Bielefelder Debatten zur Zeitgeschichte I: Vergangene Gegenwart. Deutschland und Europa seit 1990

Bielefelder Debatten zur Zeitgeschichte I: Vergangene Gegenwart. Deutschland und Europa seit 1990

Organisatoren
Christina Morina / Benno Nietzel, Arbeitsbereich Zeitgeschichte, Universität Bielefeld
Ort
digital
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.11.2020 - 20.11.2020
Url der Konferenzwebsite
Von
Marcus Böick, Historisches Institut, Lehrstuhl für Zeitgeschichte, Ruhr-Universität Bochum

Man könnte trefflich darüber streiten, ob das bewegt-unbewegte Pandemie-Jahr 2020 auf erinnerungskultureller Ebene einen weiteren Kollateralschaden gefordert hat – nämlich das offizielle Gedenkjahr zu 1990. Der hierfür anvisierte Erinnerungs- und Debattenmarathon zu dreißig Jahren „Deutscher Einheit“ blieb weitgehend auf die Medien oder digitalen Räume beschränkt. 2019, im Jubiläumsjahr der Friedlichen Revolution, hatte dies noch völlig anders ausgehen, als sich unter dem Eindruck massiver Landtagswahlerfolge der „Alternative für Deutschland“ gerade in den gar nicht mehr allzu neuen Bundesländern erneut ein erheblicher Diskussions- und Orientierungsbedarf nicht nur zwischen Ost und West, sondern auch zwischen verschiedenen Generationen und Gruppen offenbarte. Der Tonfall hatte sich, gerade im Kontrast zu den vormaligen runden Jahrestagen 1999/2000 bzw. 2009/10 merklich verschoben: „1989/90“ erschien in den übergreifenden Diskussionen nicht mehr exklusiv als weitgehend alternativlos-erfolgreiches (und inzwischen bis zur Unkenntlichkeit blindzitiertes) „Ende der Geschichte“; gerade die komplexen Verwicklungen und vielfältigen Widersprüche in den deutsch-deutschen Beziehungsgeschichten wurden zunehmend kritisch erörtert. Während die altgedienten Zeitzeugen die Podiums- und Talkshowsessel allmählich verlassen, nehmen unterdessen jüngere VertreterInnen ihre Plätze ein, die zeitgenössisch festdiskutierten Kategorien und wohlgeordneten Zuordnungen wie „ost(deutsch)“ oder „west(deutsch)“ bzw. „Erfolg“ oder „Scheitern“ nicht mehr bedingungslos folgen wollen oder können.

Gerade also, als im Jahr 2019 merkliche Bewegung und Dynamik in eine lange festgefahrene, dabei stets doch sehr nabelschauartige innerdeutsche Ost-West-Debatte gekommen zu sein schien, wirkte auch hier die COVID-19-Pandemie als großes Stoppsignal: Konferenzen und Workshops mussten abgesagt, Ausstellungen und Lehrveranstaltungen ins Digitale verlegt, Podiumsgespräche und Diskussionsrunden verschoben werden. Für den Bereich der jüngsten Zeitgeschichtsforschung erscheint dieser wissenschaftsöffentliche Lockdown auf den ersten Blick umso bedauerlicher, da das lange noch sehr zögerliche Fach mittlerweile auch die bewegten 1990er Jahre für sich entdeckt hat. Dass die zeitlich zwar relativ nahe, aber zugleich auch eigentümlich ferne Frühgeschichte der Berliner Republik nach 1990 mittlerweile mit großem Nachdruck auf die geschichtswissenschaftliche Agenda rückt, demonstrierten eindrucksvoll die von Christina Morina und Benno Nietzel organisierten „Bielefelder Debatten zur Zeitgeschichte“, deren von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur geförderte Auftaktveranstaltung bewusst dem Themenkreis „Deutschland und Europa seit 1990“ gewidmet war. (Natürlich war, um der Chronistenpflicht hier Genüge zu tun, auch diese Veranstaltung in einer gefühlt sehr weit entfernt gelegenen Vergangenheit im „physischen Präsenzformat“ geplant worden und musste dann doch in den digitalen Raum abwandern.)

