Schmerz in biblischen, postbiblischen und verwandten Texten des östlichen Mittelmeerraums

Schmerz in biblischen, postbiblischen und verwandten Texten des östlichen Mittelmeerraums

Organisatoren
Michaela Bauks, Universität Koblenz-Landau; Saul Olyan, Brown University, Providence/ Rhode Island
Ort
Koblenz
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.03.2018 - 21.03.2018
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Von
Marion Steinicke, Forschungsschwerpunkt „Kulturelle Orientierung und normative Bindung“, Universität Koblenz-Landau, Martina Weingärtner, Institut für Evangelische Theologie, Universität Augsburg

Die internationale Konferenz widmete sich einem Thema, das seit langem in der historischen Anthropologie einen besonderen Stellenwert hat, in den Bibel- und Orientwissenschaften bislang dagegen nur peripher berücksichtigt worden ist. Analysiert wurde ‚Schmerz‘ als ein mit physiologischen Begriffen umschriebenes Phänomen, das zwischen körperlicher Verletzung, Störung oder Krankheit, psychischer Schmerzempfindung und sozialer Exklusionswahrnehmung oszilliert. Ziel der Tagung war es, eine erste ‚Kartographie‘ existierender Schmerzbelege in biblischen und zeitlich benachbarten Texten zu entwerfen und somit zugleich die abendländische Dichotomie von Körper und Geist zu hinterfragen, die bis heute den gesellschaftlichen Umgang mit Schmerz geprägt hat.

Einführend präsentierten die Veranstalter MICHAELA BAUKS (Koblenz) und SAUL OLYAN (Providence, Rhode Island) mögliche Annäherungen an textlich artikulierte Schmerzempfindungen als Erfahrungen im Wechselverhältnis zu dem jeweiligen kulturellen Symbolsystem. Der Körper als „soziales Gebilde“ (Mary Douglas) avanciere dabei zum Ort der Interdependenz von Individuellem und Kollektivem. In linguistisch-semantischer Analyse, in einer Hermeneutik narrativer Repräsentationen, wie sie Clifford Geertz mit der ‚dichten Beschreibung‘ intendiert habe, könnten die Repräsentationen der Schmerzerfahrungen systematisiert und gedeutet werden.

Der Beitrag des Ethnologen ANDREAS ACKERMANN (Koblenz) eröffnete die erste Sektion „Phenomenology of Pain“. Ein Filmausschnitt, der anhand von Initiationsriten die wechselseitige Bedingtheit von schmerzvollen Praktiken und sozialer Anerkennung vor Augen führte, illustrierte einen mehrfachen Identitätsbildungsprozess: die Schmerzerfahrung und eine Bewährung in derselben integriere die Initianden in eine spezifische Gruppe und eine bestimmte Tradition; zugleich werde durch einen kunstvollen Prozess (hier konkret: die Tätowierung) eine Transformation von einem natürlichen Körperzustand zu einem kulturell-sozialen Status vollzogen. Im Moment der Schmerzbewältigung avanciere das Individuum zum sozialen Selbst.

Unter kognitiv-linguistischen Aspekten diskutierte ANDREAS WAGNER (Bern) verschiedene Rahmenkonzepte von Schmerzmetaphern. Schmerz als eine körperliche Empfindung sei jenseits eines erlebten kulturellen Symbolsystems der direkten Wahrnehmung entzogen. Konzeptualisiert sei Schmerz weniger etwas, das im Körper selbst lokalisierbar sei, sondern etwas, das von außerhalb komme, eine Art Macht, die eine Person ergreift. Wagner berührte mit dieser Pointierung die generelle Frage nach der Innen-Außen-Relation des körperlich erfahrenen Schmerzes.

Einführend zur zweiten Sektion „Physical and Psychological Dimensions of Pain“ thematisierte MARKUS SAUR (Bonn) das Buch und die Figur Hiob unter literarhistorischen Gesichtspunkten. Der Schmerzdiskurs zeige durch seine rahmenden Passagen Hiob in einem Erfahrungsraum des Schmerzes. Im gestisch-lautlichen Ausdruck werde der Schmerz für die Umwelt sichtbar und schildere Gelingen und Scheitern innerhalb der Figureninteraktion. Die Dichtung zeige in chiastischen Strukturen die Verwobenheit von Schöpfer und Geschöpf; der Schmerz Hiobs sei zugleich der Schmerz Gottes. Der Leidende stehe gleichermaßen coram mundo und coram deo; das Zentrum einer Person (Hebr. næfæš) befinde sich an diesen relational zu bestimmenden Schnittstellen.

