HT 2021: Geschlecht und Demokratie: Deutungskämpfe um die Ordnung der bundesrepublikanischen Gesellschaft

HT 2021: Geschlecht und Demokratie: Deutungskämpfe um die Ordnung der bundesrepublikanischen Gesellschaft

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
hybrid (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2021 - 08.10.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Lukas Alex / Daniel R. Bonenkamp, Historisches Seminar, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Wie steht es um die historische Forschung zur Verflechtung von „Demokratie und Geschlecht“ insbesondere in Bezug auf die Bundesrepublik? Dieser Frage stellt sich der gleichnamige Arbeitskreis, der seit 2017 am Institut für Zeitgeschichte (München/Berlin) angesiedelt ist. Die dort gemachte Ausgangsbeobachtung stellte Sprecherin MARTINA STEBER (München/Berlin) zu Beginn der Sektion vor: Die Aushandlung von Geschlechterordnungen habe die Demokratiegeschichte der Bundesrepublik maßgeblich geprägt, und zwar in einem in der deutschen Geschichtsschreibung bislang vernachlässigten Maße.

Einleitend erinnerte Steber insbesondere an die Widersprüchlichkeiten zwischen verfassungsmäßigem Gleichberechtigungsgrundsatz sowie den geschlechtsspezifisch determinierten Teilhabechancen und Rollenverteilungen in der frühen Bundesrepublik. Die Sektion drehe sich daher um die zentrale Frage, inwiefern Produktion und Praxis der Demokratie mit der sozialen Kategorie Geschlecht verwoben waren. Dazu gelte es die Ansätze „doing gender“ und „doing democracy“ miteinander zu kombinieren und so die Geschichte der Bundesrepublik als „geschlechterpolitisches und demokratietheoretisches Laboratorium“ neu zu denken. Entsprechend widersprüchlich, so Steber, seien die in den Sektionsbeiträgen gezeichneten Bilder der ersten drei Nachkriegsjahrzehnte. Dabei würden diese nur die Offenheit der Ausgangssituation des „Demokratieprojekts“ und die (bis heute fortwirkende) Aushandlungen um die (Un-)Gleichheit der Geschlechter reflektierten. Die Sektion wolle Geschlecht als historische Analysekategorie nicht nur da erkennen, wo es Gegenstand der Debatte war, sondern auch dort, wo es lediglich als Argument diente, eine vernachlässigte Kategorie darstellte oder kulturelle Normen beeinflusste. Steber forderte einen deutlich stärkeren Einbezug dieser Perspektive in die bestehenden Narrative bundesrepublikanischer Geschichtsschreibung. Die Beiträge der Sektion fokussierten bewusst auf die ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik, da diese von einer besonders intensiven Auseinandersetzung über die Demokratie und die damit verbundene Geschlechterordnung geprägt waren.

Zunächst nutzte KIRSTEN HEINSOHN (Hamburg) das Beispiel des Journalisten Oskar Stark, um zu illustrieren, wie in der Frühzeit der Bundesrepublik „Demokratie“ vorrangig als männliches Projekt gedacht wurde. Demokratie sei zwar die „schwerste aller Regierungsformen“, so Stark, zugleich aber auch die „vornehmste“, da sie mehr als jede andere der Würde des Menschen entspräche. Zugleich wies Stark dabei auf traditionell als männlich geltende Tugenden hin, wie etwa Zivilcourage, Verantwortungs- und Entscheidungsfreude sowie Fairness, die Demokratie bedingten. Angelehnt an den realistischen Demokratiebegriff verstand Stark diese Herrschaftsform als ein realistisches Verfahren, „mit dem handlungsfähige und legitime Regierungen über Wahlen gefunden werden können“. Das Demokratieverständnis Starkes sei insofern überraschend, so Heinsohn, als sich gerade in der unmittelbaren „Zusammenbruchgesellschaft“ zahlreiche Frauenausschüsse und Parteien gebildet hätten, die für eine Einbeziehung der Frau in den politischen Aufbau plädierten: Um die patriarchale Herrschaft, die im Nationalsozialismus einen Höhepunkt erreicht habe, dauerhaft zu überwinden, bedürfe es der „Einbeziehung von Frauen in den demokratischen Aufbau“. Für Heinsohn habe das Demokratieverständnis in der früheren Bundesrepublik zwar ein neues Modell von Männlichkeit ermöglicht, zeitgleich jedoch eine gleichberechtigte Partizipation von Frauen verhindert. Eine nachhaltige Gleichberichtigung der Frau habe frühestens in den 1960er-Jahren eingesetzt, da sich beispielsweise durch die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus das realistische Modell hin zu einem weiter gefassten Verständnis von Demokratie verschoben habe. Diese sei bis dahin in Westdeutschland einem „Gruppenbild ohne Dame“ – so der sprechende Titel des Vortrags – gleichgekommen.

