Eigentum, Bodenwert und Visualisierung: Kataster im 19. und 20. Jahrhundert

Eigentum, Bodenwert und Visualisierung: Kataster im 19. und 20. Jahrhundert

Organisatoren
Prof. Dr. Ute Schneider, Universität Duisburg-Essen; Historisches Kolleg München
Ort
digital (München)
Land
Deutschland
Vom - Bis
24.11.2021 - 25.11.2021
Url der Konferenzwebsite
Von
Jürgen Dinkel, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Sowohl in der Öffentlichkeit als auch unter Historiker:innen wächst das Interesse an den materiellen Grundlagen unserer Gesellschaft. Aktuelle Debatten um die Verstaatlichung von privatem Wohneigentum, die Erbschaftssteuer oder auch die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens korrespondieren mit der Zunahme von neuen Forschungen zur Eigentums-, Vermögens- und Kapitalismusgeschichte. In diesem sich dynamisierenden Forschungsfeld verortete sich die von Ute Schneider (Essen) am Historischen Kolleg in München organisierte und digital durchgeführte Tagung „Eigentum, Bodenwert und Visualisierung: Kataster im 19. und 20. Jahrhundert“.

Mit dem Eigentum an Grund und Boden stellte die Tagung eine bestimmte Manifestation von Vermögen ins Zentrum ihrer Diskussionen, die für die in Nordamerika und Europa seit dem 18. Jahrhundert entstehenden Eigentümergesellschaften zentral war. Hiervon ausgehend skizzierte UTE SCHNEIDER in ihrer Einführung zwei Frageperspektiven für die folgenden Diskussionen: Zunächst forderte sie dazu auf, noch einmal ganz konkret danach zu fragen, wie die Dokumentation von Grund und Boden historisch vonstattenging. Wie wurde Grundeigentum markiert, kommuniziert und dokumentiert? Welche Akteure waren mit welchem Wissen daran beteiligt? Wie wurde der Wert von Grundeigentum ermittelt und wie bzw. wann wandelten sich sowohl die Praktiken und Methoden der Eigentumsvermessung und Wertermittlung als auch die Visualisierung von Grund und Boden mit den dazu gehörigen Eigentumstiteln? Trotz der Bedeutung, die Grundeigentum für die Gesellschaften des 19. und 20. Jahrhunderts hatte, so Schneider, haben die Methoden und Praktiken zu deren Erfassung, Zuweisung und Dokumentation in der historischen Forschung bisher nur wenig Aufmerksamkeit gefunden. Daran anschließend plädierte sie unter Rückgriff auf Charles Maiers Konzept der Territorialisierung und Ansätze der legal geography dafür, die konkreten Fragen an übergeordnete Prozesse der Territorialisierung, den Ausbau des Staates sowie das Verhältnis von Raum und Identität rückzubinden: Welche Spannungen ergaben sich etwa aus dem Nebeneinander von kommunalem, staatlichem und Privateigentum? Wie wirkten sich Veränderungen in der Gesellschaft auf die Wahrnehmung und Bewertung von Grundeigentum aus? Wie wirkten wiederum Eigentumsverhältnisse auf Gesellschaften ein? Und wie ist das Verhältnis von Grundeigentum zur Natur zu erfassen und zu beschreiben?

Diesen Fragen gingen die Tagungsteilnehmer:innen anschließend anhand von Fallstudien, vornehmlich auf lokaler und regionaler Ebene nach, um die Verknüpfung von Recht, Raum und Territorium als rechtliche, politische, soziale, ökonomische und mentale Ressource zu beleuchten. Eine große Stärke der Tagung lag dabei in ihrem langen Untersuchungszeitraum, der sich vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart erstreckte. Zwar nahm keiner der Vortragenden den gesamten Zeitraum in den Blick, zusammengenommen deckten die verschiedenen Tiefenbohrungen in drei chronologisch angeordneten Sektionen die lange Perspektive jedoch ab.

An unterschiedlichen Beispielen arbeiteten die Vortragenden heraus, dass die modernen (staatlichen) Versuche, Raum und Eigentumsverhältnisse zu fixieren, durch ein spezifisches Spannungsverhältnis charakterisiert waren, das sich durch zwei Pole auszeichnete: Dem Wunsch nach Fixierung und Vereindeutigung von Territorium, Eigentum und Besitzverhältnissen in Form von Katastern, Karten oder auch Grundbucheinträgen und Grenzmarkierungen einerseits stand anderseits der Wandel des fixierten Raums durch politische, ökonomische oder demographische Veränderungen selbst gegenüber (statische Fixierung vs. dynamische Veränderung). Hinzu kam ein sich veränderndes kommunales oder staatliches Informationsbedürfnis, das zu unterschiedlichen Zeitpunkten jeweils andere, modifizierte Modelle der Boden- und Eigentumserfassung erforderte. Aus diesem Spannungsverhältnis von Fixierung und Veränderung folgte dann wiederum eine in zahlreichen Fallbeispielen eindrücklich beschriebene Kaskade von Revisionen und Überarbeitungen bestehender Kataster, Karten und anderer Erfassungsmodelle, die, so ein Fazit der Tagung, typisch für Raumkonstruktionen und Eigentumserfassungen seit dem 18. Jahrhundert waren.

