The Holocaust and the Cold War. Culture and Justice

The Holocaust and the Cold War. Culture and Justice

Organisatoren
Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main; Imre Kertész Kolleg, Jena
Ort
digital (Frankfurt am Main)
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.05.2021 - 28.05.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Sara Berger, Fritz Bauer Institut; Jasmin Söhner, Historisches Seminar, Universität Heidelberg; Markus Wegewitz, Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora

„The Holocaust und the Cold War“ war der Titel einer umfangreichen virtuellen Konferenz, die vom Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main und dem Imre Kertész Kolleg in Jena ausgerichtet wurde. Die Tagung war ursprünglich in Form von zwei eigenständigen Konferenzen zu Kultur und Justiz geplant. Im Verlauf der drei Konferenztage standen so insbesondere die historischen Verbindungen zwischen diesen thematischen Schwerpunkten im Mittelpunkt. Der geographische Fokus der internationalen Konferenz lag auf den Staaten des Ostblocks.

Eingeleitet wurde die Konferenz durch JOACHIM VON PUTTKAMER (Jena) und SYBILLE STEINBACHER (Frankfurt am Main), die den Forschungsstand zur Beziehung zwischen dem Kalten Krieg und der Erinnerung an den Holocaust rekapitulierten. Hierbei brachte von Puttkamer die Frage nach dem heuristischen Wert der Analysekategorie „Kalter Krieg“ in die Diskussion ein. Steinbacher bot einen Überblick über die frühe Ermittlungs- und Ahndungstätigkeit der europäischen Staaten gegen NS-Verbrecher und einheimische Kollaborateure und fragte nach der Verflechtung und Dynamik zwischen den Ostblockstaaten bei der Durchführung der zweiten Welle von Prozessen in den 1960er-Jahren.

MARY FULBROOK (London) nahm in der ersten Keynote Lecture die europäische Dimension des Holocaust und dessen Nachgeschichte in den Fokus. Hierbei verwies sie auf die große Anzahl von Personen, die Anteil an Schuld, Komplizenschaft und Wissen hatten, wobei sie die Bedeutung des Beitrags der lokalen Kollaborateure betonte. Sie sieht es als ein europäisches (und nicht nur westdeutsches) Phänomen, dass das Wissen der Zeitgenossen um die massenhafte Beteiligung an der „Endlösung der Judenfrage“ nach 1945 verloren ging bzw. aktiv gedämpft wurde: Je sichtbarer die „Schuld“ der Haupttäter durch die juristische Aufarbeitung der Verbrechen wurde, desto mehr verschwand die weit verbreitete „Komplizenschaft“ aus dem Sichtfeld der Öffentlichkeit – was Fulbrook auch mit den Verjährungsfristen für mindere und schwere Verbrechen erklärt.

In der zweiten Keynote Lecture beschäftigte sich JAN TOMASZ GROSS (Princeton / Berlin) vor allem mit dem jüdischen Leben in Osteuropa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, das vom Umgang mit Kollaboration und Besatzungsherrschaft unmittelbar betroffen war. Der Holocaust hatte gerade dort in seinen demografischen und ökonomischen Dimensionen nahezu jeden Bereich des gesellschaftlichen Lebens verändert. Die Einbeziehung großer Teile der besetzten Gesellschaften in Mord, Verfolgung und Ausplünderung beeinflusste nach 1945 die Legitimierungserzählungen der neuen sozialistischen Staaten. In den Narrativen über homogene nationale Zugehörigkeit und Widerstand wurde die Geschichte des Holocausts de-thematisiert, wie Gross vor allem für die Volksrepublik Polen nachzeichnete. Staatliches Kalkül war es ebenso, sich nach 1945 mit dem weitverbreiteten Antisemitismus zu arrangieren, der vielerorts das Verhältnis zwischen Kommunistischer Partei und Bevölkerung zu belasten drohte. In dieser strategischen Blindheit der Meistererzählungen vor allem der 1940er- bis 1960er-Jahre war der Holocaust ein „Verbrechen der anderen“, von dem vermeintlich nur eine Minderheit betroffen und beteiligt gewesen war. Kollaboration und Antisemitismus waren laut Gross im Kalten Krieg zentrale Erklärungsfaktoren in Ost und West bei der zögerlichen gesellschaftlichen Annährung an die Verbrechensgeschichte.

