Rupture and Rapprochement. Jewish – Non-Jewish Relations in Post-Shoah Germany

Rupture and Rapprochement. Jewish – Non-Jewish Relations in Post-Shoah Germany

Organisatoren
Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.11.2015 - 04.11.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Anne-Christin Klotz / Ira Fiona Hennerkes, Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg

„Die Zeit heilt alle Wunden“ behauptet ein weit verbreitetes Sprichwort. Es lässt sich jedoch fragen, ob das auch für Juden und Nicht-Juden in Deutschland nach 1945 und in Anbetracht der Shoah gelten kann.1 Schon Hannah Arendt stellte bei ihrem ersten Besuch in der noch jungen Bundesrepublik im August 1949 eine „irgendwie absichtliche Weigerung zu trauern“ bei den deutschen BundesbürgerInnen fest und zeigte sich schockiert vom „Gefühlsmangel“, der „Herzlosigkeit“ und der „billige[n] Rührseligkeit“ gegenüber dem Geschehenen auf Seiten der TäterInnen, der MitwisserInnen und ihrer Nachkommen.2

Heute, rund siebzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, da die Verbrechen des Nationalsozialismus – wenn schon nicht in ihrem ganzen Ausmaß nachzuvollziehen, so doch zumindest zu bemessen sind – ist es immer noch schwer vorstellbar, wie deutsche Juden und nicht-jüdische Deutsche sich in dem Land der TäterInnen begegnen konnten.3 Doch war es nicht nur Hannah Arendt, die nach Deutschland zurückkehrte – wenn auch in ihrem Falle nur zeitweise – Begegnungen gab es vielerorts, zu allen Zeiten, auf allen Ebenen. Ihre Beschaffenheit und Bedeutung näher zu betrachten, war das Anliegen der dritten internationalen Jahreskonferenz des Zentrums Jüdische Studien Berlin-Brandenburg (ZJS), die vom 2. bis zum 4. November 2015 in den Räumlichkeiten der Humboldt Graduate School in Berlin stattfand.4 Über drei Tage diskutierten WissenschaftlerInnen über „zivilgesellschaftliche Beziehungen zwischen Juden und nicht-jüdischen Deutschen aus einer historischen und kulturgeschichtlichen Perspektive“.5 Der Fokus der Konferenz lag dabei auf einer Mikroperspektive, dem Verhalten der privaten AkteurInnen in ihrem „sozialen Umfeld, im Privaten, in Religionsgemeinschaften, in der Wissenschaft, aber auch im Bereich des Wirtschaftens“6 – also an sozialen Orten abseits einer staatlich verordneten Gedenk- und Versöhnungspolitik.

In der Einführungsrede betonte STEFANIE SCHÜLER-SPRINGORUM (Berlin), dass die Konferenz eine Brücke zwischen historischer Forschung und zeitgenössischen Fragen, Biographien und Ereignissen, die noch nicht im „Wissensarchiv“ abgespeichert seien, schlagen wolle, weshalb zeitgenössische und zugleich weniger akademische Zugänge im letzten Drittel der Tagung im Zentrum stehen sollten. Eine Brücke zwischen Vergangenheit und Zukunft versuchte auch MOSHE ZIMMERMANN (Jerusalem) in seinem Eröffnungsvortrag „Zwischen Gestern und Morgen“ zu schlagen, in dem er sich mit der Frage auseinandersetzte, was nach 1945 vom deutschen Judentum geblieben war und wo es sich heute räumlich verorten ließe.

