Hochschulen und politische Systemwechsel – Vergleich 1933 und 1945

Hochschulen und politische Systemwechsel – Vergleich 1933 und 1945

Organisatoren
Forschungsschwerpunkt Zeitgeschichte, Institut für Geschichte der Medizin im Zentrum für Human- und Geisteswissenschaften der Charité – Universitätsmedizin Berlin, Sabine Schleiermacher, Andreas Malycha, Udo Schagen, Johannes Vossen
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.06.2006 - 17.06.2006
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Von
Annette Hinz-Wessels, Institut für Geschichte der Medizin, Berlin

Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Wandlungsprozesse, denen die deutschen Universitäten nach der nationalsozialistischen Machtergreifung unterworfen waren, setzte in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts systematisch und auf breiter Quellenbasis ein. Sie wird nicht zuletzt von den an einzelnen Hochschulen eingerichteten Arbeitsgruppen von Historikern und Wissenschaftshistorikern vorangetrieben, die sich das Ziel gesetzt haben, die politischen, personellen und wissenschaftlichen Änderungen unter dem NS-Regime ohne institutionelle Befangenheit in den Blick zu nehmen. Die Forschungsergebnisse dieser Arbeitsgruppen haben in zahlreichen Publikationen zur Einbindung einzelner Fachbereiche und Fakultäten sowie deren Protagonisten in das NS-System und seine Verfolgungs- und Vernichtungspolitik ihren Niederschlag gefunden. Im Vergleich hierzu sind die Auswirkungen des politischen Umbruchs nach 1945 auf ost- und westdeutsche Hochschulen erst wenig untersucht. Noch seltener findet man Studien, die sich mit dem längerfristigen Strukturwandel und Umbildungsprozess an den deutschen Hochschulen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts befassen oder nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden in der Hochschulpolitik der verschiedenen politischen Systeme fragen.

Die Perspektive des Vergleichs als eine bisher kaum genutzte Möglichkeit, sich dem wechselhaften Verhältnis von Hochschule und Politik zu nähern, stand jetzt im Mittelpunkt einer vom 15. bis 17. Juni 2006 am Institut für Geschichte der Medizin in Berlin durchgeführten Tagung, die von Sabine Schleiermacher, Andreas Malycha, Udo Schagen und Johannes Vossen veranstaltet wurde. Entsprechend dem Tagungsthema „Hochschulen und politische Systemwechsel – Vergleich 1933 und 1945“ diente das Treffen der meist jüngeren Wissenschaftler in erster Linie dem Ziel, durch Zusammentragen von lokalen Forschungsergebnissen das Wechselverhältnis zwischen politischen Vorgaben und universitären Interessen sowie die Verhaltensweisen der verschiedenen Akteure unter den jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den Umbruchphasen nach 1933 und nach 1945 gemeinsam zu diskutieren. Dies schloss ausdrücklich auch einen Vergleich mit den Auswirkungen politischer Umbrüche auf die Entwicklungen an Hochschulen anderer Staaten ein, bietet sich doch gerade hier eine weitere, leider viel zu wenig genutzte Möglichkeit zur Identifizierung spezifischer und zeittypischer Prozesse. Im Verlauf der Tagung sollte sich insbesondere die Gegenüberstellung der unterschiedlichen Entwicklungen an deutschen und japanischen Hochschulen als ergiebig erweisen.