Im Panel I wurde die umstrittene und fragmentierte, öffentliche und lokale Erinnerung an den Holocaust in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten näher betrachtet. IDO DE HAAN (Utrecht) verwies darauf, dass der Kalte Krieg nicht nur ein internationales Ereignis darstellt, das die außenpolitische Arena strukturierte, sondern sich auch innerhalb von Nationalstaaten abspielte. Die Trennlinie zwischen kommunistischen und bürgerlichen Kräften führte in den Niederlanden dazu, dass erst ab Mitte der 1960er-Jahre wieder ein gemeinsames, öffentliches Erinnern an den Generalstreik von Februar 1941 möglich wurde, als es sich auf das jüdische Leiden konzentrierte. Eine weitere Differenzierung zeigte SIMON PEREGO (Paris) am Beispiel der Gedenkveranstaltungen der jüdischen Gemeinde in Paris auf. Die überlebenden Juden stellten sowohl nach Herkunft, als auch politischer Orientierung keine homogene Gruppe dar. HANA KUBÁTOVÁ (Prague) hingegen verfolgte einen anderen Ansatz: Sie deutete die auch in der Nachkriegs-Slowakei weit verbreitete Verdrängungsstrategie von Beteiligung und Mitwisserschaft an Verbrechen nicht als Abwesenheit von Gefühlen, sondern als Zeichen deren Präsenz. Dabei verortete sie bis 1949 jüdische Stimmen als Alternative zum hegemonialen, kommunistischen Narrativ. In der Diskussion wurde die Fruchtbarkeit einer „Nachbarschafts“-Perspektive für die Frage nach gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen aufgezeigt und auf die Verflechtung von lokaler Perspektive und gesellschaftlichen Veränderungen verwiesen.

ALEXANDER WALTHER (Jena) erläuterte im Panel II das Wirken des jüdischen Historikers Helmut Eschwege in der DDR, das er unter den Punkten Literature, Archives und Research erforschte. Er stellte klar, dass es auch in der DDR Holocaustforschung gab, und betonte die Bedeutsamkeit einzelner Akteure, die in internationale Netzwerke von Survivor Scholars über den Eisernen Vorhang hinweg eingebunden waren, wie es im Verlauf der Tagung auch noch anhand der Beispiele von Imre Kertész, Jenő Lévai, Friedrich Karl Kaul, Ota Kraus and Erich Kulka deutlich wurde. Die Kunsthistorikerin AGATA PIETRASIK (Warsaw / Berlin) stellte anschaulich die „War Crimes Exhibitions“ in der unmittelbaren Nachkriegszeit in Frankreich und Polen vor, darunter die Wanderausstellung „Crimes Hitlériens“ und das polnische Pendant „Les Crimes allemands en Pologne“. Sie hob die Interaktionen zwischen den Ausstellungen hervor, die sowohl aufklärerisch, als auch metaphorisch und symbolisch arbeiteten, wobei sie in Polen einen national-religiösen Anhauch hatten. Sie hob in der Diskussion hervor, dass das Schicksal der Juden in den polnischen Ausstellungen verschleiert und auch in Frankreich nur randständig behandelt wurde. Jüdische Überlebenden-Organisationen versuchten in beiden Ländern, diese Lücken mit Gegenausstellungen zum jüdischen Widerstand zu schließen. MICHAEL FLEMING (London) betonte in der Diskussion die verschiedenen Perioden und Themenschwerpunkte von (polnischen) Historikern bei der Analyse der Kriegsjahre und des Holocaust in Polen.