Das Auftaktpanel „First Reports“ nährte sich dem Thema der Tagung anhand von Reiseberichten deutscher Juden, die in der direkten Nachkriegszeit aus unterschiedlichen Gründen das besetzte Deutschland bereisten. DAVID JÜNGER (Berlin) referierte einleitend über Reportagen zurückgekehrter jüdischer Intellektueller wie Hannah Arendt und Joachim Prinz, die sich zwischen 1945 und 1950 zeitweise in der amerikanischen Zone beziehungsweise in der späteren BRD aufhielten. Jünger zeigte, wie die Berichte einerseits vielschichtige Einblicke in eine demoralisierte westdeutsche Nachkriegsgesellschaft gaben, andererseits aber oft auch viel über die AutorInnen selbst preisgeben konnten. Die Berichte berührten zentrale Fragen über eine Zukunft für ein deutsches Judentum und einer möglichen deutsch-jüdischen Identität nach 1945, so Jünger. Seinem Vortrag schloss sich ein Paper von JACK KUGELMASS (Gainesville) an, der den unterschiedlichen Narrativen journalistischer Reportagen über Polen und Deutschland aus der Feder vor dem Krieg emigrierter polnisch-jüdischer Autoren für hebräisch- und jiddischsprachige Periodika in den USA und Israel nachging und dabei fragte, welchen Einfluss das polnische Herkunftsland auf die Berichterstattung ausübte. Er zeigte, dass die Journalisten über Deutschland primär aus den Displaced Persons-Camps heraus berichteten und Deutschland vor allem das Land der TäterInnen betrachteten und daher auch kaum den persönlichen Kontakt zu nicht-jüdischen Deutschen suchten. Dagegen gestaltete sich eine Rückkehr nach Polen für die Journalisten weitaus komplexer und traumatisierender, da viele der Journalisten mit Polen ihre Kindheit und Jugend assoziiert hätten und dieses Land nun durch die Shoah zerstört vorfanden. Auch MARKUS NESSELRODT (Berlin) konzentrierte sich in seinem Vortrag auf polnische Juden, jedoch auf solche, die den Krieg im sowjetischen Exil überlebt hatten und nach 1945 in den DP- Camps auf ihre Weiterreise nach Palästina und in die USA warteten. Ausgangspunkt seiner Untersuchung war die Überlegung, ob das Überleben im sowjetischen Exil einen Einfluss auf die Wahrnehmung der deutschen Bevölkerung hatte und wenn ja, wie diese sich im Unterschied zu anderen Überlebenden äußerte.

Kontakte zwischen Juden und Nicht-Juden in der unmittelbaren Nachkriegszeit war das Thema des zweiten Panels „First Encounters“ und diskutierte bereits aufgegriffene Fragen aus jüdischer und nicht-jüdischer Perspektive ausführlicher. ANNA JUNGE (Berlin) sprach in ihrem Vortrag über Begegnungen im hessischen Dorf Rauischholzhausen in der Nähe von Marburg. Neben ehemaligen jüdischen DorfbewohnerInnen, die als Überlebende der Shoah zurückkehrten, bezogen im Sommer 1946 auch circa 150 über Hashomer Hatzair organisierte polnische Juden einen Gasthof im Dorf und bereiteten sich dort auf ihre Alija nach Palästina vor. Junge zeigte, dass anders als in den großen jüdischen DP-Lagern fast keine räumliche Trennung zwischen den BewohnerInnen des Gasthofes und ihrer nicht-jüdischen Umwelt bestanden hätte und das aus dieser Nähe heraus andere Strategien und Verhaltensweisen der beteiligten AkteurInnen auf jüdischer wie nicht-jüdischer Seite resultierten. STEFANIE FISCHER (Berlin) erklärte in ihrem Vortrag den jüdischen Friedhof zu einem zentralen Schauplatz, an dem es im Nachkriegsdeutschland häufig, wenn auch unfreiwillig, zu einer ersten Kontaktaufnahme zwischen deutschen TäterInnen und jüdischen Überlebenden und RemigrantInnen, deutscher Bürokratie und jüdischen Organisationen gekommen sei. Den geplanten Besuchen gingen häufig Absprachen mit örtlichen Behörden und/oder deutschen Friedhofsverwaltungen voraus. Fischer argumentierte, dass jüdische Familien mit ihren symbolischen Familienzusammenführungen auf den Friedhöfen ein Überleben und Weiterleben gegenüber einer nicht-jüdischen Umwelt demonstrieren wollten. Abschließend sprach FROUKJE DEMANT (Amsterdam) über Nachkriegsbeziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden in der deutsch-niederländischen Grenzregion. Demant versuchte, dem Motiv des Schweigens in der Vergangenheit nachzugehen, indem sie nicht nur die Motivation von Nicht-Juden analysierte, sondern auch Gründe für Juden, sich am Schweigen zu beteiligten, herausarbeitete. Den bewussten Verzicht – auf nicht-jüdischer wie jüdischer Seite – die jüngste Vergangenheit zu thematisieren, bezeichnete Demant als einen unausgesprochenen „Pakt des Schweigens“, auch wenn sie zeigte, dass gerade Juden diesen Pakt immer wieder brachen. In der Diskussion wurde die Existenz eines Paktes angezweifelt, da es sich eben nicht um ein beiderseitiges Einverständnis oder um eine offen kommunizierte Vereinbarung gehandelt hätte.

