Epistemische Tugenden – zur Geschichte und Gegenwart eines Konzepts

Epistemische Tugenden – zur Geschichte und Gegenwart eines Konzepts

Organisatoren
Zentrum Geschichte des Wissens, ETH / Universität Zürich; Forum für interdisziplinäre Forschung (FiF), TU Darmstadt
Ort
Zürich
Land
Switzerland
Vom - Bis
17.10.2013 - 18.10.2013
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Von
Oliver Nievergelt, Universität Freiburg / ETH Zürich

Epistemische Tugenden wie Geduld, Aufmerksamkeit, Genauigkeit, Skepsis, Wahrhaftigkeit, Neugierde, Strenge oder Zuverlässigkeit haben einen Einfluss darauf, wie und mit welchen Resultaten professionelle Erkenntnisarbeit betrieben wurde und wird. Vor dem Hintergrund dieser Annahme beschäftigten sich Forscherinnen und Forscher der Wissenschaftsgeschichte, historisch orientierten Wissenschaftssoziologie, Philosophie, Philologie und Kunstgeschichte zwei Tage mit der Frage, was die Potenziale und Risiken dieser analytischen Kategorie sind. Können wir mehr über historische und gegenwärtige Wissenspraxis erfahren, wenn wir sie mit dem Begriff der epistemischen Tugend untersuchen? Ist es insbesondere möglich, besser zu verstehen, was ihren normativen, ja gar moralischen Charakter ausmacht?

Mit dem Fokus auf empirisch greifbare Erkenntnisarbeit nahmen die Organisatoren eine Art von Tugendepistemologie auf, die in der Wissenschaftsforschung erst seit kurzem betrieben wird (zum Beispiel durch Karin Knorr Cetina, Hans-Jörg Rheinberger oder Lorraine Daston/Peter Galison). Dabei geht es allgemein um die Rolle von epistemischen Tugenden bei der Herstellung, Darstellung und Verbreitung von Wissen. Von der um einiges älteren philosophischen Tugendepistemologie haben sich die Organisatoren ausdrücklich distanziert. Denn diese setzt epistemische Tugenden in unterschiedlichen funktionalen Bestimmungen meist dazu ein, das klassische Paradigma philosophischer Epistemologie über den Gettier-Schock hinaus zu retten.1

Als Veranstalter eröffnete RUBEN HACKLER (Zürich) die Tagung mit einer Art Minipropädeutikum. Er betonte erstens ganz allgemein, dass ohne epistemische Tugenden kein Wissen zu haben sei. Zweitens würden sie zweifellos die normative Dimension epistemischer Praxis betreffen, seien aber nicht mit Werten oder Normen gleichzusetzen. Denn Werte trage man meist von außen an die Wissenschaft heran, wohingegen man Tugenden in der wissenschaftlichen Praxis implizit erwerbe und ausübe. Gegenüber der philosophischen Tugendepistemologie schien es ihm wichtig hervorzuheben, dass Tugenden je nach Zeit und Ort (Disziplin, Gesellschaftsbereich, Kultur) andere und wandelnde Ausformungen annehmen können. Dieser Umstand beförderte Hacklers Überzeugung, dass sowohl die Aneignung und Ablehnung epistemischer Tugenden als auch die wissenschaftliche Diskussion über sie „hochgradig politisch“ sei – es geht schließlich immer auch um die Frage, welches wissenschaftliche Ethos gelebt werden soll.

Im ersten Beitrag ging JENS KERTSCHER (Dresden) der Frage nach, ob Aristoteles für die Belange der philosophischen Tugendepistemologie eingespannt werden kann. Seine negative Antwort illustrierte Kertscher mit einer Kritik an Linda Zagzebskis Interpretation der aristotelischen Ethik und Seelenlehre. Kertscher zeigte, dass Zagzebski mit einer vorgefertigten Meinung an Aristoteles herangeht, die er praxeologischen Fundamentalismus nannte (wörtliches Verständnis der Auffassung, Denken sei Handeln). Diese verleite sie dazu, die aristotelische Unterscheidung zwischen ethischen und dianoetischen Tugenden klein zu reden, ja gar theoretische Normativität der praktischen unterzuordnen. Kertscher schlug hingegen vor, von einer Formunterscheidung auszugehen: Für Aristoteles seien theoretische und praktische Tugenden bloß zwei Modi der Vernunftbetätigung. Mit dieser nicht fundamentalen Unterscheidung zwischen praktischer und theoretischer Normativität bestätigte er die Abgrenzung von der philosophischen Tugendepistemologie, der er eine Moralisierungstendenz der Epistemologie zu unterstellen schien. Diese moderate Unterscheidung war wohl auch als Angebot zu verstehen, ein antikes und damit weniger subjekt- und moralzentriertes Tugendverständnis2 für die tugendepistemologische Wissenschaftsforschung fruchtbar zu machen.

