskultur werden, seien es Liebesbeziehungen zwischen Norwegerinnen und deutschen Soldaten, die Verfolgung der Roma, aber auch der freiwillige Einsatz von Norwegern in Wehrmacht und SS. Ein in dieser Weise ausgewogenes nationales Selbstverständnis könne die Grundlage für liberale und tolerante Haltungen in der Gegenwart darstellen.
In seinem Kommentar zu Fure vertrat Hanno Loewy (Frankfurt) eine weniger optimistische Sichtweise im Hinblick auf die Bedeutung und Funktion, die die Aufarbeitung des Holocaust im deutschen Kontext einnehmen. Loewy betonte die Gefahr, dass sich die deutsche Gesellschaft der Herausforderung, das bleibend Unversöhnliche des Holocaust anzuerkennen, gerade durch ein solch "monumentales" Gedenken, wie es das zentrale Holocaust-Denkmal in Berlin repräsentiert, zu entledigen versucht. Schlimmer noch, solche Formen des Gedenkens könnten zu einer nationalen Identitätsstiftung beitragen, an deren Ende das deutsche Volk mit sich selbst versöhnt werde, während die Juden und die Geschichte des Holocaust das ausgeschlossene "Andere" blieben.
Eine Gruppe, die in der norwegischen Nachkriegsgesellschaft eine stigmatisierte und sozial degradierte Position einnahm, waren die Frauen, die während des Krieges sexuelle bzw. Liebesbeziehungen zu deutschen Soldaten hatten, sowie ihre Kinder. Kjersti Ericsson (Oslo) beschrieb in ihrem Vortrag die Mechanismen dieser Ausgrenzung und ihre Folgen. Es entstanden, so Ericsson, Kulturen der Scham und des Schweigens , die nicht nur familiäre Kommunikation zerstörten, sondern auch soziale Teilhabemöglichkeiten reduzierten.
Regina Mühlhäuser verglich in ihrem Kommentar die Haltung der Besatzungsmacht gegenüber den als "arisch" betrachteten norwegischen Besatzungskindern mit der Haltung gegenüber denjenigen, die deutsche Soldaten mit Frauen in den besetzten osteuropäischen Ländern hatten. Hieran wurde deutlich, dass gerade die Befürwortung deutsch-norwegischer Kinder vor dem Hintergrund des nachträglichen Selbstbildes der kollektiven norwegischen Widerstandshaltung bis heute eine Provokation für die norwegische Gesellschaft darstellt.
Wie konnten sich individuelle/familiäre Geschichten zu der harmonisierenden Erzählung (Norwegen) bzw. zu konfligierenden Erzählungen (Deutschland) ins Verhältnis setzen?
Harald Welzer (Essen) beschrieb die Diskrepanz, die zwischen dem Wissen der meisten Deutschen über NS-Verbrechen und dem Bild besteht, dass sie von ihren Verwandten der Zeitzeugengeneration haben. Der Kenntnis der weitreichenden Verstrickung der deutschen Bevölkerung in die NS-Herrschaft zum Trotz, erzählen die meisten Enkel Geschichten von distanzierten Haltungen und widerständigem Verhalten. "Nazis, das waren andere" würde die Logik dieser familiären Tradierung lauten, die jeder rein Wissens-zentrierten Geschichtsvermittlung trotzt. Dies wirft die Frage nach Vermittlungsformen auf, die diese Dynamik aufgreifen können, z.B. in dem sie nach Handlungsspielräumen der Großeltern fragen.
Claudia Lenz (Hamburg/Oslo) stellte anhand einer in Arbeit befindlichen norwegischen Studie zur familiären Tradierung von Erinnerungen an die Besatzungszeit heraus, dass die oben angesprochene Ambivalenz auch hier erkennbar ist. Familiäre Erinnerungen sind deutlich an der nationalen "Basiserzählung" der widerständigen Nation ausgerichtet und die Geschichten handeln von "guten Patrioten". Doch werden diese Erzählungen von gegenläufigen Erinnerungen durchkreuzt. Hierzu gehören die bewundernden Beschreibung deutscher Soldaten, die sozusagen das Komplementär des von v. Wrochem beschriebenen Wehrmachtsmythos darstellen.
In welcher Weise wurde Vergangenheit zur Grundlage pädagogischer Vermittlung und der gesellschaftlichen Verhandlung kollektiver Wertegrundlagen?
Christian Staffa (Berlin) stellte ein pädagogisches Konzept vor, das gerade familiäre Weitergabe von Erinnerung ins Zentrum der Vermittlung stellt. Es geht dabei gerade nicht um die Schaffung von Vorbildern und Identifikationsmöglichkeiten, sondern um eine reflektierende und kritische Annährung (auch an die eigene Familienbiografie), die immer auch den Dialog mit der Gegenwart umfasst. Die Integration der familialen Überlieferung in die Vermittlungen über den Nationalsozialismus könnte möglicherweise den Bruch zwischen kritischer Wissensvermittlung und damit unverbundener unkritischer familiärer Überlieferungsstrukturen überbrücken helfen.