Das dritte Panel mit dem Titel „Spirits“ erweiterte die Konferenz um die Geschichte des christlich-jüdischen Dialogs. Anhand der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit stellte RAINER KAMPLING (Berlin) dar, wie sich christlich-jüdische Kontakte nach der Shoah in Deutschland und Israel gestalteten und beleuchtete die Rolle der christlichen AktivistInnen, die zumeist aus einem deutsch-intellektuellen Milieu stammten. Kampling entwickelte die These, dass trotz aller Solidarität mit Israel und dem hehren Ziel, Antisemitismus innerhalb der deutschen Bevölkerung zu bekämpfen, die Gesellschaften auf christlich-deutscher Seite es nicht vermochten, sich mit der Shoah auseinanderzusetzen und damit dem Schweigen auf nicht-jüdischer deutscher Seite abermals Ausdruck verliehen. Auch der Vortrag von NATHANAEL RIEMER (Potsdam) über den Beitrag messianischer Juden und anderer Evangelikaler zu den nicht-jüdisch - jüdischen, beziehungsweise deutsch-israelischen Beziehungen, lieferte ähnliche Ergebnisse. So argumentierte Riemer, dass die evangelikale Bewegung in Deutschland durch ihre häufig positive Israeldarstellung über Jahrzehnte hinweg zwar positiv in eine christliche Öffentlichkeit mit evangelikaler Ausrichtung hineingewirkt hätte, die Beschwörung einer sogenannten christlich-jüdischen Schicksalsgemeinschaft jedoch äußerst kritisch betrachtet werden müsse. YIZHAK AHREN (Köln) widerlegte schließlich mit seinem Beitrag über den orthodoxen Juden und Professor für Judaistik an der Ludwig-Maximilians-Universität in München, Leo Prijs, das Vorurteil, dass sich orthodoxe Juden nicht an einem christlich-jüdischen Dialog beteiligt hätten. Anhand der Schriften und des Nachlasses von Prijs rekonstruierte Ahren dessen Motivation, in den 1960er-Jahren nach Deutschland zurückzukehren und sich im jüdisch-christlichen Dialog zu engagieren.

Das vierte Panel „Heimat-Forschung“ beschäftigte sich mit dem Begriff Heimat in seinen verschiedenen jüdischen und nicht-jüdischen Bedeutungen auf lokaler/kommunaler und akademischer / nicht-akademischer Ebene. Am Beispiel des West-Berliner Senats referierte LINA NIKOU (Hamburg) über die Praxis der Einladung von im Nationalsozialismus verfolgten ehemaligen deutschen BürgerInnen, wie es sie spätestens seit den 1960er-Jahren in fast jeder größeren Stadt der BRD gab und die auf reges Interesse auf Seiten der AdressatInnen stießen. Nikou zeigte, wie die Berliner Verwaltung darum bemüht war, die zahlreichen Anfragen gerecht zu beantworten, ohne in die Falle einer Bevorteilung oder Benachteiligung zu tappen. In der anschließenden Diskussion wurde auf das Problem hingewiesen, inwieweit sich dadurch die Opfer des Nationalsozialismus erneut in einem Abhängigkeitsverhältnis zur deutschen Bürokratie wiedergefunden hätten. KIM WÜNSCHMANN (Sussex) rückte schließlich den Heimat-Begriff, den sie als ein „Framework for Identity“ verstand, in ihrem Vortrag über ehrenamtliche Heimatforschung in der hessischen Provinz zwischen 1965 und 1975 ins Zentrum. Dabei stellte sie die Erinnerungsnarrative über Heimat auf Seiten der jüdischen und nicht-jüdischen Lokalhistoriker gegenüber und zeigte, wie jüdische Lokalhistoriker nicht-jüdische deutsche Geschichtsschreibungen über eine „idyllische Heimat“ herausforderten, indem sie die Geschichte der örtlichen Juden sowie die deutschen Verbrechen in die jeweilige lokale Geschichtsschreibung integrierten. LINDE APEL (Hamburg) beschloss mit ihrer Analyse von Oral History Interviews aus der Hamburger „Werkstatt der Erinnerungen“ der frühen 1990er-Jahre das Panel. Ausgehend von dem Befund, dass InterviewerInnen und deren individuelles Erkenntnisinteresse häufig Gesprächssituationen überformen und damit den Erzählfluss der Interviewten beeinflussen, zeigte sie, dass auch Interviews zwischen Juden und nicht-jüdischen Deutschen, die häufig erst nach dem Krieg geboren wurden, Räume seien, an denen Vergangenheit, Heimat und Beziehungen zwischen Juden und Nicht-Juden ausgehandelt werden.