Einleitend analysierten die Mitorganisatoren Johannes Vossen und Andreas Malycha auf der Basis ihrer Forschungsergebnisse im Rahmen des laufenden DFG-Forschungsprojektes „Wissenschaftlicher Anspruch und staatliches Interesse. Die Hochschulmedizin an der Charité im Wechsel staatlicher Systeme 1933 und 1945“ in zwei Überblicksreferaten die Grundzüge der Hochschulpolitik nach 1933 und nach 1945, wobei sie sich vor allem auf die Akteure und die Umsetzung ihrer Zielvorstellungen konzentrierten. Johannes Vossen machte deutlich, dass die NS-Wissenschaftspolitik mangels einer ausgearbeiteten Programmatik für den Hochschulbereich zunächst im wesentlichen Personalpolitik war: Durch das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums wurden politisch missliebige und „nichtarische“ Dozenten sofort größtenteils entlassen, was die Karrierechancen für die nachrückende Wissenschaftlergeneration fühlbar erhöhte. Mit der Reichshabilitationsordnung schuf das NS-Regime sich dann ein weiteres, tief in die Institution Hochschule eingreifendes Steuerungsmittel zum Neuaufbau des Lehrkörpers im nationalsozialistischen Sinne. Der Erfolg dieser Maßnahme bleibt jedoch zwiespältig: Erste Ergebnisse des Forschungsprojektes über die Entwicklung an der Charité zeigen vielmehr, dass „diese Umgestaltung des Habilitationsverfahrens [...] im Regelfall wissenschaftsintern nicht zu einer stärkeren Gewichtung politisch-ideologischer Faktoren geführt“ hat. Auch die Einführung einer Führerverfassung, der NS-Dozentenschaften sowie die Schaffung des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung erwiesen sich angesichts der polykratischen Machtverhältnisse nur als begrenzt erfolgreich.
Andreas Malycha wies vor allem auf die grundsätzlich unterschiedlichen Absichten hin, die in der Hochschulpolitik nach 1945 auf sowjetischer und westalliierter Seite bestanden. So setzten die sowjetischen und neuerrichteten ostdeutschen Hochschulverwaltungen frühzeitig Mechanismen in Gang, um die Universitäten zu Stützen des neuen gesellschaftlichen Systems zu entwickeln. Obwohl diese Umgestaltung zielstrebig vorangetrieben wurde, dauerte sie aufgrund von historischen Kontinuitäten, der Beharrungskräfte des historisch gewachsenen Milieus der Ordinarienfakultäten und des notgedrungenen Pragmatismus länger und verlief widersprüchlicher, als von der SED suggeriert. Erst nach der radikalen Hochschulreform von 1951 unterlagen die ostdeutschen Hochschulen dem tiefgreifenden, politisch gesteuerten Umgestaltungsprozess.
Noch weitaus stärker als in der SBZ war der Wiederaufbau der Hochschulen in den westlichen Besatzungszonen vom Beharrungswillen der alten Professorenschaft geprägt. Die von Briten und Amerikanern entwickelten Reformvorstellungen, die auf einen Abbau der Ordinarienprivilegien, stärkere staatliche Kontrollrechte, eine Demokratisierung der akademischen Selbstverwaltung und eine Öffnung des Hochschulzugangs zielten, wurden in der Praxis nie relevant, nachdem die Kulturhoheit 1947 an die Länderregierungen übergegangen war. Lediglich in der französischen Zone konnte mit der Gründung der Universität Mainz sowie der Verwaltungsakademie Speyer in Teilbereichen ein neues Hochschulsystem durchgesetzt werden.
Die Sicht von außen auf die Verhältnisse an den deutschen Universitäten nach 1933 und nach 1945 zeigte die Heidelberger Soziologin Ute Gerhardt in ihrem Beitrag über Leben und Werk des US-amerikanischen Soziologen Edward Y. Hartshorne auf. Dieser hatte nicht nur in den 30er Jahren eine noch heute maßgebende Studie über die deutschen Universitäten im Nationalsozialismus verfasst , sondern war ab Sommer 1945 als Hochschuloffizier zuständig für die Wiedereröffnung der Hochschulen in der amerikanischen Besatzungszone. Im Rahmen seiner Tätigkeit war er verantwortlich für die Marburger Hochschulgespräche, in denen eine Neubestimmung von Wissenschaft und Politik nach dem Nationalsozialismus versucht wurde; sein früher Tod im Herbst 1946 dürfte jedoch mit dazu beigetragen haben, dass seine Initiativen für eine Neukonzeption der deutschen Universitäten nur einen begrenzten Einfluss auf die tatsächliche Entwicklung der Hochschulpolitik hatten.