LENNART LEHMHAUS (Berlin) präsentierte in seinen Ausführungen zur rabbinischen Tradition eine nach Lokalisierung, Dauer oder Schweregrad differenzierte Skala an Schmerzbegriffen. In der Schmerzdeutung lasse sich einerseits ein medizinisches Interesse erkennen, das den Schmerz als Signalfunktion verstehe, andererseits – vor allem im halachischen Kontext – eine religiöse Interpretation, die den von Gott bewirkten Schmerz weniger als Qual denn als Mahnung und Buße deute. Es eigne ihm somit ein Moment der Umkehrbarkeit an, das die Vorstellung des Körpers als permeable Durchgangsfläche markiere. In dieser sensiblen und differenzierten Wahrnehmung könne Schmerz den Charakter einer Handlungsanweisung gewinnen.

Der Beitrag von MARTIN F. MEYER (Koblenz) beschäftigte sich mit dem weit über die Dichotomie von ‚Physis‘ und ‚Psyche‘ hinausgehenden Spektrum versprachlichter Schmerzerfahrungen in der griechischen Antike; schon das traditionsreiche Beispiel der Liebe als eine Mischung aus Lust und Schmerz sei geeignet, die Komplexität des Themas vor Augen zu führen. Schmerz werde in der griechischen Kultur als eine Quelle von Unlust in einem weitreichenden Verständnis aufgefasst; so könnte beispielsweise auch die Empfindung von Zorn mit Begriffen des Schmerzes beschrieben werden. Wie Meyer anhand mehrerer Beispiele aus naturwissenschaftlichen und ethischen Texten verdeutlichte, seien Schmerzphänomene und ihre epistemologischen Bewertungen abhängig von den jeweils politisch relevanten Normen und Wertmaßstäben.

ANNETTE WEISSENRIEDER (Halle) analysierte daraufhin die vielfältige Terminologie des Schmerzes in der Septuaginta-Version des Hiobbuches unter Bezugnahme auf antike medizinische Texte. Gegen die von Elaine Scarry in „Body in Pain“ geäußerte These, dass Schmerz nicht nur der Sprache Widerstand leiste, sondern sie sogar zerstöre, vertrat Weissenrieder die Auffassung, dass gerade die vielfältigen Repräsentationen und Narrative dem Schmerz lebendigen Ausdruck verliehen. Im Vergleich zum hebräischen Text zeige die Übersetzung mit ihrer Verwendung spezifisch-medizinischer Termini eine differenziertere Sicht auf das Phänomen Schmerz, das mittels metaphorischer Umschreibungen vertieft und als Erfahrung präziser verbalisiert werde.

Zu Beginn der dritten, in die Abschnitte „Pain and Grief“ und „Pain and Sanction“ unterteilten Sektion untersuchte RÜDIGER SCHMITT (Münster) Klage- und Trauerrepräsentationen des Alten Ägypten und der Bronzezeit des Mittelmeerraums, die auf Selbstminderungsriten hindeuten könnten. Die Entblößung des Oberkörpers oder hochgereckte Arme ließen sich als Streuen von Asche auf das Haupt interpretieren, Einkerbungen im Gesicht als Tränen oder Zeichen von Selbstverstümmelung. Da es sich bei den Fundorten um Grabstätten handele, liege es nahe, die Darstellungen als rituellen Ausdruck von Schmerz zu verstehen. Der Referent unterstrich damit die Bedeutung nonverbaler ikonographischer Zeugnisse, die einen zusätzlichen Interpretationsraum eröffnen könnten.

Michaela Bauks widmete sich in einer innerbiblischen Exegese dem Geburtsschmerz. Die narrativen Texte folgten ätiologischen oder genealogischen Erzählintentionen und entbehrten detaillierter Schmerzbeschreibungen. Die prophetische Literatur metaphorisiere Geburtsschmerzen als Erfahrung von Zerstörung und Wiederherstellung und fokussiere somit das transitorische Moment jeder Geburt. Unaufhaltsamkeit und Irreversibilität seien tertium comparationis der entsprechenden Krisenschilderungen. Stärker auf das geglückte Ende blickend, verbalisierten sich jedoch auch Hoffnungen eines heilvollen Neubeginns, indem Gott beispielsweise als Hebamme (Ps 22,10f.) angerufen werde.