Panel III befasste sich mit einer Fülle von Theaterstücken und literarischen Werken, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn Aspekte der Shoah thematisierten. TAMÁS SCHEIBNER (Budapest) widmete seinen Vortrag der langen Entstehungsgeschichte von Imre Kertész „Roman eines Schicksallosen“1 sowie den intellektuellen und politischen Einflüssen auf das Werk. Fragen nach der Positionierung innerhalb der europäischen Ideengeschichte, nach der Funktion von literarischer Zeugenschaft und nach der Bedeutung nationaler Zuordnung von Täter- und Opferschaft spielten auch in anderen kulturellen Repräsentationen eine wichtige Rolle. In der staatlich regulierten Kulturproduktion, die ELISA-MARIA HIEMER (Marburg / Gießen) für Polen beschrieb, schrieben Autor:innen in ihren Stücken vor allem nationale Apologetik und Leugnungsdiskurse fort. Chair KATRIN STOLL (Jena) verwies etwa auf die antisemitischen Tropen in Andrzej Szczypiorskis Roman „Początek“.2 Zugleich boten sich hier aber auch Spielräume, um hegemoniale staatliche Narrative über den Judenmord zu modifizieren und zu unterlaufen. Hiermers Plädoyer, solche Freiräume in sozialistischen Gesellschaften vergleichend zu erforschen, ist deswegen sehr wertvoll. URSZULA KOWALSKA-NADOLNA (Poznań) rückte bei ihrer Überblicksdarstellung zur tschechischen literarischen Bearbeitung des Holocausts insbesondere Fragen der (Nicht-)Darstellbarkeit in den Mittelpunkt und beschrieb die Konjunkturen des Themas in den ersten Nachkriegsjahren, den 1960er-Jahren und nach 1989.

Repräsentationen der Shoah im Film wurden im Panel IV interdisziplinär diskutiert. BERNHARD GROSS (Jena) stellte in seinem Vortrag die Atrocity-Filme der Alliierten zur Diskussion, die in den 1940er Jahren das kinematische Vokabular in der Darstellung der Konzentrationslager geformt hatten. Die ungarische Filmproduktion der 1960er Jahre wurde von BALÁZS VARGA vorgestellt. Dort – aber auch in anderen sozialistischen Staaten – existierte eine verhältnismäßig kleine Zahl von „modernistischen“ Filmproduktionen, die die vergangenen Verbrechen mit der gesellschaftlichen Gegenwart verknüpfte. In Mittelpunkt der Narration standen vor allem psychologische Aspekte und die Möglichkeit zur Identifikation mit verschiedenen Rollen und Akteur:innen. Ein bemerkenswerter Film in dieser Reihe ist „Hideg napok“ (deutsch: Kalte Tage, 1966), der auch im Rahmen der Konferenz aufgeführt wurde. RITA HORVÁTH (Wien) wies in ihrer Analyse des Films auf das investigative Moment hin, mit dem der Film sein Publikum einbezieht. In Zentrum steht die Rolle des ungarischen Militärs am Massaker von Novi Sad im Januar 1942. Die vier Protagonisten werden gleich einem Kammerspiel in einer Gefängniszelle inszeniert, in der sie auf ihre Verurteilung wegen der Beteiligung an diesem Verbrechen warten. Ihre Handlungen und Motivationen werden, basierend auf Unterlagen aus der realen Gerichtsverhandlung, in Rückblenden erfahrbar. Die Sprache des Films ist auch transnational beeinflusst, etwa von „Rashomon“ (Japan 1950) und „Hiroshima, mon amour“ (Frankeich 1959). Zudem unterläuft „Hideg napok“ die etablierte Rollen-Typologie: Deutlich werden Nuancen der Täterschaft und die Unmöglichkeit des passiven Beobachtens. Die Verschränkung von Filmen, ihren literarischen Vorlagen und Gerichtsprozessen, die KATHARINA RAUSCHENBERGER (Frankfurt am Main) in der Diskussion anmerkte, ist eine interessante Verbindung von „Culture and Justice“, die der Konferenztitel hervorheben wollte.

Panel V verhandelte eines der zentralen Themen der Konferenz: Den Stellenwert des Antifaschismus sowohl für die individuellen Aktivitäten als auch im offiziellen Diskurs der kommunistischen Parteien. Er spielte in internationalen Kampagnen eine wichtige Rolle, sollte aber nicht allein als Verschleierung einer kommunistischen Orthodoxie verstanden werden. Wie KATA BOHUS (Tromsø) überzeugend anhand der ungarischen Presseberichterstattung zum Eichmann-Prozess darlegte, bot ein antifaschistischer Diskurs auch in der Parteipresse Raum zur Thematisierung jüdischer Opferschaft. MÁTÉ ZOMBORY (Budapest) ergänzte diesen Befund um die Aneignung antifaschistischer Narrative durch Überlebende, Aktivist:innen und Historiker:innen. Am Beispiel des ungarischen Nazijägers Jenő Lévai stellte Zombory die Vernetzungen3 zwischen Ost und West heraus, die über solche Rahmungen hergestellt werden konnten, und erweiterte so eine Herangehensweise, die Antifaschismus vorrangig als staatliche Ideologie fassen möchte. Dies hatte ANDRÁS KOVÁCS (Budapest / Wien) unternommen, als er die Unsichtbarkeit der jüdischen Opfer in den Gremien der Ungarische Sozialistischen Arbeiterpartei anhand der Aktenüberlieferung nachwies. So wichtig die Rekonstruktion der parteioffiziellen Seite der Geschichte auch ist, zeigt sich an vielen Stellen (wie dem Eichmann-Prozess) der eigenwillige Umgang mit offiziellen Diktionen.