Das fünfte Panel „Intellectual / Intellektuelle Wiedergutmachung“, das sich den Erfahrungs- und Begegnungsräumen von Intellektuellen widmete, eröffnete ALEXANDRA TYROLF (Leipzig) mit ihrer Vorstellung der drei Frauen Gina Kaus, Victoria Wolff und Marta Feuchtwanger. Allen Dreien gemein war die Flucht vor den NationalsozialistInnen, das Bleiben im kalifornischen Exil und die Unmöglichkeit, nach Österreich oder Deutschland zurückzukehren. Die Gründe dafür waren höchst unterschiedlich. Die vorgestellten autobiographischen Texte der drei Frauen zeichneten sich durch drei wesentliche Merkmale aus: „Entleerte Räume“, „Fremdheitsgefühl“ und „verlorene Häuser“.7

Die wissenschaftliche Briefkorrespondenz des Biologen und Genetikers Jakob Wahrmanns stand im Fokus des Vortrags von AMOS MORRIS-REICH (Haifa). Der schriftliche Dialog mit seinen siebzehn deutschen und österreichischen KollegInnen wurde unter dem Thema einer Geschichte wissenschaftlicher Beziehungen zwischen Israel und der BRD nach 1945 untersucht. Die Kontakte entstanden aufgrund des Engagements Wahrmanns in den frühen 1950er-Jahren. Während Wahrmanns Briefe in englischer Sprache verfasst eine „demonstrative Distanz“ (Dan Diner) ausdrückten, verblieben die Antworten in deutscher Sprache. ANTHONY KAUDERS (Staffordshire) perspektivierte die westdeutsche Sigmund Freud-Rezeption vor dem Hintergrund des Begriffes der „Wiedergutmachung“ und stellte in seinem Vortrag zwei Gruppen mit ihren jeweiligen Intentionen im Umgang mit Sigmund Freud nach 1945 vor. Einerseits sei die Kritik an der Psychoanalyse, wie sie in den Zeiten der Weimarer Republik geführt wurde, wieder aufgenommen worden, indem unter anderem die vermeintliche Gefahr einer „Zerfaserung des Menschen“ (Ernst Kretschmer) mit der Beschäftigung des Unterbewussten grundsätzlich bestätigt wurde. Der Diskurs der 1930er-Jahre, als die Psychoanalyse als explizit „Jüdische Wissenschaft“ verfolgt und vertrieben wurde, sei in dieser Debatte ausgespart worden, wodurch sich nach Kauders gerade im Verschweigen des Beitrags jüdischer WissenschaftlerInnen zur Psychoanalyse der Antisemitismus konserviert hätte. Andererseits insinuierte eine zweite Gruppe um Max Horkheimer in Freud, als Repräsentanten der Psychoanalyse, die Verkörperung der Vernunft, des Fortschritts und der Demokratie. Im Hinblick auf die angestrebte Anbindung an die westlichen Großmächte und der Demokratisierung der BRD zielte man auf eine moralische Wiedergutmachung verfolgter jüdischer Intellektueller.