HILGE LANDWEERs (Berlin) phänomenologische Beobachtungen über Konzentration und Aufmerksamkeit hielten den Finger auf zwei wichtige Unschärfen epistemischer Tugenden: die Art ihrer Habitualisierung und ihre (Un-)Verfügbarkeit. Zunächst machte sie an den beiden Phänomenen deutlich, dass die Aneignung epistemischer Tugenden viel mit leiblich-körperlichen Mechanismen zu tun hat. Die Qualität von Konzentration (meist Fokussierung auf einen Gegenstand) und Aufmerksamkeit (im Sinne von Offenheit gegenüber verschiedenartiger rezeptiver Einflüsse) bestimmt sich nach Landweer über die Perfektion, mit der ein Körper/Leib kontrahiert und expandiert – sie bezog sich dabei auf Hermann Schmitz. Solcherart leibliche Habitualisierung illustrierte sie einleuchtend mit Atem- bzw. Entspannungstechniken: Diese würden Konzentration und Aufmerksamkeit insofern erleichtern, als sie keine Anstrengung mehr darstellen würden. Dadurch würden sie so glatt ablaufen, dass Störungen ohne negative Folgen für Konzentration und Aufmerksamkeit blieben. In Bezug auf die Frage nach der Verfügbarkeit stellte Landweer die Hypothese auf, dass epistemische Tugenden bloß indirekt verfügbar seien. Konzentration könne beispielsweise nur der in Entspannungstechniken Trainierte mehr oder minder gezielt einsetzen. Nach dieser Ansicht würden, wie Landweer durchaus richtig bemerkte, epistemische Tugenden zu einer Art techné, also ausgezeichneten Fertigkeiten einer Person. Dieser Übergang rief Bedenken hervor, da die Tagung zweifellos von der Annahme begleitet wurde, dass die mit epistemischen Tugenden realisierten Güter auch in einem ethischen Sinne normativ seien, epistemische Tugenden also ebenso als ethische wie epistemische Eigenschaften zu verstehen seien. Landweer klärte diese Bedenken teilweise, indem sie anfügte, dass epistemische Tugenden für ihren „vernünftigen Gebrauch“ ethischer Tugenden bedürften. Mit dieser Präzisierung wurde deutlich, dass sie sich wie Kertscher für ein Ineinandergreifen theoretischer und praktischer (ethischer) Tugenden aussprach.

JULIAN BAUER (Konstanz) versuchte in seinem Beitrag über epistemische Laster die moralisch verstandene Negativseite epistemischer Tugenden zu beleuchten. Zur Erfassung der moralischen Dimension wissenschaftlicher Arbeit verwendete Bauer E. P. Thomsons Konzept einer Moralökonomie. Damit würde, so könnte man Bauer zusammenfassen, eine Balance zwischen einem gewachsenen Set von sozialen Normen und Verpflichtungen und einem gegen diese gerichteten affektiven Individualverhalten bezeichnet. Wie Lorrain Daston vor ihm übertrug Bauer dieses von Thomson für die Erfassung der Geschichte der englischen Arbeiterklasse entwickelte Konzept auf die Wissenschaften. Dabei kritisierte er, dass mit Dastons Übertragung gleichzeitig eine internalistische Verkürzung einhergehe. Diese mit dem Nachweis niederer epistemischer Laster wieder zu weiten, war sein Vorhaben. Einer überzeugenden Realisierung dieses Vorhabens standen jedoch zwei Probleme im Weg. 1. Es wurde zu Recht moniert, dass der Internalismusvorwurf an Daston Bauer ebenso treffen würde, da er sich mit den Streitigkeiten zwischen Gelehrten befasse. Die von Bauer vorgebrachten Beispiele konnten nicht von der gegenteiligen Annahme überzeugen. 2. Bauer schien zudem epistemische Tugenden ebenso wie ihr negatives Pendant mit Gefühlen kurzzuschließen. Dieser Eindruck entstand zum Beispiel, als er Dastons Beschäftigung mit den „affektiven Aspekten der Wissenschaft“ in die Nähe ihrer „einseitige[n] Konzentration auf epistemische Tugenden“ rückte oder die „hyperbolische Empfindlichkeit“ Edmund Husserls und Alexius Meinongs als epistemische Laster bezeichnete. Ein solcher Zug könnte durchaus dazu dienen, dem Internalismus Dastons entgegenzuwirken, doch bedürfte er eingehender Klärung angesichts des in der Tagung angelegten Tugendverständnisses.