TILL VAN RAHDEN (Montréal) betrachtete in seinem Beitrag – in produktiver Spannung zu Heinsohn – die aus der Männerherrschaft des Nationalsozialismus gezogenen Lehren im Zeitungswesen, in Publizistik und konfessionellen Soziallexika. An mehreren Beispielen der späten 1940er- und 1950er-Jahre zeige sich die Forderung nach der Abkehr vom Patriarchat und der Hinwendung zur Frauenbeteiligung beim demokratischen Staatsneubau. Van Rahden konstatierte infolgedessen den Bedeutungswandel des Patriarchatsbegriffs: In den 1950er- und 1960er-Jahren habe dieser eine Kehrtwende von dem Ideal der „guten Ordnung“ zu einem „Schreckbild“ und zentralen Terminus feministischer Kritik an patriarchalen Machtstrukturen durchlaufen. Van Rahden beschrieb diese Zeit als den „Herbst der Patriarchen“, in welcher die Idee der männlichen Vorherrschaft nicht länger mit jener der Demokratie als Lebensform übereinging. Als 1959 der Vorrangstellung des Mannes die rechtliche Grundlage entzogen wurde, habe dies, so van Rahden, kaum eine Zäsur bedeutet. Der Historiker räumte jedoch auch ein, dass jenseits der gesetzlich festgeschrieben „‚demokratischen‘ Familie“ die Realitäten geschlechtsspezifischer Ungleichheit facettenreich waren. In Bildung, Beruf und Kinderbetreuung wirkten patriarchale Strukturen deutlich über das Ende der 1960er-Jahre hinaus. Abschließend verwies van Rahden darauf, dass es nach dem allmählichen Ablösen des Patriarchats neue Ideale von Männlichkeit und Väterlichkeit auszuhandeln galt.

Im letzten Vortrag der Sektion verwies ISABEL HEINEMANN (Münster) auf die unzureichende Forschungslage zur Familie als Untersuchungsgegenstand bei der Ausgestaltung des westdeutschen Demokratieprozesses. Heinemann ging davon aus, dass die patriarchale Familie „den Transformationsprozess von der nationalsozialistischen Diktatur in die westdeutsche Demokratie erleichterte“. Die vorherrschende Geschlechterordnung, also der Mann als politischer Akteur und die Frau als Hausfrau und Mutter, sei somit fortgeschrieben worden. Für ihre Überlegungen führte Heinemann vier Thesen an: Die Vorstellung von der patriarchalen Familie als möglicher Stabilitätsgarant habe auf den einseitig interpretierten Studien der westdeutschen Nachkriegssoziologie beruht, so der erste Punkt. Diese Ergebnisse der Studien von Helmut Schelsky, so die zweite These, hätten in der Gründung des Familienministeriums resultiert, da die Regierung Adenauer Schelskys Überlegungen für die Restauration der traditionellen Geschlechterordnung als „Keimzelle der Demokratie“ verwendet habe. Drittens habe die politische Debatte um die Gleichberechtigung in den 1950er-Jahren die traditionelle Rollenverteilung nicht angetastet. Heinemann bekräftigte ihre Argumentation anhand des Gesetzes zur Gleichstellung von Mann und Frau (1957), das auf Druck des Bundesverfassungsgerichts zustande gekommen sei. Abschließend argumentierte die Historikerin, dass trotz der Familienrechtsreform 1976/77 die meisten Ehefrauen weiterhin für den Haushalt und die Erziehung zuständig gewesen seien. Zwar habe besagte Gesetzesänderung beispielsweise die Anerkennung der partnerschaftlichen Ehe beinhaltet, doch hätten sich traditionelle Ehe- und Familienkonzepte weitaus länger gehalten und die soziale Praxis geformt. Für eine angemessene Zeitgeschichtsschreibung der Bundesrepublik sei es daher geboten, geschlechterhistorische Untersuchungen stärker in die Narrative mit einzubeziehen.