ANNA CLARA SCHENDERLEIN (Washington) stellte einleitend im sechsten Panel „Literatur-Business“ den Boykott deutscher Waren von Juden in den USA vor. Die Besonderheit lag nicht nur im von der Referentin aufgezeigten politischen Akt des Widerstands während und nach der NS-Diktatur; sondern es sei vielmehr im Handeln eine Aktivität eingeschrieben, die den Juden in den USA half, aus der Rolle des Beobachters herauszutreten. In seinen Befunden für die Jahrestagung exemplarisch, wie für das Panel beispielhaft, war der Vortrag von ELISABETH GALLAS (Jerusalem). Mit dem Lambert Schneider Verlag, so stellte sie einführend dar, sollte in Heidelberg ein Publikationsort für vornehmlich jüdische AutorInnen entstehen. Ein Ort, der einer Wiederbegegnung zwischen nicht-jüdischen Deutschen und Juden förderlich, den durch die Massenvernichtung an den europäischen Juden verursachten Bruch zwischen Juden und Nicht-Juden überwinden helfen sollte. Die zwischen 1945 und 1949 von Lambert Schneider herausgegebene Kulturzeitschrift „Die Wandlung“ sollte im post-war-movement zu einem geistig-kulturellen Neubeginn Deutschlands einerseits und einer inneren Neubildung der Deutschen andererseits beitragen. Die Hoffnung auf ein Wiederanknüpfen an das Projekt der deutsch-jüdischen Symbiose erwies sich zumal unter dem Anspruch einer Überwindung und Bewältigung des Zivilisationsbruchs als eine Illusion. Am Briefwechsel zwischen Dolf Sternberger und Hannah Arendt lasse sich beispielhaft ablesen, dass eine Annäherung nicht-jüdischer Deutscher und Juden nur unter sehr spezifischen Bedingungen, namentlich den deutschen, möglich war. MONICA BLACK (Knoxville) referierte über „Jewish Magic“ in westdeutschen Zauberbüchern nach 1945. Jene Zauberbücher erfreuten sich vieler AbnehmerInnen und großer Popularität. Das sechste und siebente Buch Moses wurde geradezu ein Bestseller. In ihrem Beitrag arbeitete Black die Kontinuität des antisemitischen Topos von Juden und schwarzer Magie in der deutschen und europäischen Kultur nach der Shoah heraus.

Über ANNETTE LEOs (Berlin) Erinnerungen gewann die Konferenz in ihrem letzten Panel „Miss/Verständnisse“ einen intimen Einblick in das Familienleben jüdischer RemigrantInnen und deren sozialen Netzwerken in der DDR. Ausgehend von ihren Kindheitserinnerungen erzählte Leo, wie die Trennlinie nach 1945 nicht etwa zwischen Juden und Nicht-Juden verlief, sondern zwischen TäterInnen, MitläuferInnen und AntifaschistInnen. Das Wort Jude, so Leo, sei lange in Gesprächen überhaupt nicht aufgetaucht. Dem beachtenswerten und auf der Konferenz leider vernachlässigten Blick auf die Begegnungserfahrungen zwischen nicht-jüdischen und jüdischen Deutschen in der SBZ und der DDR hätte eine historisierende Perspektive außerhalb von Erinnerung und Narration sicher deutlich geschärft. DAVID RANAN (London) gab einen Überblick über das Verhältnis in Deutschland lebender Juden zu Deutschland nach 1945, die nicht selten von der jüdischen Diaspora als Parias gelesen wurden. Bilanzierend hob er hervor, dass die Zeit der Schuldgefühle im Land der TäterInnen in der nunmehr dritten Generation beendet sei. Der Vortrag von IRMELA VON DER LÜHE (Berlin) stellte die Begegnungserfahrungen jüdischer RemigrantInnen aus dem kulturellen Gebiet mit „ehemaligen Kollegen und Freunden“ vor. Der Charakter der jüdisch-deutschen Begegnungen verwies in seiner Vielfalt letztlich auf eine Ignoranz des bestehenden und unüberbrückbaren Abgrundes. Das Motiv des Schweigens enthüllte von der Lühe als „Strategie des Verschweigens und der Vermeidung“, die sich zwischen einem „hegemonialen Anspruch“ einer deutsch-jüdischen Symbiose und „neuer Ausgrenzungen“ zeigte. Zufällige kommunikative Schwierigkeiten seien für die gescheiterte Annäherung gerade nicht verantwortlich gewesen. CILLY KUGELMANN (Berlin) stellte abschließend auch das Jüdische Museum als einen Ort von „Miss/Verständigungen“ vor. In ihrem Statement gab sie einen anschaulichen Einblick in das tägliche Geschäft der Museumspädagogik.