Äußerst klar bemühte sich TANJA PAULITZ (Aachen) in ihrem Beitrag über die Etablierung der Technikwissenschaften in der Mitte des 19. Jahrhunderts, epistemische Tugenden sichtbar zu machen. Dafür analysierte sie unter anderem Lehrbücher Ferdinand Redtenbachers, einer eminenten Figur in der Anfangsphase der Technikwissenschaften. Im vorgestellten Kontext interessierte sich Paulitz für den Zusammenhang von epistemischer Praxis, Akademisierung und Vergeschlechtlichung. Sie kam dabei zum Schluss, dass epistemische Tugenden Träger einer damals dominanten bürgerlichen Männlichkeitssymbolik waren und somit effektive Mittel im Kampf um wissenschaftspolitische Anerkennung der jungen Technikwissenschaften. Insofern Paulitz mit Bourdieu und Foucault davon ausging, wissenschaftliche Praxis ließe sich am adäquatesten als Feld beschreiben, in dem es vor allem um Macht gehe, ist die gegebene Einschätzung epistemischer Tugenden eine gangbare Option. Das vorgebrachte Material ließe sich jedoch auch als Hinweis auf ein anderes Verständnis von epistemischen Tugenden lesen. Würde man sich zum Beispiel mit Bernard Williams3 darauf einlassen, dass es in der wissenschaftlichen Praxis ebenso um Wissen als intrinsischen, von Machtüberlegungen unabhängigen Wert geht, wäre Redtenbachers Königsweg technikwissenschaftlicher Arbeitsweise, nämlich „Rechnung und Gefühl zu verbinden“, Ausdruck epistemischer Tugenden, welche diesen Wert realisieren würden. Dieser alternative Zugang würde wie bei Paulitz postulieren, epistemische Tugenden im Kontext einer wandelbaren normativen Wissenspraxis zu sehen. Er liefe jedoch nicht Gefahr, der Tendenz zu verfallen, epistemisches Handeln auf moralisches oder machtpolitisches zu reduzieren. Ein ähnliches Interesse könnte das von Kertscher und Landweer vertretene Ineinandergreifen theoretischer und moralischer Tugenden motiviert haben.

Wie Paulitz interessierte sich RUBEN HACKLER (Zürich) in seinem Beitrag über die Naturalisierung bürgerlicher Tugenden in deutschen Richtern für jene als Mittel sozialpolitischer Abgrenzung. Dafür untersuchte er den juristischen Tugenddiskurs zwischen 1870 und 1930, unter anderem in Einträgen der Allgemeinen Deutschen Biographie. Anhand der in den Quellen dominanten richterlichen Verstandesschärfe argumentierte er überzeugend für die aristokratisch-bürgerliche Herkunft des Richterethos: Die hohe Achtung, die im aristokratisch-bürgerlichen Kontext demjenigen entgegengebracht worden sei, der sich im Krieg oder Duell durchgesetzt habe, sei in Form der sich in einer gerichtlichen Hauptverhandlung durchsetzenden Verstandesschärfe gewissermaßen in die Psychophysis des Richters eingegangen. Hackler machte auch deutlich, worin der wissenschaftliche Nutzen dieser aufwändigen Herleitung besteht: Würde Verstandesschärfe in den untersuchten Fällen nur als genuin epistemische Tugend verstanden (das ist die ausgezeichnete Funktion für die Realisierung epistemischer Aspekte richterlicher Praxis), wäre nicht zu erklären, weshalb sie die historischen Akteure für einen Wert an sich gehalten hätten. Hacklers Naturalisierungsthese könnte also so zusammengefasst werden, dass erworbene Eigenschaften (aristokratisch-bürgerliche Tugenden) diskurspolitisch in angeborene Werte der Vertreter einer Berufsgattung (Richter) transformiert wurden.