Schritt für Schritt arbeitete beispielsweise ANETTE SCHLIMM (München) das Wechselspiel von Fixierung und Revision von Bodenzugehörigkeiten am Beispiel der bayrischen Gemeindebildung zu Beginn des 19. Jahrhunderts heraus. Während der Gemeindereform wurden unterschiedliche Raumordnungen (Steuergemeinde und Pfarrsprengel) sowie lokales und staatliches Wissen verschränkt und synchronisiert, wodurch sich immer neue Raumzuschnitte und Beschreibungen ergaben, die sich die lokale Bevölkerung aneignen musste, auf deren Basis sich aber im Laufe des Jahrhunderts auch neue Zugehörigkeiten und Traditionen ausbildeten. Schlimm verdeutlichte damit, wie die Rückbindung von Identität an Raum im südlichen Bayern historisch entstand und wie kontingent solche Zuschreibungen in ihrer Entstehung waren bevor sie wenige Jahrzehnte später als „natürliche“ Verbindung von Land und Leuten galten.

Dieser Kreislauf aus Fixierung und Revision änderte aber wiederum wenig – so ein zweiter Befund der Tagungsdiskussionen – an der erstaunlichen Beharrungskraft von einmal etablierten Erfassungs- und Visualisierungstechniken. Vielmehr waren einmal erhobene Daten, fixierte Bodenkartierungen und etabliertes Expertenwissen an ganz unterschiedliche politische Projekte anschlussfähig. Die von den Nationalsozialisten entwickelte Methode der Bodenbewertung lag nach ANDREAS DIX (Bamberg) sowohl dem Generalplan Ost zugrunde als auch der bayrischen Flurbereinigung von 1975.

An der Vermessung, Bewertung und Visualisierung von Räumen und Bodeneigentum war seit dem 18. Jahrhundert ein breites Panorama an (lokalen) Akteuren, Experten und Regierungsorganen beteiligt. Dieses reichte von den Eigentümern vor Ort wie Bauern und Villenbesitzer über lokale Experten und Verwalter wie Feldgeschworene und Bürgermeister und spezialisierte Experten wie Geodäten, Statistiker, Ethnologen und Aktiengesellschaften bis hin zu Entscheidungsträgern in Regierungsbehörden und internationalen Organisationen. Insbesondere der Vortrag von NILS BENNEMANN (Duisburg-Essen) regte zudem die Frage an, inwiefern die beschriebenen und bewerteten Landschaften selbst, in diesem Fall der Rhein, als Akteur angesehen werden sollten, die auf ihre Visualisierung und Verwertung Einfluss nahmen. Ausgangspunkt hierfür war seine Beobachtung, dass sich die Grenzen zwischen Fluss und Land bei der Vermessung des Rheins immer wieder verschoben, womit verschiedene Kategorisierungen des Ufergebiets und dessen Wertbestimmung einhergingen.