Vier Tagungsbeiträge befassten sich mit den universitären Wandlungsprozessen in Österreich, dem heutigen Tschechien und Japan. Zum Bedauern der Organisatoren hatte man Referenten über die Verhältnisse an den Hochschulen in den faschistischen Staaten Spanien und Italien nicht gewinnen können. Wie wichtig jedoch die internationale Vergleichsperspektive auch in der Frage nach dem Wechselverhältnis von Hochschule und politischem Systemwechsel ist, verdeutlichte der Beitrag von Hans Martin Krämer (Bochum), der die von japanischen Historikern vertretene Einschätzung, in Deutschland habe eine weit gründlichere Vergangenheitsbewältigung stattgefunden als in Japan, im Hinblick auf das Hochschulpersonal kritisch in Frage stellte. Tatsächlich, so Krämer, seien nach 1945 nur sehr wenige Universitätsangehörige von den „Säuberungen“ der Hochschulen durch die alliierte Besatzung betroffen gewesen. Dies sei jedoch kein Beweis für den mangelnden Bestrafungswillen oder für eine große personelle Kontinuität an den Hochschulen. Vielmehr waren schon vor Beginn der Überprüfungen im Mai 1946 sehr viele Dozenten freiwillig zurückgetreten. Daher nahmen die Alliierten zwar augenscheinlich wenig Einfluss auf den Prozess, der personelle Wandel war jedoch wesentlich größer als eine isolierte Betrachtung der Entlassungspolitik vermuten ließe. Es war gerade dieser freiwillige Rücktritt zahlreicher japanischer Hochschullehrer gewesen, der in der anschließenden Diskussion als bemerkenswert gekennzeichnet wurde, insbesondere auch, weil man auf deutscher Seite vergeblich nach entsprechenden Parallelen sucht.
Einen noch geringeren Einfluss als in Japan nahmen die Besatzungsmächte offensichtlich in Österreich auf den personellen und strukturellen Neuanfang, wie Ingrid Arias (Wien) in ihrem Vortrag nachwies. Am Beispiel der Wiener Medizinischen Fakultät schilderte sie die Auswirkungen der in Österreich ergriffenen Entnazifizierungsmaßnahmen, die anders als in Deutschland von Anfang an von heimischen Institutionen selbst durchgeführt wurden. Nach einer kurzen, radikalen Entlassungsphase ging man bereits im August 1945 dazu über, universitäre Sonderkommissionen über den Verbleib ehemaliger NSDAP-Mitglieder entscheiden zu lassen. Aufgrund der zumeist milden Beurteilungen, die der allgemeinen politischen Stimmungslage entsprachen, verharrten bis auf die sogenannten „Illegalen“ die meisten NSDAP-Mitglieder in ihren Ämtern. Das Verbleiben eines Großteils der nationalkonservativen oder nationalsozialistischen Lehrkräfte, die Rückkehr aller wegen ihrer politischen Affinität zum klerikalfaschistischen Ständestaat 1938 entlassenen Professoren und die Besetzung freiwerdender Stellen mit gleichfalls katholisch konservativen Medizinern prägten auf Jahre hinaus das Klima und die Richtung der Wiener Medizinischen Fakultät.
Ähnlich wie in Österreich war es auch in der 1918 neu errichteten Tschechoslowakischen Republik 1938/39 zu einem politischen Systemwechsel gekommen, dessen Folgen Ota Konrád und Petr Svobodný (beide Prag) am Beispiel verschiedener Universitätseinrichtungen in Prag erläuterten. In seinem Referat über die Auswirkungen der Umbruchjahre 1918, 1938/39 und 1945 auf die Philosophische Fakultät der deutschen Universität stellte Ota Konrád fest, dass sich diese nach 1918 aufgrund der geforderten tschechischen Staatsbürgerschaft und der geringen Professorengehälter vor allem auf den eigenen Nachwuchs stützen musste. Inhaltlich reagierten die einzelnen Fakultätsfächer aber ganz unterschiedlich auf die neuen Rahmenbedingungen: Während in der Geschichtswissenschaft eine deutliche Fokussierung auf sudetendeutsche Themen mit starkem Gegenwartsbezug zu verzeichnen war, erlebte das bisherige Orchideenfach Slawistik einen ungekannten Aufschwung als Kulturwissenschaft. Entsprechend ihrer Forschungsausrichtung fielen die personellen Säuberungen in der Geschichtswissenschaft im Unterschied zu anderen Disziplinen nach 1938/39 nur gering aus. Die Universität insgesamt erlebte eine tiefgreifende Umgestaltung zu einer zentralen Einrichtung für die „Erforschung des östlichen Raumes“, deren wissenschaftliches Potenzial vom NS-Regime „zielbewusst für die Vorbereitung der Germanisierungspolitik“ im östlichen Europa ausgenutzt wurde.