Das Panel VI widmete sich der Frage der Einbindung von Prozessen in die ostdeutsche Kampagnen-Politik sowie, daran anknüpfend, der Rechtsstaatlichkeit der ostdeutschen Verfahren gegen NS-Verbrecher. HERMANN WENTKER (Berlin) zeigte auf, wie der ostdeutsche Staat die Folgen einer rückwirkenden Übernahme von alliierten strafrechtlichen Normen in der Praxis in den 1960er-Jahren einschränkte: Der deutsch-deutsche Systemkonflikt sei, wenngleich auf unterschiedliche Weise, immer bei der ostdeutschen Entscheidung, ob ein Verfahren eröffnet werden sollte, präsent gewesen. LORENA DE VITA (Utrecht) untersuchte, wie die DDR mit Hilfe ihrer diplomatischen Vertretungen den Eichmann-Prozess für ihre außen- und innenpolitischen Interessen zu nutzen suchte. De Vita verwies dabei auch auf die Rezeption durch die blockfreien Staaten, die in der Forschung teils vernachlässigt werde. KATHARINA RAUSCHENBERGER (Frankfurt am Main) untersuchte die Rolle des ostdeutschen Anwalts Friedrich Karl Kaul, der die Teilnahme der DDR am Eichmann-Prozess forciert hatte, aber bei dem im Juli 1963 stattfindenden Globke-Prozess in Ost-Berlin, der als Fortführung des Jerusalemer Prozesses konzipiert war, trotz seiner inhaltlichen Expertise und symbolischen Kapitals nicht dabei war. Kaul deutete den (historischen) Zionismus als faschistische Ideologie (vgl. die virulente Debatte in Israel um die Kasztner-Affäre). In der Diskussion wurde nach den Handlungsspielräumen einzelner Akteure gegenüber der Staatssicherheit gefragt.

AUDREY KICHELEWSKI (Strasbourg) behandelte im Polen gewidmeten Panel VII ein Verfahren, das in den 1960er-Jahren in Olsztyn gegen den vorherigen Polizeichef von Braslaw (nunmehr Weißrussische Sozialistische Sowjetrepublik) geführt wurde. Wie viele der wenigen Prozesse, die nach der Amnestie von 1956 noch stattfanden, behandelte es Verbrechen in einem nicht mehr zu Polen gehörenden Gebiet. Initiiert und vorangetrieben wurde der Prozess von jüdischen Überlebenden, weshalb Kichelewski die transnationalen Implikationen bei den in Israel und den USA gehörten Zeugen hervorhob. ŁUKASZ JASIŃSKI (Berlin) nahm die Main Commission for the Investigation of Hitlerite Crimes in Poland 1967–1968 auf dem Höhepunkt des propagandistischen Missbrauchs der Institution im Kontext der nationalzentrierten, antifaschistischen und antizionistischen Kampagne in den Blick. Er analysierte die propagandistischen Leitlinien der im April 1968 stattgefundenen Hauptversammlung der Main Commission wie die Betonung der Hilfe von Polen gegenüber Nichtjuden und der jüdischen Kollaboration mit Nazis, gepaart mit dem bizarren Vorwurf einer gegen Polen gerichteten „Washington – Bonn – Tel Aviv“-Achse. ZOFIA WÓYCICKA (Warsaw) wandte sich dem Museum Auschwitz zu und nahm das über den Eisernen Vorhang hinaus vernetzte Internationale Auschwitz-Komitee in den Blick, wobei sie die Spannungen zwischen den west- und osteuropäischen Vertretern des Komitees und die Grenzen durch den Kalten Krieg aufzeigte. Im Museum von Auschwitz wurde statt der jüdischen Herkunft der Opfer deren Internationalität hervorgehoben; auch andere nicht widerständige Häftlingsgruppen wurden marginalisiert.