Hanno Loewys Analyse filmischer Narrationsweisen des Holocaust und der damit verbundenen Identitfikationsangebote verweisen darauf, dass das Medium Spielfilm historische Ereignisse immer im Lichte aktueller Identifikationsbedürfnisse wiedergibt. Loewy vollzieht eine Dekonstruktion harmonisierender Darstellungsweisen des Holocaust. Möglicherweise liegt hier ein Potential für die Geschichtsvermittlung.
Leiv Sem (Faldstad) und Kyrre Kverndokk (Norrköping) stellten zwei norwegische Beispiele für Vermittlung von Besatzungsgeschichte vor. Sem berichtete über die Gedenkstätte des ehemaligen KZ Faldstad und stellte dabei zum einen die Archäologie des Gedenkortes in den Vordergrund - vor und nach dem Krieg war das Areal eine Erziehungsanstalt gewesen, in der schwere Kindesmisshandlungen stattgefunden hatten. Die Gedenkstätte ist nun mit der Aufgabe konfrontiert, auch diejenigen Schichten der Vergangenheit in die Gestaltung von Museum und Vermittlungsarbeit einzubeziehen, die dem positiven Bild von Besatzung und Widerstand entgegenstehen.
Kverndokk untersuchte anhand des Projektes "Weiße Busse nach Auschwitz", mit dem viele norwegische SchülerInnen Reisen zu ehemaligen Konzentrationslagern unternehmen, das Gegenteil solch mythenkritischer Geschichtsvermittlung. Er betrachtet die Reisen als Form von "nationalen Initiationsriten". Zwar sollen hier die Grundlagen für Demokratie- und Menschenrechtserziehung gelegt werden, doch besteht durch den damit verbundenen entkontextualisierten Umgang mit den historischen Orten und Ereignissen die Gefahr, dass statt kritischer Meinungsbildung Mythenbildung betrieben wird.
Schließlich wurde die "Aktualität" beleuchtet, die dieser Teil der Vergangenheit in beiden Ländern und in den binationalen Beziehungen besitzt. Kristina Skaden (Oslo) konstatierte, dass die Besatzungsgeschichte und damit verbundene wechselseitige Bilder nach wie vor einen "Subtext" darstellen, der zu Kommunikationsbarrieren in den deutsch-norwegischen Handelsbeziehungen führen kann.
Werner Konitzer (Hamburg) verfolgte in seinem Vortrag die Spur des Begriffs der "Schande", die in Martin Walsers Position zum deutschen Umgang mit der NS-Vergangenheit eine prominente Rolle spielt, bis an die Wurzeln nationalsozialistischer Ideologie zurück und zeigte damit, dass die Aktualität des NS-Erbes zuweilen auch auf der Ebene des Sprachgebrauchs erkennbar wird.
Tore Nedrebø (Oslo) schlug eine andere Art der "Erzählung" vor, indem er sich auf die lange Tradition deutsch-norwegischer Beziehungen bezog, in die es die Erfahrung der Besatzungszeit zu integrieren gelte. Diese Geschichte wäre in einer Zusammenarbeit im europäischen Kontext in angemessener Weise aufgehoben.
Die Frage nach einer europäischen Perspektive auf die Erfahrungen des Nationalsozialismus und der Besatzung spielte dann bei der Abschlussdiskussion, an der neben Nedrebø, Staffa und Reisel noch Einhart Lorenz (Oslo), Angelika Ridder (Olso) und Horst Winkelmann (Oslo) teilnahmen, eine zentrale Rolle. Einig waren sich die Teilnehmer dieser Runde darin, dass die Beschäftigung mit der Geschichte von Nationalsozialismus und Besatzungszeit offenbar nach wie vor aktuell ist und keinesfalls von einem Schlussstrich die Rede sein könnte. Eine ganze Reihe daran anschließender Fragen sind durch die Konferenz jedoch aufgeworfen bzw. sichtbar geworden: Besteht das vordringliche Ziel einer solchen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit darin, die jeweiligen nationalen Geschichtsbilder zu erweitern oder zu korrigieren (also nationaler Selbst-Verständigung), in einer binationalen Verständigung oder aber in der Überschreitung des nationalen Rahmens von Gedenkkultur in Richtung einer europäischen Erinnerungskultur. Wie können schließlich Formen der Vermittlung aussehen, die anstelle von nationaler Mythenbildung und "politisch korrekter" Allgemeinplätze tatsächlich zivilgesellschaftliche und demokratische Haltungen vermitteln?3
Anmerkungen:
1 Anne Eriksen: Det var noe annet under krigen. Oslo 1995
2 Hier werden nur die Namen der Vortragenden genannt, weitere bio-/bibliografische Informationen sowie die Abstracts der Vorträge stehen unter www.asf-venner.org (link "arrangementer)
3 Eine Publikation der Tagungsbeiträge ist geplant