SANDRO ZANETTI (Zürich) ging in seinem Beitrag davon aus, dass es in weiten wissenschaftlichen Kreisen für eine epistemische Tugend gehalten werde, den Quellen ein Vetorecht zuzusprechen. Doch er gab sich überzeugt, dass diese Verlautbarungen inhaltsleere Bekenntnisse zum „richtigen“ wissenschaftlichen Ethos seien. Er unternahm es dementsprechend diese begriffliche Wendung anhand des einschlägigen Textes von Reinhart Koselleck als Pustekuchen zu demaskieren. Seine Argumentation lässt sich so zusammenfassen, dass es sich beim Vetorecht der Quellen um eine Metapher handelt: Weder kann eine Quelle Träger von Rechten sein, noch kann sie Handeln, sprich ein Veto aussprechen. Man sei, so Zanetti, mit Koselleck auf die interpretative Situation des Erkenntnissubjektes zurückgeworfen, habe mit der begrifflichen Wendung also nichts gewonnen. Sein Gegenvorschlag war Foucaults archäologischer Zugang zu den Monumenten, wo nicht interpretiert, sondern bloß isoliert, gruppiert, passend gemacht, in Beziehung gesetzt und eine Gesamtheit konstituiert werde. Einerseits ist Zanetti zuzustimmen, dass uns die Foucaultschen Archäologieüberlegungen viel mehr über die Bedingungen der Möglichkeit von Quellen sagen als ein sogenanntes Vetorecht der Quellen. Andererseits droht der archäologischen Haltung derselbe Verdacht, inhaltsleere Bekenntnisformel zu sein, wenn mit ihr die Hoffnung verbunden wird, interpretierende Subjekte oder sinngebende Theorien loszuwerden. Denn ohne diese lässt sich weder konkretisieren, was es bedeuten soll, Vetoquellen zum Sprechen zu bringen – wie Zanetti gezeigt hat –, noch lässt sich ohne sie konkretisieren, wie isoliert, gruppiert, passend gemacht, in Beziehung gesetzt und Gesamtheit konstituiert werden soll.

ERNST-CHRISTIAN STEINECKE (Zürich) fokussierte am Beispiel des Historikers und Staatswissenschaftlers August Ludwig Schlözer (Ende 18. Jahrhundert) äußerst luzide auf die sozialen Realitäten (Gelehrtenhabitus pflegen und praktische Reiseanforderungen meistern), welche die normative wissenschaftliche Erkenntnistätigkeit prägen. Steinecke fasste die verschiedenen normativen Empfehlungen Schlözers für eine gelingende Wissensgenerierung über andere Länder unter dem Begriff Welt(zu)gewandtheit zusammen. Mit der Doppeldeutigkeit seien, so Steinecke, zwei entscheidende Seiten normativer Erkenntnispraxis benannt: 1. Nur durch die Erdung wissenschaftlicher Praxis in (niederen) sozialen Normen könnten epistemische Normen entwickelt werden. 2. Umgekehrt würden epistemische Normen soziale Normen bestärken. Als Steinecke diese Resultate auf die analytische Valenz epistemischer Tugenden übertrug, ließ er keinen Zweifel daran, dass diese begrifflich an der sozialen Dimension wissenschaftlicher Praxis vorbeigriffen, da sie vornehmlich in „Selbstzuschreibungen“ auftauchten. Diese Feststellung trifft sehr wahrscheinlich zu, offenbarte meines Erachtens aber dennoch ein Missverständnis Steineckes. Epistemische Tugenden sind wie alle anderen Tugenden per definitionem sozialer Natur. Menschen bilden Tugenden aus, erhalten sie, perfektionieren sie oder gewöhnen sie sich ab, indem sie von anderen für gewisses Verhalten gelobt, für anderes getadelt werden. Ohne Anerkennungs- und Ablehnungsprozesse ist der Tugendbegriff sinnlos.5 Obschon rarer als normative Selbstbeweihräucherungen, wären Texte, die Anerkennung und Ablehnung repräsentieren, der Ort, wo das Leben epistemischer Tugenden empirisch zu beschreiben wäre.

