Ein inner- wie interdisziplinärer Austausch kann als konstitutives Element bei der Abfassung von Dissertationen gelten: Die Möglichkeit zur Präsentation des derzeitigen Arbeitsstandes sowie die Diskussion einzelner Teilaspekte stellt einen integralen Bestandteil nicht-öffentlicher Oberseminare wie auch öffentlicher (Nachwuchs-)Kolloquien dar. Welches Potential diesen Austauschformaten dabei trotz ihrer Etablierung in der akademischen Wissenschaftskultur beigemessen werden kann, zeigte eine Initiative des Mittelbaus am Fachbereich Geschichte der Universität Hamburg: Dort konstituierte sich vor zwei Jahren der Arbeitskreis Heiligkeit, an dem Promovierende der Fachbereiche der Alten, der Mittelalterlichen und der Europäischen Geschichte der Frühen Neuzeit beteiligt sind. Dieser richtete einen Studientag aus, in dessen Rahmen die Mitglieder ihre Projekte vor Fachpublikum und Studierenden vorstellten und diskutierten. Wahrlich innovativ gestaltete sich dabei der explizit transepochale Zugang der Veranstaltung, der einen Raum von Gallien über das Alte Reich bis Nordafrika, von der Iberischen Halbinsel über Italien bis in die Levante sowie eine Zeitspanne von rund 1.600 Jahren umfasste. Ferner ermöglichten die im Anschluss an die Projektpräsentationen gehaltenen Kommentare der geladenen auswärtigen Expert/innen, die Bereitstellung von Materialien in Form eines Readers sowie die bewusst unterschiedlich gestalteten Panels eine besonders hohe Diskussionsintensität.
In seiner Begrüßung skizzierte JAN SEEHUSEN (Hamburg) die zentralen Ansätze und das konkrete Erkenntnisinteresse des Studientages: Ausgangslage war der Befund, dass christliche Narrative während gesellschaftlicher Transformationsphasen in allen Promotionsvorhaben des Arbeitskreises eine Hochkonjunktur erfahren würden, die sich zugleich auf einer übergeordneten Instanz unter dem Phänomen Heiligkeit als gemeinsamen Vorstellungshorizont bündeln ließen. Es war das Ziel des Studientages, über die Diskussion der einzelnen Forschungsprojekte hinaus thematische Schnittmengen in transepochaler Perspektive zu eruieren sowie die Expertise der Arbeitsgruppenmitglieder zu vertiefen.
ELISABETH FISCHER (Hamburg) eröffnete die erste Sektion zum „Körper in der Frühen Neuzeit“. Als Teilaspekt ihres Promotionsprojektes, welches Formen weiblicher Mystik im 18. Jahrhundert anhand der Bamberger Dominikanerlaienschwester Maria Columba Schonath untersucht, analysierte sie lokale Formen für die Feststellung von Heiligkeit im nachtridentinischen Katholizismus. Dabei betonte sie die große Bedeutung einer gründlichen Prüfung (körperlicher) Zeichen von Heiligkeit, da diese stets ambig und ambivalent gewesen seien und nicht zwingend für göttliche Auserwählung stehen, sondern auch Ausdruck einer übersteigerten Imaginationskraft, von Krankheit oder gar Besessenheit sein konnten. Anhand ihres Quellenmaterials zeigte sie verschiedene Techniken zur Unterscheidung der Geister auf, mit denen die fürstbischöfliche Obrigkeit und der Dominikanerorden die Heiligkeit im Falle Schonaths widerlegten. Im Spannungsfeld von Peripherie und Zentrum, zwischen lokaler Heiligenverehrung und römischer Deutungshoheit, gelang es Fischer, anhand ihres Bamberger Fallbeispiels nicht nur Regionalisierungs- und Universalisierungstendenzen, sondern auch Elemente einer allmählichen Rationalisierung lokaler Prüfung von Heiligkeit im 18. Jahrhundert nachzuweisen. In der anschließenden Diskussion hob XENIA VON TIPPELSKIRCH (Berlin) hervor, dass das Projekt für die Frühneuzeitforschung erhebliches Potential für die Bestimmung des Verhältnisses von Textlichkeit und körperlicher Erfahrung biete. Zudem wies sie auf die Bedeutung lokaler Spezifika und die unterschiedlichen Instanzen hin, die auf das Verfahren einwirkten, um die Vielschichtigkeit des Prozesses herauszustellen.