CHRISTINA VON HODENBERG (London) kommentierte die Beiträge anhand von vier Punkten. (1) Sie bemerkte zunächst, dass alle drei Beiträge ein sehr homogenes Bild historischer Akteurinnen und Akteure zeichneten. Zur Differenzierung fragte sie nach Beispielen intersektionaler Differenzkategorien, die sich mit dem Faktor Geschlecht verschränkten. Interessant sei auch, ob sich in der Diskussion um die Frauenrechte Vorreitergruppen identifizieren lassen. (2) Anschließend hinterfragte von Hodenberg die Widersprüchlichkeit der vorgestellten Periodisierungen. Es frage sich mit Verweis auf die katholische Prägung der 1950er-Jahre, ob nicht die fortschrittlichen Aspekte zu sehr betont worden seien und das „Laboratorium“ in dieser Frühphase möglicherweise gar nicht so experimentell gewesen sei, wie in den Vorträgen angedeutet. Angesichts der unterschiedlichen Deutungen in den Beiträgen, forderte von Hodenberg dazu auf, sich klarer zwischen den beiden Extremen von „restaurativer Starre“ und „produktivem Aufbruch“ zu verorten. (3) Unterschiede fand die Historikerin auch in der Definition des Patriarchats und fragte, was genau jeweils patriarchale Verhältnisse definiere. (4) Als letzten Punkt stellte von Hodenberg zur Diskussion, inwiefern die Thesen der Beiträge überhaupt das Narrativ der Bundesrepublik als Erfolgsgeschichte in Frage stellten und ob sie nicht vielmehr ein nur leicht verändertes Bild dieser Erzählung präsentierten. Daraufhin forderte von Hodenberg dezidiertere internationale Vergleiche mit westlichen Demokratien, um die Vergleichsmaßstäbe offen zu legen, anhand derer die Entwicklung der Bundesrepublik beurteilten werden könne.

Die sich an den Kommentar anschließende Diskussion wird im Folgenden anhand der vier Punkte skizziert. (1) In der Diskussion unterstrich Heinsohn die Notwendigkeit intersektionaler Betrachtungen. Als Gruppe an Vorreiterinnen identifizierte sie die Frauen, die bereits in der Weimarer Republik politische Erfahrungen sammelten und später im Bundestag Bündnisse schmiedeten. Dies unterstrich Heinemann und verwies zugleich auf die Schwierigkeiten beim Herauspräparieren von intersektionalen Kategorien. Weder Partei- noch Konfessionszugehörigkeit hätten bei den erfahrenen Parlamentarierinnen eine gesonderte Rolle gespielt. Demgegenüber ausschlaggebend sei der generationelle Unterschied zu den Mitgliedern der Neuen Frauenbewegung gewesen, welche als Studentinnen oder alleinstehende Mütter mit neuem Habitus und Kommunikationsformen auf Unverständnis der älteren Generation gestoßen seien.

(2) Als besonders differenziert zeigten sich die Diskussionsbeiträge zur Periodisierungsfrage. Steber machte auf die Vielstimmigkeit des „katholischen Blocks“ aufmerksam. Gerade konservative Frauen trugen in der frühen Nachkriegszeit den Widerspruch aus, für eine natürliche Ordnung der Geschlechter einzutreten, während sie gleichzeitig ihren demokratischen Auftrag als Frau entdeckten. Hierin, so Steber, liege ein Teil der Dynamik der 1950er-Jahre begründet. Heinsohn erklärte die Gleichzeitigkeit zwischen restaurativen und progressiven Elementen aus den variierenden Perspektiven der Vorträge. Für ihren Untersuchungsgegenstand, die politische Bildung, ergab sich beispielsweise ein restauratives Bild. Van Rahden merkte an, dass das Nachkriegsjahrzehnt sicherlich eine katholische Prägung aufwies, allerdings Kirche und gläubige Laien aktiv ein neues Verhältnis zur Demokratie gestalteten. Weiter warf er die Frage auf, was genau restauriert werden sollte: nämlich ambivalente Traditionen aus der Weimarer Republik. Die im internationalen Vergleich frühen gesetzgeberischen Fortschritte in der Bundesrepublik versuchte van Rahden dagegen durch das Konzept der „multiplen Restauration“ zu erklären. Der Moderator ANDREAS WIRSCHING (München) fragte hier weiter, ob nicht die Bundesrepublik konservativer und hermetischer war als die Weimarer Republik, in welcher beispielsweise der Paragraph 218 offen und „laboratorienartig“ diskutiert wurde. Dass diese diskursive Dynamik zurückging, könnte an der Marginalisierung von linkssozialistischen Traditionen nach 1945 liegen.