Einer speziellen Form wissenschaftlicher Ablehnung nahm sich MARTIN DOLL (Luxembourg) in seinem Beitrag über eine Spottfälschung an. 1726 fiel der Botaniker und Anatome Johann Bartholomäus Adam Beringer auf gefälschte Fossilien herein, die er in der Lithographiae Wirceburgensis beschrieb. Doll ging es darum, über Untugenden indirekt zu erfassen, was zu dieser Zeit als moralisch gute Darstellung wissenschaftlicher Resultate galt. Es sei das Ziel der Betrüger gewesen, Beringers Hochmut und seine damals noch unübliche induktive Methode zu desavouieren. Den ersten Vorwurf führte Doll auf epistemische Tugenden wie „Mäßigung, Demut und Selbstlosigkeit“ zurück, die er überzeugend mit der Konjunktur pietistisch imprägnierter Gelehrtenkritiken in Verbindung brachte. Den zweiten Vorwurf, den er als Spekulation bezeichnete, alimentierte er mit durchaus einleuchtenden Überlegungen zum universitären, akademischen und naturphilosophischen normativen Milieu der Zeit. Dolls Beitrag verdeutlichte zudem ein wichtiges Charakteristikum epistemischer Tugenden, nämlich ihre Gradualität: Wissenschaftliche Resultate rhetorisch gekonnt vermitteln ist beispielsweise genau dann eine epistemische Tugend, wenn man die Mitte zwischen Unverständlichkeit und Marktschreierei trifft.

Die zweitägige Zürcher Tagung nahm sich vor, die normative Dimension wissenschaftlicher Praxis mittels epistemischer Tugenden besser zu verstehen. Unabhängig davon, ob die Beiträgerinnen und Beiträger dieser Annahme viel oder wenig Kredit entgegenbrachten, warfen sie insgesamt die Frage auf, wie hier Normativität zu verstehen sei. Einerseits legten die Veranstalter die Auffassung nahe, mit epistemischen Tugenden ließen sich vornehmlich moralische Aspekte wissenschaftlicher Normativität erfassen – dieser Tendenz schienen sich Bauer und explizit Doll anzuschliessen. Andererseits gab es Stimmen (Kertscher, Landweer, Nievergelt), welche die Überzeugung äußerten, dass mit epistemischen Tugenden (nach antikem Muster oder phänomenologisch) gerade der Doppelcharakter wissenschaftlicher Normativität besser begriffen werden könnte, nämlich theoretisch und praktisch zugleich zu sein. Das bedeutet, dass epistemische Tugenden wissenschaftliches Handeln mitbestimmen, das nicht primär moralisch verstanden wird. Drittens gab es skeptische Stimmen (Steinecke, Sarasin in einem Kommentar), welche zwar die moralische Prämisse der Veranstalter teilten, jedoch nicht damit einverstanden waren, dass die Annahme epistemischer Tugenden bei der Erfassung der normativ-moralischen Dimension wissenschaftlicher Praxis weiterhelfen würden. Sie zogen es vor, von Kultur- oder Selbsttechniken zu sprechen.

Insbesondere die letzte Position machte deutlich, wie stark die Wissenschaftsforschung noch im poststrukturalistischen Fahrwasser steckt. Der horror personae, welchen dieses mit sich zieht, ist wohl das größte Hindernis, – mehr oder weniger moralisch verstandene – epistemische Tugenden als analytische Mittel ernst zu nehmen. Denn diese implizieren umgekehrt eine starkes Subjektverständnis.

Konferenzübersicht:

1. Panel
Moderation: Oliver Nievergelt (Fribourg /Zürich)
Jens Kertscher (Dresden), Aristoteles – ein Tugendepistemologe?