Die Vorträge der zweiten Sektion entstammten dem Fachbereich der Mittelalterlichen Geschichte: So präsentierte zunächst JÉRÉMY WINANDY (Hamburg) sein Promotionsvorhaben zu den Abtsviten des Reformklosters Fleury und erläuterte in seinem Vortrag, welche Rolle Heiligkeit in Reformzeiten auf institutioneller Ebene zugemessen werden könne. In Abgrenzung zu bisherigen Forschungsnarrativen, welche die Entstehung der Hagiographien allein im Rahmen einer möglichen Kultetablierung in Fleury verorteten, plädierte Winandy für eine Neubewertung, die die Zeugnisse innerhalb eines anderen, deutlicher fassbaren Entstehungszusammenhangs untersucht: Dabei stellte er die Bewahrung pragmatischen Handlungswissens durch das Vitenkorpus für den Abt wie den Konvent gleichermaßen heraus, indem Heiligkeit als Legitimierung idealtypischer Verhaltensformen fungiere. Im Anschluss daran stellte ELENA VANELLI (Hamburg) ihr Dissertationsprojekt vor, das die Verfestigung institutioneller Strukturen von zunächst unregulierten Gemeinschaften hin zu Zisterzienserinnenkonventen im 13. Jahrhundert aus der bottom-up-Perspektive untersucht. In ihrem Vortrag präsentierte Vanelli sodann erste Ergebnisse ihrer Auswertung von Archivbeständen zur Geschichte der Klöster S. Giovanni della Pipia in Cremona und S. Cristoforo in Pavia. Eindrücklich unterstrich sie dabei die Komplexität der Prozesse, indem sie die unterschiedlichen Einflüsse nachzeichnete, durch welche die sich im Umbruch befindlichen Klöster nachweislich beeinflusst worden sind. STEVEN VANDERPUTTEN (Gent) betonte in der anschließenden Diskussion nicht nur das Forschungsdesiderat, welches in Bezug auf eine moderne Erschließung speziell von Reformgemeinschaften weiterhin bestünde und dem sich die beiden vorgestellten Projekte in vorbildlicher Weise auf ganz unterschiedlichen Ebenen widmeten. Vielmehr profilierten die Dissertationsvorhaben auch eine neue Form monastischer Identität, die ein Changieren zwischen der klösterlichen und weltlichen Sphäre erkennen lasse und so mit älteren Forschungsdichotomien breche.
In der Abendsektion wurden schließlich drei Projekte aus dem Bereich der Alten Geschichte präsentiert. Dabei lag der Fokus auf der Konstruktion geschlechterspezifischer Narrative in der Übergangsphase zwischen Spätantike und Frühmittelalter. So präsentierte NATHALIE KLINCK (Hamburg) einen Teilaspekt ihres Promotionsprojektes, das sich mit der Heiligenverehrung in Nordafrika und ihrer sozio-politischen Funktion zwischen dem 2. und 6. Jahrhundert beschäftigt: Anhand eines intertextuellen Vergleichs der Passio der Heiligen Perpetua und Felicitas, ihrer überarbeiteten Kurzversion sowie archäologischer Befunde zeichnete Klinck die Genese einer der ältesten bezeugten Heiligenkulte um zwei weibliche Märtyrerinnen nach. In diesem Zuge untermauerte sie ihre These einer zunehmenden Entindividualisierung der ursprünglichen Vita zugunsten der Betonung einer Gruppe, die durch den Klerus beeinflusst und stark mit den (kirchen-)politischen Ereignissen dieser Periode verknüpft war. Jan Seehusen stellte in seinem Vortrag sodann unterschiedliche Profile von Heiligkeit heraus: Aus dem Quellenkorpus seines Promotionsprojektes, das die politischen Aufgaben heiliger Männer und Frauen im gallischen Raum am Übergang zwischen Spätantike und Frühmittelalter untersucht, verdeutlichte er anhand der Viten der Genofeva von Paris und des Severin von Noricum die Konstruktion geschlechterspezifischer Heiligkeitsmodelle insbesondere in ihrer Beziehung zum Phänomen der sogenannten „Bischofsherrschaften“. In einer konzisen Textanalyse klassifizierte Seehusen Heiligkeit dabei als Alternative zu kirchlichen Hierarchiestrukturen, indem den beiden Heiligen Aufgaben zugeschrieben wurden, welche die Forschung klassischerweise mit Bischöfen assoziiere. Im Falle Genofevas kompensiere das geschlechterspezifische Heiligkeitsmodell somit die Unmöglichkeit eines weiblichen Episkopates. In ihrem anschließenden Vortrag präsentierte MARIA MUNKHOLT CHRISTENSEN (Göttingen) einen Ausschnitt aus ihrem aktuellen Forschungsprojekt, in dem sie weibliche Heiligkeitszuschreibungen in hagiographischen Schriften der Spätantike analysiert. Anhand mehrerer Textausschnitte unterschied sie dabei zwei Umgangsformen mit weiblicher Gelehrsamkeit, die sich entweder in einer gesonderten Rechtfertigung ihrer Eignung in Form einer paraíthesis oder in einer dezidierten Betonung ihrer Gleichrangigkeit zu männlichen Heiligen äußerten. Auch die folgende Diskussion unterstrich den Befund aller drei Projekte, denen zufolge bei der Inszenierung weiblicher Heiligkeit durch die Implementierung explizit männlicher Attribute zusätzliche Handlungsmöglichkeiten geschaffen würden, welche heilige Frauen ihren männlichen Pendants gegenüber ebenbürtig agieren ließen. Ferner wurden in diesem Kontext die vielseitige Anwendungsmöglichkeit geschlechtergeschichtlicher Ansätze für die Transformationsphase von der Spätantike zum Frühmittelalter sowie die Anwendbarkeit weiterer methodischer Ansätze wie etwa dem der Intersektionalität diskutiert.