Petr Svobodný referierte über die tiefgreifenden Umbrüche, mit denen sich die medizinischen Fakultäten der beiden Prager Universitäten und ihre klinischen Einrichtungen ab 1938/39 konfrontiert sahen. Mit dem Studienjahr 1939/40 wurde die deutsche Universität in eine Reichsuniversität umgewandelt, ihre medizinische Fakultät erfuhr durch einen beachtlichen Personalaustausch, die Einführung der Reichsgesetze und neuer Disziplinen radikale Neuerungen. Dagegen litt die tschechische medizinische Fakultät unter der von den deutschen Besatzern beschlossenen Schließung sämtlicher tschechischer Hochschulen am 17. November 1939. Allerdings konnten die Kliniken und einige Institute ihre Tätigkeiten nicht zuletzt aufgrund ihrer Bedeutung für die Gesundheitssicherung teilweise fortsetzen, verboten blieb jedoch der Lehrbetrieb. Erst um die Jahreswende 1942/43 wurden mit der strukturellen Reorganisation des Prager Krankenhaussystems die letzten Überreste tschechischer Universitätsstrukturen beseitigt. Die noch bestehenden tschechischen Kliniken wurden zu Abteilungen zweier neu entstandenen Landeskrankenhäuser degradiert.

Ein Großteil der Referenten wählte einen personellen Zugang für den Vergleich der Phasen nach 1933 und 1945 und befasste sich mit den gebrochenen oder ungebrochenen Karriereverläufen einzelner Forscher oder ganzer Gruppierungen, um die Umbruchsituationen näher zu beleuchten. Dabei stellte sich die personelle Kontinuität, die Anpassungsfähigkeit des Wissenschaftlers an das jeweilige System durchaus als verbindendes Element der verschiedenen Umbruchphasen heraus.
Anna Lux (Leipzig) wies dies anschaulich am Beispiel der Leipziger Germanisten nach, die aufgrund ihres großen Renommees, aber auch der Anschlussfähigkeit ihrer wissenschaftlichen Konzepte mit nur geringfügigen Veränderungen nach 1933 ebenso auf Resonanz stießen wie nach 1945. So betonte der Sprachwissenschaftler Theodor Frings in seinem Konzept der Kulturmorphologie vor allem den Zusammenhang von Sprachentwicklung und der historischen Entwicklung von Kultur und Politik. Indem er dem gesprochenen Wort die entscheidende Rolle bei der Ausbildung der Schriftsprache beimaß, hob er die Bedeutung des Volkes bei der Entwicklung der Schriftsprache hervor. Diese Konzeption stieß sowohl bei den Nationalsozialisten als auch in der DDR – wenngleich mit unterschiedlicher Interpretation – auf Zustimmung.