MICHAEL KRAUS (Middlebury, Vermont) gab im Panel VIII zur Tschechoslowakei einen Einblick in das Wirken seines Vaters Ota Kraus und Erich Kulka, die als Auschwitz-Überlebende den vielfach aufgelegten und mehrfach übersetzten Bericht „Die Todesfabrik“ verfassten, in Prozessen aussagten und sich dafür einsetzten, dass das besondere Schicksal der Juden gewürdigt würde. Er zeigte Kritik und Druck, denen die beiden in den 1950er- und 1960er-Jahren im Kontext des Kalten Kriegs ausgesetzt waren. JAN LÁNÍČEK (Sydney) analysierte den Kollaborationsprozess gegen Erich Kraus, während des Kriegs Stellvertreter des Judenältesten. Er verwies darauf, dass dieser in der Atmosphäre eines zunehmenden Antisemitismus parallel zum Slánský-Prozess 1952 stattfand und Teil der Instrumentalisierung der Holocaust-Justiz in der Tschechoslowakei war: Nicht erreichtes Ziel war es u.a., den Zionisten Kraus als Spion in der jüdischen Gemeinde gewinnen zu können. VOJTĚCH KYNCL (Prague) analysierte die Tätigkeiten der 1965 eingerichteten, interdisziplinären Czechoslovak Government Commission for the Prosecution of Nazi War Criminals, die Zugriff auf Archivmaterialien hatte und Kontakte mit den Justizbehörden in Österreich, Deutschland und den sozialistischen Staaten pflegte. Kyncl verwies auf das von der Tschechoslowakei initiierte erste Koordinationstreffen im September 1965 in Prag mit sozialistischen Justizexperten aus der Sowjetunion, Ungarn, Bulgarien, Rumänien und Jugoslawien, bei dem eine gemeinsame Kampagne gegen Westdeutschland festgelegt wurde: Mit Hilfe von sorgfältig zusammengestellten Memoranden sollte eine – nicht realisierbare – Extradiktion von NS-Verbrechern beantragt werden.

Das Panel IX beinhaltete zwei Fallstudien zu der zweiten Welle von Prozessen gegen Kollaborateure in der Sowjetunion. Hierüber ist aufgrund des eingeschränkten Archivzugangs bisher am wenigsten bekannt. DAVID ALAN RICH (Washington, D.C. / Bologna) analysierte die Mediatisierungsformen acht sowjetischer Prozesse gegen Trawniki-Männer 1960–1970. Hierbei hob er das Spannungsverhältnis zwischen „judicial imperative, propaganda opportunism and risk inversion“ hervor. GINTARÉ MALINAUSKAITÉ (Vilnius) untersuchte einen öffentlichen Prozess zur Tötung von Juden in Skuoadas, der 1964 in Klaipėda stattfand, wobei sie die transnationalen Referenzen dieses Tatorts betonte: zum einen konnte er an den Ulmer Einsatzgruppen-Prozess anknüpfen, zum anderen handelte es sich bei dem in Abwesenheit angeklagten litauischen Priester um einen wichtigen Repräsentanten der Exilcommunity in den USA. Die in der Diskussion angeschnittene Frage, ob auch in der Sowjetunion das von Wentker für die DDR konstatierte Opportunitätsprinzip herrschte, blieb offen. Die weitaus bessere Beweislage und Professionalisierung der sowjetischen Prozesse in den 1960er-Jahren im Vergleich zu den 1940er-Jahren wurden von beiden Vortragenden betont. Malinauskaité verwies hier u.a. auf die „Lithuanisierung“ des ermittelnden KGB (Orts- und Sprachkenntnisse), während Rich die Änderung der rechtlichen Normen (sowjetisches Strafgesetzbuch und Strafprozessrecht) hervorhob.