BEATE EGO (Bochum) verfolgte die Zusammenhänge von individuellen und kollektiven Dimensionen der Schmerzerfahrung anhand der Protagonisten der Tobiterzählung, Tobit und Sara. Neben den Erfahrungen von Verfolgung oder Blindheit teilten sie insbesondere einen sozialen Schmerz, der aus dem Spott des Kollektivs resultiere und sich im Todeswunsch äußere. Dagegen erweise sich das Gebet als eine spezifische Sprechbewegung, die zu einem anderen Umgang mit der schmerzvollen Erfahrung führe: In der Selbstartikulation eröffne sich eine Erkenntnis, die als Therapeutikum die ersehnte Heilung verschaffe. Im Akt der Vergegenwärtigung leide der Leser empathisch mit und teile die Erfahrung der Heilung.

Mit dem Apokryphon des Johannes stellte CHRISTINA RISCH (Koblenz) eine weitere außerkanonische Schrift vor, in deren ausgefeilter Anthropogenese Emotionen als dämonische Schöpfungen aufgefasst würden. Die Schrift widme sich systematisch der Schmerzwahrnehmung, wobei dezidiert zwischen stofflichem und psychischem Leib getrennt werde. Affektion bedeute demnach Emotionsverfallenheit und somit Bindung der stofflichen Seele an die Materie. Dieser vom göttlichen Ursprung trennende Zustand müsse durch Schmerzvermeidung überwunden werden, da man sich nur so seiner wahren göttlichen Herkunft wieder bewusst werden könne.

Den Zusammenhang von Schmerz und Strafe beleuchtete Saul M. Olyan anhand von Folterbeschreibungen. Dabei stellte er strukturell vergleichbare Momente von Folter und Ritual heraus, wie etwa Formalität und Invarianz; beide seien zudem kommunikative Akte. Der wesentliche Unterschied liege in der Intentionalität: Während das Ritual zumeist als freiwilliger Akt am eigenen Selbst ausgeführt werde, füge die Folter einem Gegenüber erzwungene Schmerzen zu und ziele auf die Erniedrigung des Gepeinigten. In diesem Kontext veranschaulichte Olyan anhand einiger Beispiele die Problematik gradueller Wahrnehmung von Schmerz.

Anhand der Mischna-Strafmaßnahmen versuchte JONATHAN SCHOFER (Austin, Texas) eine Verhältnisbestimmung von individueller Schmerzerfahrung und kollektiver Deutung im juridischen Kontext. Generell sei eine Unterteilung zwischen Geld- und Todesstrafen festzustellen; im Traktat Makkot, der dieses Strafsystem durch Peitschenhiebe erweitert, werde der Schmerz ins Zentrum gerückt. Damit entstehe eine höhere Flexibilität im gesetzlichen System. Die vorangehende Tat werde als sozialwidrig und nahezu todeswürdig bewertet. Der Schmerz diene nicht der Reinigung oder Läuterung, sondern sei allein ein technisches Mittel.

Der Beitrag von JUDITH GÄRTNER (Rostock) thematisierte mit Blick auf den Krankheitspsalm (Ps 38) die Rhetorik des Schmerzes. Schmerz als unmittelbare körperliche und mentale Erfahrung treffe die ganze Person; wo er nicht abgewendet werden könne, werde er zur eigenständigen chronischen Krankheit. Krankheitspsalmen artikulierten diese Erfahrung als lautlich-bildliche Darstellung in traditioneller oder innovativer Weise. Die Artikulation sei als bereits distanzierender Umgang mit der Wahrnehmung des Schmerzes immer schon gedeutete Erfahrung; in der Artikulation werde eine Distanz geschaffen, die den Weg zur Verarbeitung ermögliche.

KLAUS KOENEN (Köln), der für den kurzfristig verhinderten Tübinger Theologen Bernd Janowski und dessen Beitrag über ‚Gottes Schmerzen‘ eingesprungen war, stellte in seinem reich illustrierten Vortrag die von dem umstrittenen Künstler Markus Lüpertz in St. Andreas zu Köln gefertigten Kirchenfenster vor. Der Referent konzentrierte sich dabei auf die den Machabäer-Schrein umgebenden Fenster der Südkonche, die ausgehend von den Schilderungen des gewaltsam niedergeschlagenen jüdischen Aufstandes in farbenprächtigen und floral anmutenden Motiven eine auf Kontinuität und Komplementarität beruhende christologische Sicht der Heilsgeschichte entfalten würden.

CHRISTIAN FREVEL (Bochum) konzentrierte sich in seinem Beitrag auf die Umwandlung des inneren Schmerzes in äußere Gestaltung anhand des in seiner bildsprachlichen Intensität exzeptionellen Klagelieds, Kap. 1. Darin werde die verletzte Körperlichkeit des Individuums wie die der Stadt vor Augen geführt. Die Bewegung im Raum finde im Tor den Ort der Transgression; so trete auch das Weinen aus dem verborgenen Inneren nach Außen. Dabei sei von einem konkreten Schmerz nicht explizit die Rede, allein die kunstvolle und emotional aufgeladene Rhetorik mache eine allgemeine Schmerzrealität präsent. Die expressive Selbstrepräsentation spreche implizit den Imperativ aus, Leid wahrzunehmen und in Empathie zu überführen.