Die erstmals durchgeführten Bielefelder Debatten waren zweigeteilt angelegt – in einem Forschungssymposium zu „Interaktionsräumen, Akteuren und Expertenwissen im deutsch-deutschen Transformationsprozess seit 1990“, bei dem laufende Projekte vorgestellt wurden, und in zwei Gesprächsrunden. Als langfristig konzipierte Alltagsgeschichte partizipativer Transformationen von unten umriss ANJA SCHRÖTER (Berlin) im ersten Teil ihr Projekt zu lokaler politischer Kultur und Partizipation im Transformationsprozess. Schröter widmete sich dabei auf der Grundlage von Erinnerungsinterviews und anderen zeitgenössischen Dokumenten den diversen Aktivitäten, Deutungen und Wandlungen verschiedener zivilgesellschaftlicher Gruppen zur Altbausanierung am Beispiel des Prenzlauer Bergs in Berlin sowie auch in Potsdam und Schwerin. Dort hatten diese Gruppen vor, während und nach der Zäsur von 1989/90 stadtgesellschaftliche Impulse unterschiedlicher Art gesetzt, etwa in Form von selbstorganisierten Dokumentations- und Ausstellungsprojekten. Vor 1989/90 sei es den engagierten Aktivisten noch um den physischen Erhalt meist verfallener, aber historischer Bausubstanzen gegangen, während nach 1990 dann Eigentums- und Verteilungsfragen in den Fokus gerückt seien. Ob sich derlei „zivilgesellschaftliches Engagement“ retrospektiv als lokale bzw. ostdeutsche „Schule der Demokratie“ interpretieren ließe oder diese nach 1990 oftmals schnell zerfallenden Initiativen nicht zuletzt durch fortschreitende und vieldiskutierte Gentrifizierungsprozesse doch an ihren ursprünglichen, emanzipatorischen Ansprüchen gescheitert seien, wurde in der anschließenden Diskussion kontrovers erörtert.

Statt den Blick vornehmlich nach unten zu richten, widmete sich BENNO NIETZEL (Bielefeld) verstärkt den von allerlei, meist sehr kurzfristig übergesiedelten westdeutschen Fachleuten und Experten bevölkerten sozialpolitischen Konfigurationen und praktischen Aushandlungen der Transformationsgesellschaft nach 1990. Er entfaltete dabei einen akteurs- und praxisbezogenen Blick auf verschiedene Felder der postsozialistischen beruflichen Arbeitsmarkt-, Weiterbildungs- und Förderpolitiken. Diese beschrieb er als neue, auf regelrechten Sozial-Märkten verhandelte „Subjektivierungsregime“ mit sich merklich verändernden (Selbst-)Qualifikationsvorstellungen. Die rasche Expansion des westdeutschen Sozialstaates gen Osten könne so, jenseits der Pionierstudie von Gerhard A. Ritter, in eine erweiterte Perspektive gerückt werden. Inwiefern in diesen sozialpolitischen Handlungs- und Praxisfeldern altbundesdeutsche Vorerfahrungen (etwa des Strukturwandels) unter den dramatisch-disruptiven Bedingungen gesellschaftlicher Verwerfungen im Osten (durch Arbeitslosigkeit und Abwanderung) letztlich einem neuartigen, „neoliberalen“ Experten-Regiment vor allem nach 2000 Vorschub leisteten (in Form der Ich-AG im Kontext der rot-grünen Agendapolitik), wurde im Anschluss intensiv weiterdiskutiert.

CHRISTOPH HERKSTRÖTER (Bielefeld) verschob den Fokus abermals in die Sphäre der Erinnerungskultur und die hiermit verknüpften musealen Ausgestaltungen und Vorstellungen von Geschichte und ihrer Inszenierung. Er stellte sein neues Forschungsvorhaben am eindrücklichen Beispiel des nach 1965 in der DDR gegründeten und nach 1990 als binationales Projekt weiterbetriebenen Deutsch-Russischen Museums Berlin-Karlshorst vor. Dabei analysierte er die durch Museumsexperten meist mit erheblichem zeitlichen Vorlauf gestalteten Zeit- und Deutungsschichten am konkreten Ort des Museums in ihrem langfristigen Wandel. Im Anschluss wurde die spezifische Grundspannung zwischen derlei musealen Gestaltern, Praktiken und deren jeweiligen Eigenlogiken sowie den rahmenden erinnerungskulturellen Umfeldern debattiert. Diese schließlich im Zusammenhang mit intervenierenden politischen oder öffentlichen Akteuren in disruptiven Transformations- und Umbruchsprozessen als „Geschichtskulturpolitik“ zu beschreiben, wie Herkströter es vorschlug, erwies sich als fruchtbarer Ausgangspunkt für die weiteren Diskussionen.