STEPHAN BRUHN (Kiel) hob in der Abschlussdiskussion zunächst sowohl das räumlich als auch zeitlich breit gefächerte Spektrum der präsentierten Promotionsvorhaben hervor. Auch wenn sich die Projekte mit dem Phänomen „Heiligkeit“ grundsätzlich einem gemeinsamen Vorstellungshorizont widmeten, hätten die Sektionen doch vielmehr den Facettenreichtum an Erscheinungsformen und weniger deren Einheitlichkeit herausgestellt. Ausgehend von dieser Beobachtung wurde einerseits das Potential, im Rahmen des Arbeitskreises anstelle von Heiligkeit im Singular vielmehr von Heiligkeit_en_ im Plural zu sprechen, sowie die Möglichkeit einer gemeinsamen Definition von Heiligkeit in der transepochalen Zusammenschau diskutiert, um Gemeinsamkeiten wie Unterschiede, Kontinuitäten wie Wandel gleichermaßen erfassen zu können. Außerdem hätten sich alle drei Sektionen, so Bruhn weiter, seien stark durch das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft ausgezeichnet gewesen. Dabei erweise sich die Gemeinschaft einerseits in einem ganz basalen Sinne für die Etablierung und Verstetigung eines Kultes als konstitutiv: Erst die Verehrung schaffe die/den Heilige/n. Andererseits wurde diese/r in den Beiträgen auch als Individuum vor allem in Relation zu den ihn/sie umschließenden Gemeinschaften perspektiviert. Im Anschluss daran warf Bruhn die Frage auf, ob zwischen dem individuellen Charisma der/des Heiligen und ihrer/seiner institutionalisierten Gemeinschaft ein Spannungsfeld bestehe und ob gerade daraus Grenzen der Heiligkeitszuschreibung resultieren könnten: Dabei verwies Bruhn einerseits darauf, dass Heilige durchaus im Dienst ihrer Institution wirksam würden (Winandy) und Reformen ein heiligmäßiges Leben in Konventen sicherstellen konnten (Vanelli), dass Heiligkeit aber auch jenseits institutioneller Hierachien Handlungsspielräume zu ermöglichen vermochte, wenn zum Beispiel Personen, die keine Bischöfe waren, trotzdem als solche agieren konnten (Seehusen) oder weibliche Märtyrerinnen als Vorsteherinnen ihrer Gemeinschaften traten (Klinck). Andererseits sei jedoch auch das Phänomen überliefert, dass Heiligkeit nicht in die Gemeinschaft überführt werden könne, wenn etwa Columba Schonath trotz lokaler Verehrungspraktiken offiziell nicht heiliggesprochen wurde (Fischer).
Es lässt sich somit darauf hoffen, dass der Arbeitskreis diese äußerst fruchtbare Form eines offenen wissenschaftlichen Austauschs über Epochengrenzen hinweg zukünftig institutionalisieren kann und weitere Formate dieser Art – auch in anderen Arbeitskontexten – anzustoßen vermag. Das hohe Potential dieses ersten Studientages mögen dabei nicht nur die qualitativ hochwertigen Vorträge, sondern auch das produktive Diskussionsklima sowie die starke Resonanz durch die ganztägig hohe Teilnehmer/innenzahl aus allen Fachbereichen unterstrichen haben.
Conference Overview:
Begrüßung und Einführung
Sektion I: Der heilige Leib. Körper in der Frühen Neuzeit
Moderation und Kommentar: Xenia von Tippelskirch (Humboldt-Universität zu Berlin)
Elisabeth Fischer (Europäische Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Hamburg): Weibliche Mystik und Heiligkeitskonzeptionen im 18. Jahrhundert am Beispiel von Maria Columba Schonath (1730–1787)
Sektion II: Institutionalisierung. Heilige Gemeinschaften im Wandel
Moderation und Kommentar: Steven Vanderputten (Universität Gent)
Jérémy Winandy (Mittelalterliche Geschichte, Universität Hamburg): Äbte zwischen Weltentzug und ‚Leadership‘
Elena Vanelli (Mittelalterliche Geschichte, Universität Hamburg): Reformen – Heilige Gemeinschaften im Wandel
Sektion III: Heiligkeit und Diskurs. Geschlechtergeschichtliche Narrative
Nathalie Klinck (Alte Geschichte, Universität Hamburg): Christianus/a sum. Nordafrikas Märtyrer. Zur Funktion von Heiligenverehrung im frühen Christentum
Jan Seehusen (Alte Geschichte, Universität Hamburg): Genofeva von Paris und Severin von Noricum – Die Beschützer vor Hungersnöten und Gentilheeren
Maria Munkholt Christensen (Georg-August-Universität Göttingen): Heilige Frauen in der christlichen Spätantike. Heiligkeit und Diskurs. Geschlechtergeschichtliche Narrative
Sektion IV: Abschlussdiskussion
Stephan Bruhn (Christian-Albrechts-Universität Kiel): Schlusszusammenfassung