Mit einem praxeologischen Zugang aus dem Bereich der Traumatherapie beschloss STEPHANIE AREL (New York) die Tagung. Eine Trauma-Erfahrung sei eine besondere Form der Schmerzverlagerung. Sie betreffe nicht allein den Körper als soziales Instrument, sondern auch und vor allem das individuelle Gedächtnis. Eine Therapie suche nach Möglichkeiten der Rehabilitation, bei der das Verhältnis von Verdrängen und Erkennen eine entscheidende Rolle spiele. Im Kontext einer Therapie müsse nach einem heilsamen Umgang jenseits von Leugnung oder Verlagerung gesucht werden. Biblische und literarische Bildsprache biete verschiedene Möglichkeiten, der Sprachlosigkeit des Schmerzes zu begegnen.

Die Tagung machte deutlich, dass eine Objektlosigkeit oder ein Unsagbarkeitstopos des Schmerzes nicht verstummen lassen. Auch wenn sich Schmerz nicht jenseits subjektiver Erfahrung ereignet, drängt er zum Ausdruck und will das Unsagbare adressierbar machen. In immer wiederkehrenden Korrespondenzen zwischen Innen und Außen drückte sich ein ganzheitliches Menschbild aus, das sich einer physisch-psychischen Dichotomie verweigert. Die Gattungen und Intentionen solcher Repräsentationen sind vielfältig. Die analytische Erschließung des zu bestimmenden Materials, hermeneutische Reflexionen zur Verhältnisbestimmung impliziter und expliziter Aussagen sowie letztlich die Frage nach dem anthropologischen und theologischen Bezugsrahmen sind weiterführende Aufgaben, die durch diese Tagung angestoßen wurden.

Konferenzübersicht:

Stefan Neuhaus (Koblenz): Begrüßung

Michaela Bauks (Koblenz) / Saul Olyan (Providence Rhode Island): Einführung

Sektion I: Phenomenology of Pain

Andreas Ackermann (Koblenz): „No Pain No Gain“: Pain from an Anthropologist`s Perspective

Andreas Wagner (Bern): Schmerz im Alten Testament – universale Körperreaktion oder kulturell geprägtes Gefühl?

Sektion II: Physical and Psychological Dimensions of Pain

Markus Saur (Bonn): Der Schmerz Hiobs. Zum Ineinander von „physischen“ und „psychischen“ Leiderfahrungen im Hiobbuch

Lennart Lehmhaus (Berlin): When Does it Hurt (Most)? Rabbinic Perceptions and Appropriations of Pain and Suffering

Martin F. Meyer (Koblenz): Schmerz – Bedeutung und Konzepte in der klassischen griechischen Literatur

Annette Weissenrieder (Halle): Body and Pain in Job LXX in Light of Ancient Medical Texts

Sektion III/a: Pain and Grief

Rüdiger Schmitt (Münster): Mourning and Grief in Iron Age Levantine Iconography with Special Regard to Philistine Figurines of Mourners

Michaela Bauks (Koblenz): Pain in Childbirth – Gen 3,16 in Innerbiblical Exegesis

Beate Ego (Bochum): Schmerz und Betrübnis in der Tobiterzählung – Individuelle und kollektive Dimensionen

Christina Risch (Koblenz): Leid und Schmerz in der Anthropologie des Apokryphon des Johannes

Sektion III/b: Pain and Sanction

Saul Olyan (Providence, Rhode Island): Pain Imposed: The Psychological Torture of Enemies through Ritual Acts

Jonathan Schofer (Austin, Texas): Pain and Punishment in the Mishnah: Tractate Makkot, Chapter 3

Sektion IV: Rhetoric of Pain

Klaus Koenen (Köln): Rot und Grün, Blut und Blumen. Die Fenster von Markus Lüpertz in St. Andreas in Köln

Christian Frevel (Bochum): “Seht meinen Schmerz!” – Schmerz als Rhetorik in den Klageliedern und verwandten Texten

Judith Gärtner (Rostock): „Und mein Schmerz steht mir immer vor Augen (Ps 38,18) – Schmerz
als Ausdrucksform der Klage

Stepanie Arel (New York): Phenomenological and Anthropological Description of Pain


Redaktion
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