Auch Jens Thiel (Berlin) befasste sich in seinem Beitrag mit dem ungebrochenen Karriereverlauf zweier Geisteswissenschaftler, dem Altphilologen Werner Hartke und dem Anglisten Martin Lehnert, die ihre im Dritten Reich begonnene akademische Laufbahn nach 1945 sehr erfolgreich in der SBZ/DDR fortsetzen konnten – trotz NSDAP-Zugehörigkeit und weiterer Belastungspunkte. Bedingt durch den akuten Personalmangel sahen sich die ostdeutschen Institutionen einschließlich des SMAD nicht selten gezwungen, den postulierten Antifaschismus zu Gunsten einer pragmatischen Kaderpolitik zurückzunehmen. Die auf eine Einbindung und Reintegration „bürgerlicher“ Wissenschaftler mit NS-Vergangenheit zielende Strategie führte bei Hartke und Lehnert „zur nachträglichen Konstruktion eines oppositionellen Verhaltens oder gar widerständigen Verhaltens im Dritten Reich, der die Karrieren beider nach 1945 zu beschleunigen half“.
Ebenfalls als einen Versuch, Nachkriegslegenden zu konstruieren, wertete Oliver Lemuth (Jena) die Selbstentnazifizierungsinitiativen und behauptete Distanz zum Nationalsozialismus, die Jenaer Naturwissenschaftler nach 1945 mit Hilfe einer selbst erstellten „braunen“ Liste von zwölf exponierten Anhängern des NS-Regimes an den Tag legten. Das Gegenstück bildete eine „weiße Liste“ mit Namen von Hochschullehrern, „bei denen wir“, so der Dekan der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät im Juni 1945, „jederzeit voll und ganz dafür eintreten können, dass sie ebenso wenig wie wir selbst gleichfalls von erzwungenen Äusserlichkeiten abgesehen dem Nationalsozialismus gedient haben und dass sie ihm innerlich ferngestanden haben.“ In seiner Interpretation dieser Weißwaschbemühungen zog Lemuth – nicht unwidersprochen – den Bogen zu Karl Jaspers Diktum, der „Kern der Universität“ habe dem Nationalsozialismus „in der Verborgenheit standgehalten“.

Mit einer quantitativen Analyse der Dozentenentlassungen beantwortete Bernd Grün (Tübingen) die Frage nach dem politischen Faktor in der Personalentwicklung der Universität Tübingen im Systemvergleich. Danach treffen die von dem ehemaligen Tübinger Religionswissenschaftler und überzeugten Nationalsozialisten Herbert Grabert aufgestellten Behauptungen , die Eingriffe der Alliierten in die Autonomie der Wissenschaft, d.h. die politisch motivierten Eingriffe in die Personalstruktur, seien wesentlich erheblicher gewesen als die des NS-Regimes, für die Universität Tübingen durchaus zu. Die Gründe hierfür sind in dem konservativen, provinziellen Charakter der Tübinger Universität zu suchen, die stark protestantisch geprägt war und schon vor 1933 einen extrem geringen Anteil an jüdischen Dozenten aufwies. Nach 1945 waren die Eingriffe in die Personalstruktur daher deutlich stärker, da bei der Entnazifizierung in erster Linie auf die NSDAP-Zugehörigkeit geachtet wurde. Dagegen wertete Grün die politische Beeinflussung der wissenschaftlichen Inhalte nach 1933 als tiefgreifender als nach 1945, als die französische Hochschulpolitik großenteils darauf bedacht war, diese „politischen Beeinflussungen“ wieder zurückzunehmen.
Ein über die Erfassung von Personalbewegungen hinausgehendes Datenbankprojekt über den Lehrkörper der Medizinischen Akademie Düsseldorf stellte Ulrich Koppitz (Düsseldorf) vor. Erste Ergebnisse des laufenden Projektes hätten gezeigt, dass sowohl die „Nazifizierung“ nach 1933 als auch die „Entnazifizierung“ nach 1945 bedingt durch den Zeitaufwand der akademischen Ausbildung erhebliche Schwierigkeiten mit der „Trägheit der Masse“ hatten. So konnte die Gruppe der im Nationalsozialismus Habilitierten ein zahlenmäßiges Übergewicht erst 1941 erreichen, dieses jedoch noch bis 1953 halten, bei den Ordinarien war eine absolute Mehrheit dieser Gruppe sogar bis 1963 zu beobachten. Eine systematische Untersuchung der inhaltlichen Veränderungen in Qualifikationsarbeiten ergab, dass spezifische NS-Fragestellungen in höchstens 30 Prozent (Psychiatrie) der Dissertationen verfolgt wurden. Noch ausstehend ist eine bibliometrische Analyse, die die Publikationsprofile spezifischer Ab- und Zugangsgruppen innerhalb des Lehrkörpers vergleichen will.