(3) Van Rahden merkte bezüglich der Definition des Patriarchats an, dass man das zeitgenössische Verständnis von „Patriarchat“ und unser heutiges analytisches Verständnis trennen müsse. Dann ergebe sich eine Diskussion um die bislang offene Frage, ob der Begriff als analytische Kategorie weiterhin geeignet sei.

(4) Entlang von Hodenbergs viertem Punkt ergab sich eine produktive Kontroverse über internationale Vergleichsfolien als Maßstab etablierter Erfolgsnarrative. Steber und Heinsohn merkten die Notwendigkeit historiographischer Grundlagenarbeit zur Verbindung von Geschlechterordnungen und Demokratiegeschichte an, bevor internationale Vergleiche angestrengt werden könnten. Van Rahden warnte hingegen vor dem Versuch, die Bundesrepublik aus den international geführten Diskursen jener Zeit analytisch herauszulösen. Anders als von Hodenberg vertrat Heinemann die These, dass die bundesrepublikanische Geschichte aus geschlechterhistorischer Perspektive keine Erfolgsgeschichte vom „langen Weg nach Westen“ sei. Hier würden, so Heinemann, die fortwährende Ungerechtigkeit auf sozialer und rechtlicher Ebene ausgeklammert. Angeregt durch Fragen von Agnes Anna Arndt (Berlin) und Friedrich Kiesling (Bonn) thematisierte Heinemann auch das deutsch-deutsche Verhältnis. Das patriarchale Familienmodell habe im Westen als „Stabilitätsanker“ gedient, wohingegen die DDR ein Gegenmodell entworfen habe. Dabei verwies Heinemann auf die Erfahrungen von ostdeutschen Frauen nach den Reformen 1989, welche Berufstätigkeit, Kinderbetreuung und den legalen Schwangerschaftsabbruch einbüßten. Wirsching begründete den offensichtlichen Ost-West-Unterschied mit der Unterdrückung kommunistischer und sozialistischer Strömungen in der Bundesrepublik, wohingegen sich im realexistierenden Sozialismus der DDR emanzipative Forderungen hätten herauskristallisieren können.

Nach der Diskussion erschienen zwei Forschungsperspektiven als zentral für die zeitgeschichtliche Auseinandersetzung mit „Geschlecht und Demokratie“. Zum einen zeigte die Diskussion, wie drängend Fragen der internationalen Kontextualisierung sind und wie bedeutend transnationale, insbesondere deutsch-deutsche Vergleichsstudien wären. Zum anderen, darauf haben Wirsching und Arndt verwiesen, müsse das Verhältnis zwischen Normen und Praktiken stärker untersucht werden. Neben einer Untersuchung der diskursiven Aushandlung von Rechten und Werten gilt es Quellen zu identifizieren, welche die demokratischen Praktiken der Akteurinnen und Akteure in der Aushandlung von Geschlechterordnungen beurteilbar machen. Die Vorträge sind ungekürzt und ergänzt durch drei weitere Beiträge im Diskussionsforum „Geschlecht und Demokratie“ der Viertelfjahreshefte für Zeitgeschichte zu finden.1

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Isabel Heinemann (Münster), Kirsten Heinsohn (Hamburg), Till van Rahden (Montréal)

Martina Steber (München/Berlin): Einleitung

Kirsten Heinsohn (Hamburg): Gruppenbild ohne Dame? Demokratieentwürfe nach 1945

Till van Rahden (Montréal): Neue Männer für ein neues Land. Demokratie und Männlichkeit in der Bundesrepublik

Isabel Heinemann (Münster): Die Familie als „Keimzelle“ der Demokratie – oder deren größte Bedrohung? Konflikte um den Wert der Familie nach 1945

Christina von Hodenberg (London): Kommentar

Moderation: Andreas Wirsching (München)

Anmerkung:
1 Isabel Heinemann / Martina Steber (Hrsg.), Diskussionsforum „Geschlecht und Demokratie“, in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 69,4 (2021), S. 669–741.


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