Andreas Gelhard (Darmstadt), Behutsamkeit. Kant und das Erbe der Skepsis

2. Panel
Moderation: Michael Geiss (Zürich)

Elke Bippus (Zürich), Mikropraktiken und Technologien des Selbst. Konzeptuelle Überlegungen zu zwei Forschungsprojekten

Kommentar: Brigitta Bernet (Zürich)

3. Panel
Moderation: Lea Bühlmann (Basel)

Hilge Landweer (Berlin), Konzentration und Aufmerksamkeit als leibliche Phänomene

Julian Bauer (Konstanz), Epistemische Tugenden, epistemische Laster. Zur Theorie und Praxis von Moralökonomien in den Wissenschaften seit dem späten 19. Jahrhundert.

Kommentar: Monika Wulz (Konstanz)

4. Panel
Moderation: Sandra Eder (Zürich)

Tanja Paulitz (Aachen), Objektive Distanz oder subjektives Gefühl: Wissenschaftskultur, Geschlecht und die Praxis des Erkennens und Erfindens in den Technikwissenschaften

Ruben Hackler (Zürich), Den Verstand als Waffe gebrauchen: Richterliche Klugheitslehren und die Naturalisierung bürgerlicher Tugenden im juristischen Diskurs

Kommentar: Florian Kappeler (Zürich)

5. Panel
Moderation: Simon Bundi (Zürich)

Sandro Zanetti (Zürich), „Die Quellen haben ein Vetorecht“. Implikationen, Chancen, Probleme eines Topos

Marcel Lepper (Marbach), Philologische Redlichkeit: Tugend und Tugendpolitik.

Kommentar: Philipp Theisohn (Zürich)

6. Panel
Moderation: David Eugster (Zürich)

Ernst-Christian Steinecke (Zürich), Welt(zu)gewandtheit: Über reisende Gelehrte und Geschichte als angewandte Wissenschaft

Martin Doll (Luxembourg), Zwischen Wahrheit und Lüge. Zur ‚Untugend’ des Fälschens in der Wissenschaft

Kommentar: Philipp Sarasin (Zürich)

Anmerkungen:
1 Diese Absicht verfolgen beispielsweise Ernest Sosa, The Raft and the Pyramid. Coherence versus Foundations in the Theory of Knowledge, in: Midwest Studies in Philosophy, Jg. 5, H. 1, S. 3-26; John Greco, Virtues in Epistemology. In: Paul Kenneth Moser (Hg.), The Oxford handbook of epistemology, Oxford 2002, S. 287-315; Linda Zagzebski, Virtues of the mind. An inquiry into the nature of virtue and the ethical foundations of knowledge, Cambridge 1996; oder Jason Baehr, The inquiring mind. On intellectual virtues and virtue epistemology, Oxford 2011. Ausnahmen zu dieser die philosophische Tugendepistemologie dominierenden Tendenz sind hingegen Jonathan Kvanvig, The intellectual virtues and the life of the mind. On the place of the virtues in epistemology, Lanham 1992; oder Miranda Fricker, Epistemic injustice. Power and the ethics of knowing, Oxford 2007.
2 Fruchtbares in diese Richtung bietet Martha Nussbaum, Non-Relative Virtues: An Aristotelian Approach. In: Martha Nussbaum; Amartya Kumar Sen (Hg.), The quality of life, Oxford 1992, S. 242–269, welche sich im Anschluss an Aristoteles mit guten Gründen für ein universalistisches Verständnis von Tugenden stark macht.
3 Vgl. insbesondere das programmatische erste Kapitel von Bernard Williams, Truth & truthfulness. An essay in genealogy, Princeton 2002. Er wendet sich dort einerseits gegen postmoderne Reduktionen des Wahrheitsbegriffes auf Macht und andererseits gegen sprachphilosophisch fundierte Wissenschaftspositivismen, welche den Wahrheitsbegriff auf Alltagswahrheiten einschränken.
[4] Möglichst sorgfältig wahre Meinungen zu erlangen und diese möglichst ehrlich mitzuteilen, daraus setzt sich für Bernard Williams die Tugend der Wahrhaftigkeit zusammen, mit deren Hilfe der Wert der Wahrheit realisiert wird. Vgl. Williams, Truth & truthfulness, S. 11.
5 Zur Absurdität, Erkenntnis mithilfe epistemischer Tugenden ausschließlich subjektivistisch zu untersuchen, beispielsweise auch Alvin Goldman, Why Social Epistemology is Real Epistemology. In: Adrian Haddock; Alan Millar; Duncan Pritchard (Hg.), Social epistemology, Oxford 2010, S. 1-28.


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