Die internationale Konferenz des ZJS hat aufzeigen können, dass die Begegnungen zwischen Juden und Nicht-Juden nach 1945 von höchst unterschiedlichen Strategien, Absichten und Ursachen gekennzeichnet waren. In ihnen dominierte jedoch das Moment der Zerstörung. Auch wenn auf institutionell-politischer, kultureller wie intellektueller und sozial-mentaler Ebene der Versuch einer Annäherung unternommen wurde; so nur unter der Maßgabe einer zuweilen selbstgefälligen Überbrückung jenes bestehenden Abgrundes zwischen Juden und Nicht-Juden. Das geschah entweder im Duktus „kollektiver Vereinnahmung“ (von der Lühe) oder in Form „verdrucksten Schweigens“ (von der Lühe). Geradezu leitmotivisch tauchte der Begriff des Schweigens in seinen Varianten „mentaler Verunsicherung auf jüdischer und christlicher Seite“ (Kampling) immer wieder auf. An diesem Begriff wurden Fragen „Für wen die sogenannte Stunde Null letztlich galt?“ und „Ob überhaupt von einem Dialog gesprochen werden kann?“ virulent, wenn das Ergebnis Versöhnung oder „Selbstexkulpation“ heißen musste.

Die Abschlussdiskussion, die sich aus jüdischen und nicht-jüdischen VertreterInnen der historisch politischen Bildungsarbeit zusammensetzte und von Stefanie Schüler-Springorum geleitet wurde, hatte den Anspruch, das Verhältnis zwischen Juden und Nicht-Juden in Deutschland im aktuellen Zeitkontext zu untersuchen. Am Ende der Konferenz standen die Bemühungen zur Dialogbereitschaft im Vordergrund.

Konferenzprogramm:

Grußwort: Staatssekretär Steffen Krach (Berliner Senatsverwaltung)

Einführung: Stefanie Schüler-Springorum (Berlin)

Eröffnungsvortrag: Moshe Zimmermann (Jerusalem): Zwischen gestern und morgen

Panel 1: First Reports
Chair: Stefanie Fischer (Berlin)

David Jünger (Berlin): Continuities of Nazi Ideology beyond “Stunde Null”. Travelogues of Jewish Intellectuals Visiting Post-war Germany, 1945–1950

Jack Kugelmass (Gainesville): Searching for the Old Country: Yiddish Journalists in Immediate Post-war Poland and Germany

Markus Nesselrodt (Berlin): (Im)possible encounters – The Germans in the Eyes of Jewish Displaced Persons (1945-1950)

Panel 2: First Encounters
Chair: Reinhard Rürup (Berlin)

Anna Junge (Berlin): Unerwartete Nachbarschaft. Eine Hachschara in der hessischen Nachkriegsprovinz

Stefanie Fischer (Berlin): Saying a Kaddish at the Parents' Grave. Jewish Visits to their Former German Hometowns

Froukje Demant (Amsterdam): Living in the House of the Hangman. Post-war Relations between Jews and non-Jews in the German-Dutch Border Region

Panel 3: Spirits
Chair: Lukas Mühlethaler (Berlin)

Rainer Kampling (Berlin): „Kommt und lasst uns hinaufziehen zum Berg des HERRN" (Mi 4,2). Die Bedeutung der Staatswerdung Israels in den Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit

Nathanael Riemer (Potsdam): Messianische Juden und andere Evangelikale und ihr Beitrag zu deutsch-jüdischen und deutsch-israelischen Begegnungen

Yizhak Ahren (Köln): Leo Prijs. Orthodoxe Perspektiven auf das deutsch-jüdische Verhältnis

Panel 4: Heimat-Forschung
Chair: Stefanie Schüler-Springorum (Berlin)

Lina Nikou (Hamburg): “Vollständige Angaben sind unbedingt Nötig”. Berlins Einladungen an im Nationalsozialismus verfolgte ehemalige Bürger

Kim Wünschmann (Brighton): Whose Heimat was/is it? Documenting Jewish History in Postwar Germany, 1965-1975