Die Blickachsen zeitlich wie räumlich weiten sollten schließlich zwei prominent besetzte Gesprächsrunden, die im Anschluss in einem Online-Stream absolviert wurden. Christina Morina diskutierte zunächst mit MARIANNE BIRTHLER (Berlin) und NORBERT FREI (Jena) über Fragen an die Deutsche Einheit 30 Jahre danach. Birthler wie Frei thematisierten dabei als Zeitzeugen bzw. Zeitzeuginnen ihre durchaus unterschiedlichen Erwartungen und Erfahrungen, die sich mit 1989/90 verknüpften: Erschien dies aus der Perspektive der gegen das repressive SED-Regime opponierenden Theologin als ein immenser, aktiv erstrittener Freiheitsgewinn, blickte der westdeutsche Zeithistoriker deutlich skeptischer auf den für viele seiner Generationsgenossen unerwartet wie auch letztlich ungebeten wiederhergestellten deutschen Nationalstaat. Die lebhafte Diskussion entzündete sich nicht zuletzt an Freis zugespitzter Feststellung, dass auch der Gedenkkomplex 1989/90 mittlerweile längst fester Bestandteil einer ebenso routinierten, von Politik, Medien und Wissenschaft regelrecht ritualhaft betriebenen „Geschichtsbewirtschaftungsindustrie“ geworden sei, die mit dem selbst formulierten (und mithin in sich problematischen) Anspruch umfassender „Aufarbeitung“ im Sinne von Aufklärung letztlich wenig gemein habe. Während Birthler also vor allem die positiven bzw. emanzipatorischen Aspekte einer demokratischen Freiheits- und Befreiungsgeschichte sowie die vielfältigen ostdeutschen „Transformationsleistungen“ künftig noch stärker hervorheben wollte, mahnte Frei mehr westdeutsche wie akademische Selbstkritik an – schließlich sei nach 1990 nicht zuletzt der Westen mit dem Osten überfordert gewesen (und sei dies teilweise bis heute noch).

Derlei Überlegungen bildeten eine unmittelbare Brücke in die zweite und abschließende, von Benno Nietzel moderierte Gesprächsrunde mit PHILIPP THER (Wien) und TON NIJHUIS (Amsterdam), die sich verschiedenen Perspektiven auf die europäische Gegenwart widmete. Dieser paneuropäische Blick weitete das Panorama nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich in produktiver Weise. Nijhuis beschrieb 1989/90 weniger als End-, sondern vielmehr als Ausgangspunkt ambivalenter wie entgrenzender Entwicklungsdynamiken, Krisen und Konflikte: Neben Globalisierung und Digitalisierung seien es Zäsuren wie 2001 (Terrorismus), 2007/08 (Finanzkrise), 2015 (Migration) oder 2011/19 (Umwelt), die neuartige, europaweit verbreitete wie populistische Neo-Nationalismen hervorgebracht und befeuert hätten. Diese hätten ihrerseits das europäische Einigungsprojekt massiv unter Zugzwang gesetzt – mit dem vollzogenem Brexit als vorläufigem Höhepunkt. Ther wählte seinerseits eine zeitlich-öffnende Perspektive, verknüpfte diese aber noch stärker mit der jüngsten Pandemie und ihren gesundheitspolitischen Bearbeitungsmustern: 2020 hätten sich die seit Jahrzehnten aufstrebenden populistischen Politiker in Ost und West nämlich kaum als zupackende Krisenmanager erwiesen. Für Ther markieren dieses Scheitern und die tragende Rolle der Staaten als zentrale Akteure in der gegenwärtigen Gesundheitskrisenpolitik ein definitives Ende des nach 1989/90 in Europa „hegemonialen Neoliberalismus“ unter den Feldzeichen von Marktoptimismus und Staatsskepsis. Ther wie Nijhuis zeigten sich einig darin, dass sich die zeithistorische Rückschau auf die letzte Großzäsur von 1989/90 durch die Brille des Pandemie-Jahres 2020 nochmals deutlich verändern werde. Dabei gelte es, die noch immer zu beobachtende westdeutsche Dominanz bzw. den oft impliziten „Westfokus“ der wissenschaftlichen Wahrnehmungs- und Deutungsweisen noch stärker als bislang zu problematisieren.