NORBERT FREI sprach in der Abschlussdiskussion Periodisierungen des in der Konferenz behandelten Zeitrahmens an, wobei er die Bedeutung der 1950er und 1960er Jahre sowie die Eigenständigkeit der unmittelbaren Nachkriegsjahre hervorhob. Er stellte die Frage nach der Bedeutung des Kalten Krieges für die beobachteten Entwicklungen. Die Frage nach Periodisierungen auch in Bezug zu anderen historischen Ereignissen und nach möglichen Wendepunkten thematisierten auch Sybille Steinbacher und Mary Fullbrook, welche zusammenfassend mehrere dominante Aspekte der Tagung hervorhob: die gegen Überlebende gerichtete „intimate violence“, das Zusammenleben mit Nachbarn, die sich an der Verfolgung beteiligt haben, den generationellen Wandel, das Fortbestehen von Antisemitismus und Antizionismus, die Schwierigkeiten, die jüdische Verfolgung als spezifisch wahrzunehmen und die Bedeutung von individuellen Akteuren und ihrer über den Eisernen Vorhang hinaus agierenden Netzwerke. Sie lud dazu ein, den Blick auch auf die BRD als politisiertes Rechtssystem zu werfen. Natalia Aleksiun sprach sich dafür aus, bei der Untersuchung von Holocaust und Kaltem Krieg die History of Emotions nicht aus dem Blick zu verlieren.

Die Konferenz hat die signifikanten Auswirkungen des Kalten Krieges auf den Umgang mit dem Holocaust deutlich gemacht. Institutionelle, (national-)staatliche und ideologische Setzungen der Blockkonfrontation waren entscheidend sowohl bei der Marginalisierung als auch bei der Konfrontation mit den jüdischen Opfern und den Facetten des Umgangs mit Täterschaft nach 1945. Gleichzeitig waren die Bemühungen der juristischen Aufarbeitung, einzelne Gerichtsprozesse, Filme, Theaterstücke und literarische Werke Kristallisationspunkte vielfältiger Aktivitäten jenseits staatlicher Hegemonien. Für das bessere Verständnis der gesellschaftlichen Zwischentöne, der transnationalen Verbindungen und individueller (jüdischer) Akteur:innen hat die Tagung zahlreiche Fallstudien geliefert. Es bleibt eine Aufgabe der Forschung, Grauzonen, Handlungsspielräume und informelle Verbindungen in den einzelnen europäischen Gesellschaften und darüber hinaus genauer zu kartographieren. Das gilt auch für Westdeutschland, das in der Tagung vor allem als Objekt antifaschistischer Kampagnenpolitik eine Rolle gespielt hat. Insofern regt die Tagung zum Nachdenken und weiteren Forschungen an.

Konferenzübersicht:

Introduction

Joachim von Puttkamer (Imre Kertész Kolleg Jena / Friedrich-Schiller-Universität Jena)

Sybille Steinbacher (Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main)

Key Notes

Mary Fulbrook (University College London): The Holocaust as an European Project

Jan Tomasz Gross (Princeton University): Reflections about Jewish Life in Eastern Europe after the Second World War

Panel I: Societies
Chair: Raphael Utz (Imre Kertész Kolleg Jena)

Ido de Haan (Utrecht University): Fragmented Commemorations. The Cold War in Dutch Holocaust Memory

Simon Perego (Institut National des Langues et Cultures Orientales, Paris): Holocaust Memory in France during the Cold War. A Historiographical Reconsideration

Hana Kubátová (Karls-Universität, Prag): Guilt, Responsibility, and Trauma. Restoring Moral Self-Image in Post-war Slovakia

Panel II: Research
Chair: Paulina Gulińska-Jurgiel (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg)

Michael Fleming (Polish University Abroad, London): The Polish Government-in-Exile and the Government in Warsaw

Alexander Walther (Friedrich-Schiller-Universität Jena): East German Survivor Historians and their Networks

Agata Pietrasik (Warszawa/Berlin): War Crimes Exhibitions in France and Poland

Panel III: Litteratures
Chair: Katrin Stoll (Imre Kertész Kolleg Jena)

Elisa-Maria Hiemer (Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung, Marburg): Polish Literature on the Holocaust and its Reception in East and West

Tamás Scheibner (Eötvös Loránd Universität Budapest): Imre Kertész and the Helsinki Process

Urszula Kowalska-Nadolna (Adam Mickiewicz Universität, Poznań): The Czech Literary Response to the Holocaust

Panel IV: Films
Chair: Golnaz Sarkar-Farshi (Friedrich-Schiller-Universität Jena)

Bernhard Groß (Friedrich-Schiller-Universität Jena): Western European Film and the Holocaust