Vor dem Hintergrund der schwierigen Situation der Universität Gießen, deren Fortbestand im gesamten Untersuchungszeitraum mehrfach in Frage gestellt war, analysierte Sigrid Oehler-Klein (Gießen) die Entscheidungsprozesse und Durchsetzungsmöglichkeiten von Partikular-, Gruppen- und Kollektivinteressen an der medizinischen Fakultät Gießen in den Umbruchphasen nach 1933 und nach 1945. Am Beispiel der Berufungspolitik machte sie deutlich, dass in allen Phasen die übergeordneten Ziele, der Erhalt und Ausbau „der wissenschaftlichen Reputation, der Fakultätsgröße sowie des Handlungsspielraumes“, Priorität hatten. Nach 1933 war die Fakultätspolitik wesentlich von der Hoffnung bestimmt, sich durch regimekonforme Entscheidungen Vorteile zu verschaffen, doch durften die Maßnahmen nicht den übergeordneten Zielen der Fakultät wiedersprechen. Auch nach 1945 werden Anpassungsbestrebungen deutlich, oberster gemeinsamer Leitgedanke war der Neuaufbau „einer funktionierenden und leistungsbewussten akademischen Institution“.

Die Mehrzahl der Tagungsbeiträge widmete sich im Hinblick auf die geforderte vergleichende Perspektive der Frage des Austauschs von Dozenten und der Einflussnahmen von Partei und Staat auf die Berufungen. Dagegen stellte Ewald Grothe (Wuppertal) am Beispiel der Verfassungsgeschichte stärker den Wandel und Paradigmenwechsel in einer wissenschaftlichen Disziplin in den Vordergrund. Er verwies auf die erfolgreichen Bemühungen der „Kieler Schule“ um Ernst Rudolf Huber, nach 1933 eine „neue“ juristische Verfassungsgeschichte zu etablieren, die die Überwindung der bisher üblichen „Trennung einer ,rein juristischen’ von einer ‚rein geschichtlichen’ Betrachtungsweise“ forderte. Mit dem neuen Fach „Verfassungsgeschichte“ sollte ein zusammenfassendes Geschichtsbild entstehen, „das die Rechtsentwicklung als eine Schöpfung deutschen Lebens in ihrer volklichen Einheit erkennen lässt“. Zwar erhielten viele Verfassungshistoriker erst lange nach 1945 wieder eine Professur, in ihren späteren Forschungen knüpften sie aber weitgehend an frühere Konzepte an. Inhaltlich vollzog sich, so Grothe, „ein vielschichtiger Prozess des Neu-, Um- oder Fortschreibens der deutschen Verfassungsgeschichte, um die überkommenen Geschichtsbilder in die Nachkriegszeit hinüberzuretten oder anschlussfähig umzudeuten“.
Gegen den vorherrschenden Professoren-zentrierten Blick verwies Udo Schagen (Berlin) schließlich auf die Regelung der Zugangsberechtung zur Hochschule, die für den von politischen Systemen häufig gewollten Austausch der Eliten kaum von geringerer Bedeutung sei. In seinem Vergleich der unterschiedlichen Hochschulzulassung stellte Schagen fest, dass sowohl das NS-Regime als auch die SBZ unmittelbar im Anschluss an den politischen Machtwechsel Änderungen bei den Zulassungsbedingungen zur Hochschule vornahmen, die auf einen Wechsel in der Zusammensetzung des akademischen Nachwuchses zielten. In beiden Fällen dienten diese auch der Ausschaltung politischer Gegner. Solche bei rein formaler Betrachtung vorhandenen Parallelitäten lösen sich daher nur bei einem Vergleich der dem jeweiligen politischen Gegner vorgeworfenen Taten auf. Als Beispiele für gravierende Unterschiede nannte Schagen die nach 1933 auch im Hochschulbereich durchgesetzte Einteilung in „höher-“ und „minderwertige“ Menschen und den nationalsozialistischen Versuch, das Frauenstudium zurückzudrängen.