In dieser Abschlussdebatte, die das auch im digitalen Format inhaltlich bemerkenswert anregende Gesamtpanorama aus konkreten Forschungsprojekten wie übergreifenden Perspektivdiskussionen abrundete, stand auch die Frage nach der Zukunft der zeithistorischen Forschung im Chat-Raum. Wird die stets nach stattlich-staatlichen Drittmitteln und öffentlich-medialer Aufmerksamkeit dürstende Karawane der Zeitgeschichtswissenschaften also einfach weiterziehen ins gelobte Neu-Land der 1990er Jahre – auch wenn der große medial-politische Erinnerungs- und Gedenk-Karneval des Jahres 2020 weitgehend einer unerwartet in den Alltag einbrechenden Pandemie zum Opfer gefallen ist? Der jüngst vorgestellte Bericht der kurzfristig durch das Bundesinnenministerium berufenen Kommission „30 Jahre Friedliche Revolution und Deutsche Einheit“ unterstrich nochmals in einer bemerkenswert bunten Vielgestaltigkeit (neben neuen Forschungsprogrammen wurde etwa die kostenfreie ÖPNV-Benutzung für schwarz-rot-gold-gewandete Fahrgäste am 3. Oktober angeregt), wie sehr Zeitzeugenschaft, Geschichtspolitik und Geschichtswissenschaft in diesem Feld miteinander regelrecht verheddert erscheinen. Letztlich, das machten die Beiträge wie auch die lebhaften Diskussionsrunden der Bielefelder Debatten mehr als deutlich, gilt es nicht nur, die deutsch-deutschen Ost-West-Introspektionen durch differenzierte wie empirische Forschungsansätze zu überwinden, sondern diese auch durch neue, gesamteuropäische Blickachsen zu erweitern. Dies erscheint zugegebenermaßen als allgemeine wie abstrakte Forderung erheblich leichter formuliert als durch konkret empirisch arbeitende Forscherinnen und Forschern (insbesondere in befristeten, in aller Regel durch den akademischen Nachwuchs zu beackernden Projekten) praktisch umzusetzen. Zugleich scheint jedoch auch eine stärkere Sensibilität für neue Formen des Euro- oder Westzentrismus notwendig, wie etwa Philipp Ther kritisch anmahnte: Wie die hierzulande intensiv fokussierte Zäsur 1989/90 etwa in stärker global ausgerichteten Perspektiven zu verorten ist – bei dieser Frage stehen wir gegenwärtig erst am Anfang der Diskussion.

Konferenzübersicht:

Workshop: Interaktionsräume, Akteure und Expertenwissen im deutsch-deutschen Transformationsprozess seit 1990
Christina Morina / Benno Nietzel (beide Bielefeld): Einführung

Anja Schröter (Berlin): Lokale politische Kultur und Partizipation im Transformationsprozess

Benno Nietzel (Bielefeld): Qualifizierung für die Marktwirtschaft. Westdeutsche Experten, Weiterbildung und gesellschaftliche Transformation in Ostdeutschland in den 1990er Jahren

Christoph Herkströter (Bielefeld): Geschichtsräume und Geschichtskultur(politik) in Transformationszeiten. Die museale Vermittlung und die Rolle von Experten in ostdeutschen Museen

Podiumsdiskussion: Vergangene Gegenwart: Deutschland und Europa seit 1990

Fragen an die Deutsche Einheit 30 Jahre danach. Marianne Birthler (Berlin) und Norbert Frei (Jena) im Gespräch mit Christina Morina

Perspektiven auf die europäische Gegenwart. Philipp Ther (Wien) und Ton Nijhuis (Amsterdam) im Gespräch mit Benno Nietzel


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