Balázs Varga (Eötvös Loránd Universität Budapest): Hungarian Holocaust Film in the 1960s

Rita Horváth (Wien): Cold Days (Hideg Napok) by András Kovác (Hungary 1966)

Panel V: Jurisdiction Hungary
Chair: Éva Kovács (Vienna Wiesenthal Institute for Holocaust Studies)

Kata Bohus (Universität Tromsø): The Eichmann Trial in Hungarian Public. Holocaust Memory in the Socialist Press and Propaganda

András Kovács (Central European University, Budapest / Wien): „This is not a Jewish question; this is a question of fascism and anti-fascism“ – The Eichmann-case and the Hungarian Socialist Workers’ Party

Máté Zombory (Eötvös Loránd Universität Budapest): Holocaust Historian or Antifascist Nazi Hunter? Jenő Lévai and the Second Wave of War Crimes Trials

Panel VI: Jurisdiction GDR
Chair: Annette Weinke (Friedrich-Schiller-Universität Jena)

Hermann Wentker (Institut für Zeitgeschichte München-Berlin): Trials of Nazi Perpetrators in the GDR in the 1960s. How Important was the Inner-German Context?

Lorena De Vita (Utrecht University): Preparing for Jerusalem: The Eichmann Trial as a Warsaw Pact Concern

Katharina Rauschenberger (Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main): Friedrich Karl Kaul in Jerusalem and After. Trials in the Antifascist Campaigns

Panel VII: Jurisdiction Poland
Chair: Andrea Rudorff (Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main)

Audrey Kichelewski (Université de Strasbourg): Local Collaborators on Trial. A Transnational Case Study in 1960s Poland

Łukasz Jasiński (Zentrum für historische Forschung Berlin der Polnischen Akademie der Wissenschaften): Under Political Pressure. The Main Commission for the Investigation of Hitlerite Crimes in Poland in 1967–1968

Zofia Wóycicka (Deutsches Historisches Institut, Warszawa): Auschwitz in the 1950s–1960s: Shared European Heritage?

Panel VIII: Jurisdiction Czechoslovakia
Chair: Nadège Ragaru (Sciences Po, Paris)

Michael Kraus (Middlebury College, Middlebury, Vt.): Ota Kraus and Erich Kulka as Holocaust Historians

Jan Láníček (University of New South Wales, Sydney): Communist Use and Abuse of Wartime „Jewish Collaboration“ in Trials during the 1940s and 1950s

Vojtech Kyncl (Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik, Prag): From the Eichmann Case to the Malloth Trial. The Czechoslovak Government Commission for the Prosecution of Nazi War Criminals (1965–1990)

Panel IX: Jurisdiction Sovjet Union
Chair: Dmitry Astashkin (St.-Petersburg Institut für Geschichte der Russische Akademie der Wissenschaften, Moskau)

David Alan Rich (Bologna): Footsoldiers Face Justice: »Aktion Reinhard« Camp Guards’ Soviet Trials, 1960–1970

Gintaré Malinauskaite (Außenstelle des Deutschen Historischen Instituts Warszawa in Vilnius): Holocaust and Soviet War Crimes Trials in the Cold War Context. The Case of Soviet Lithuania in the 1960s

Comments and Conclusion

Natalia Aleksiun (Touro College, New York)

Norbert Frei (Friedrich-Schiller-Universität Jena)

Mary Fulbrook (University College London)

Joachim von Puttkamer (Imre Kertész Kolleg Jena / Friedrich-Schiller-Universität Jena)

Sybille Steinbacher (Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main)

Anmerkungen:
1 Ungarisch: Sorstalanság, Erstveröffentlichung 1975.
2 Auf Deutsch erschienen unter dem Titel „Die schöne Frau Seidenman“, Erstveröffentlichung 1986.
3 Natalia Aleksiun schreibt von einem „Invisible Web“; vgl. Natalia Aleksiun, An Invisible Web. Philip Friedman and the Network of Holocaust Research, in: Regina Fritz u.a. (Hrsg.), Als der Holocaust noch keinen Namen hatte. Zur frühen Aufarbeitung des NS-Massenmordes an den Juden / Before the Holocaust Had Its Name. Early Confrontations of the Nazi Mass Murder of the Jews, Wien 2016, S. 149–165.