Beim Aufzeigen der Forschungsfragen und -perspektiven durch Sabine Schleiermacher und Rüdiger vom Bruch wurden die schon in den Tagungsdiskussionen angeklungenen Desiderata ausdrücklich benannt. Schleiermacher machte deutlich, dass eine systematische Auswertung der Vielzahl von Einzeluntersuchungen, die insbesondere zum Hochschulpersonal bereits vorliegen, in einer Gesamtschau noch ausstehe. Auch die Differenzierung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften und ein Vergleich zwischen den unterschiedlichen politischen Umbruchphasen in Ost- und Westeuropa, möglicherweise über 1945 hinausgehend, sei bisher nicht erfolgt. Als Ergebnis eigener vergleichender Forschungen über die Hochschulmedizin an der Charité trug sie vor, dass – abgesehen von der rassistischen und politischen Verfolgung während des Nationalsozialismus – die Mitglieder der medizinischen Fakultät „in beiden politischen Systemen, entsprechend eigener wissenschaftlicher und politischer Interessenlage, Karrierebedürfnissen und Statusfragen, ihre Handlungsspielräume nicht nur nutzen, sondern auch erweitern konnten“. Insgesamt ist eine erstaunliche „Persistenz des Systems Hochschule sowohl in struktureller wie personaler Hinsicht“ zu konstatieren, da der mit „robust elitärem Selbstverständnis“ ausgestattete und im „antidemokratisch ständischem Denken“ tief verwurzelte gehobene Lehrkörper Reformbestrebungen und Demokratisierungen des Systems zu verhindern wusste.
Ein noch weiteres Forschungsfeld eröffnete Rüdiger vom Bruch, indem er die grundsätzliche Frage nach der Universität als Zentrum der Wissenschaft aufwarf und vor diesem Hintergrund die Entwicklung von Wissenschaft und Universität seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert und die sich daraus ergebenden Forschungsfragen und -desiderata skizzierte. Angesichts der sich wandelnden Strukturen im Wissenschaftsbereich und der verschiedenen politischen Zäsuren in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts besteht, so vom Bruch, ein Hauptproblem der heutigen Forschung im Mangel an Untersuchungen über politische Systembrüche hinweg, und zwar nicht nur bezogen auf 1933 und 1945, sondern auch auf die Zäsuren von 1914 und 1918/19.
Einen zweiten großen Forschungsbedarf sah vom Bruch bei der Bestimmung des Verhältnisses von Außensteuerung und wissenschaftsinternen Regelsystemen. Als wichtige, weiterführende methodologische Zugriffsmöglichkeiten bezeichnete er Akteur- und Netzwerkkonstellationen, institutionspolitische Gewichtungen, Einzel-, Doppel- und Kollektivbiographen, disziplingeschichtliche Längsschnitte, semantische Umbauten und Untersuchungen von nationalen Innovationskulturen im internationalen Vergleich.

Insgesamt zeigte die Tagung deutlich auf, wie ertragreich die bisher wenig genutzte vergleichende Perspektive für die Universitätsgeschichte ist. Durch das Zusammentragen von Einzelerkenntnissen konnten aufschlussreiche Parallelen zwischen den verschiedenen Umbruchphasen nach 1933 und nach 1945 herausgearbeitet werden. Alles in allem ist eine beträchtliche Beständigkeit der Institution Hochschule über die politischen Systemwechsel hinweg feststellbar, die es notwendig erscheinen lässt, die universitären Wandlungsprozesse längerfristig in den Blick zu nehmen. Die Ergebnisse der Tagung sollen in der von Rüdiger vom Bruch herausgegebenen Schriftenreihe „Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Deutschland im internationalen Zusammenhang im späten 19. und 20. Jahrhundert“ im Franz Steiner Verlag erscheinen.


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