Linde Apel (Hamburg): Auf der Suche nach der Erinnerung. Interviews mit deutschen Juden im lokalhistorischen Kontext

Panel 5: Intellectual / Intellektuelle Wiedergutmachung
Chair: Miriam Rürup (Hamburg)

Alexandra Tyrolf (Leipzig): “You can’t go home again“ – Erste Kontakte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs

Amos Morris-Reich (Haifa): The “First Letters” of Jacob Wahrman

Anthony Kauders (Staffordshire): Zweierlei Vergangenheitsbewältigung: Der Umgang mit der Psychoanalyse nach 1945

Panel 6: Literatur-Business
Chair: Irmela von der Lühe (Berlin)

Anne Clara Schenderlein (Washington): Boycott and Community: German Business and American Jews after the Holocaust

Elisabeth Gallas (Jerusalem): “Wie ein feuriger Blitz in die reglos trübe und schwüle Atmosphäre einschlagen”: Jüdische AutorInnen im Verlagsprogramm von Lambert Schneider nach 1945

Monica Black (Knoxville): ‘Jewish Magic’ in German Magic Books after 1945

Panel 7: Miss/Verständnis
Chair: Isabel Enzenbach

Annette Leo (Jena/Berlin): Exklusive Integration. Missverständnisse über das Verhalten meiner Eltern in den 1940er und -50er Jahren

David Ranan (London): „Die Schatten der Vergangenheit sind noch lang“: Junge Juden über ihr Leben in Deutschland

Irmela von der Lühe (Berlin): Zwischen Dialogangebot und Versöhnungsdiktat: Jüdisch-deutsche Begegnungen in Literatur und Theater der Nachkriegszeit

Cilly Kugelmann (Berlin): Das Jüdische Museum Berlin als Ort von Miss/Verständigungen

Final discussion
Stefanie Schüler-Springorum (Berlin), Kenneth D. Wald (Gainesville), Jutta Weduwen (Berlin), Swenja Granzow-Rauwald (Hamburg)

Anmerkungen:
1 Im Text wird das große Binnen-I verwendet, um kenntlich zu machen, dass bei Personengruppen die weibliche und männliche Form gemeint ist. Der besseren Lesbarkeit halber wird für die Pluralform von Jude nur das generische Maskulinum verwendet (also Juden statt JudInnen oder JüdInnen).
2 Hannah Arendt: Besuch in Deutschland, Hamburg 1993, (im Original von 1951), S. 24–25.
3 Mehrere Vorträge auf der Konferenz beschäftigten sich auch mit dem Aufeinandertreffen von polnischen Juden und nicht-jüdischen Deutschen.
4 Die Konferenz wurde von Stefanie Schüler-Springorum, Nathanael Riemer, Isabel Enzenbach und Stefanie Fischer organisiert.
5 Stefanie Schüler-Springorum u.a., Zerstörung und Annäherung: Jüdisch – Nicht-jüdische Beziehungen in Deutschland nach der Shoah, in: Rupture and Rapprochement. Jewish – Non-Jewish Relations in Post-Shoah Germany, Abstracts, 3. Internationale Konferenz des ZJS, 2.–4. November 2015, Berlin, ohne Seitenangaben.
6 Ebd.
7 Hinzuzufügen wäre, dass alle drei Frauen, die in den zwanziger Jahren beträchtlichen Erfolg mit ihren Erzählungen, Novellen und Romanen feiern konnten, nach der systematischen Säuberung der deutschsprachigen Literatur und der Verdrängung feministischer und emanzipatorischer Fragen nicht mehr an das Lesepublikum der Weimarer Republik anknüpfen konnten Die bis 1932 noch gelobten und viel gelesenen Texte der Victoria Wolff und insbesondere der Gina Kaus wurden von den Nationalsozialisten als unmoralisch degradiert, der „dekadenten Literatur“ zugeordnet und im Falle der Gina Kaus auf die „schwarze Liste“ gesetzt und den Bücherverbrennungen überantwortet. Vgl. dazu Gerhard Bauer, Nachwort, in: Gina Kaus. Morgen um Neun, Hildesheim u.a. 2008. Werner Treß (Hrsg.), Verbrannte Bücher 1933. Mit Feuer gegen die Freiheit des Geistes, Bonn 2009.


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