Zahlreiche Vortragende schlüsselten des Weiteren im Detail auf, welches Wissen und welche Ordnungsvorstellungen bestimmten Katastern und Karten zugrunde lagen, mit welchen Methoden notwendige Informationen erhoben wurden, wie dieses Wissen verarbeitet und schließlich in Kataster und Karten integriert wurde (z.B. in Form von Buchstabenkürzeln, Zahlenkombinationen, bestimmten Einfärbungen auf Karten, usw.). Unter anderem führte LORENZ KÄHLER (Bremen) die Ordnungsvorstellungen im Grundbuchrecht aus sowie die Abhängigkeiten und Bezugnahmen von Recht, Grundbuch und Katastern. ERNST LANGTHALER (Linz) arbeitete am Beispiel der von den Nationalsozialisten durchgesetzten und angewandten Methode der Agrar- und Betriebsstatistik eindrucksvoll die enormen institutionellen und individuellen Anstrengungen heraus, die mit der Erstellung der Statistik einhergingen. Zu ihrer Hochzeit waren im nationalsozialistischen Deutschland etwa 80.000 Erhebungsorgane des Reichsnährstandes mit der Datenerfassung beschäftigt, die im Jahr 1939 etwa 47 Prozent aller landwirtschaftlichen Betriebe erfassten. Da viele Bauern die Hofkarte, auf der die Betriebsstatistik basierte, freiwillig führten und diese Praktik auch nach dem Zweiten Weltkrieg beibehielten, interpretierte Langthaler die Karte als Panoptikum der Selbst- und Fremddisziplinierung. Die eingeführte Agrarstatistik, so seine abschließende These, sei der Versuch moderner Industriestaaten, den landwirtschaftlichen Bereich möglichst vollständig zu erfassen, woran sich ein Teil der Bauern beteiligte, der aber an den Rändern immer unscharf blieb, da v.a. kleinere Betriebe in der Statistik unterrepräsentiert blieben. Den enormen Aufwand, der für Bodenbewertungen notwendig war, zeigte auch ANDREAS DIX auf. Am Beispiel der von den Nationalsozialisten auf der Grundlage älterer Verfahren ab 1934 durchgeführten Reichsbodenschätzung schlüsselte er detailliert die Verfahren auf, mit denen der Wert von Boden bestimmt wurde. Der Erfolg der Reichsbodenschätzung beruhte dabei, so Dix‘ These, darauf, dass die Organisatoren bereit waren, Abstriche in der Wissenschaftlichkeit und Exaktheit der Erfassungsmethoden zu machen, zu Gunsten eines praktikablen und verständlichen Verfahrens. Dadurch gelang es, Bauern und Bauernvertreter in die Bodenschätzungen einzubinden, was wiederum zur Akzeptanz der ermittelten Bodenwerte beitrug. Für eine Wissens- und Kulturgeschichte des Bodeneigentums lieferten die Vorträge zahlreiche Impulse.

Abschließend sollen zwei Perspektiven für weitere Forschungen zur Eigentumsgeschichte skizziert werden, die auf der Tagung angeregt und in einzelnen Vorträgen bereits ausgeführt wurden. Nahezu alle Vortragenden beschäftigten sich mit der Bewertung und Visualisierung von ländlichem, überwiegend landwirtschaftlich genutztem und nicht bebautem Bodeneigentum. Bereits während der Tagung wurde dieser Befund konstatiert und die Frage aufgeworfen, welche anderen Erfassungsmedien und Visualisierungstechniken sowie Akteure der Eigentumserfassung und Bodenbewertung eigentlich in den Blick geraten, wenn nicht der ländliche, sondern der urbane Raum fokussiert wird. Eine Antwort darauf gab EVA MARIA GAJEK (Gießen), die in ihrem Vortrag Planung, Bebauung und Bestand des Frankfurter Villenviertels am Lerchesberg nach dem Zweiten Weltkrieg herausarbeitete. Anhand von Werbebroschüren, Bebauungsplänen und Adressbüchern für das neue Wohngebiet und der Analyse der Sozialstruktur des Viertels zeigte sie auf, wie ein ländliches Gebiet am Stadtrand von Planern und Bewohnern markiert und aufgewertet wurde und wie diese über viele Jahre daran arbeiteten, das neue Grund- und Wohneigentum mit Sozialprestige aufzuladen. Wer sich am Lerchesberg eine Villa kaufte (oder kaufen konnte), so das Versprechen der Planer und das Selbstverständnis der Bewohner, würde nicht nur ein Haus erwerben, sondern sich räumlich und symbolisch in die städtische Oberschicht einreihen. Ähnlich wie im Vortrag von ANETTE SCHLIMM zeigte sich am Lerchesberg, wie ein fester Nexus von Raum und Identität entstand.1

Schließlich hielt UTE SCHNEIDER fest, dass der geographische Schwerpunkt der Tagung auf dem deutschsprachigen Mitteleuropa lag, dass in einem nächsten Schritt ein Vergleich von Methoden der Raum- und Eigentumserfassung mit anderen europäischen und außereuropäischen Regionen ebenso wie eine stärkere Berücksichtigung von Wissenstransfers zwischen diesen Räumen wünschenswert sei. Das Potential solcher transfer- und globalgeschichtlichen sowie vergleichenden Studien veranschaulichten auf der Tagung zunächst die Vorträge von GABRIELE B. CLEMENS (Saarbrücken) und CHRISTOF DIPPER (Darmstadt). Beide arbeiteten heraus, wie das Eingreifen ausländischer Akteure lokale Bodenmärkte beeinflusste, ohne dass es zu Veränderungen in lokalen Ungleichheitsstrukturen kam. Im Zentrum von Clemens‘ Vortrag stand die von Napoleon angestoßene Nationalgüterversteigerung in den rheinischen Departments (1800–1820), in deren Verlauf zwar ca.14.000 Objekte verkauft wurden und sich der Bodenmarkt enorm dynamisierte. Trotzdem veränderten sich die lokalen Vermögensstrukturen kaum; wer bereits reich war und über genügend Wissen verfügte, profitierte von der Versteigerung in sehr viel größerem Maße als arme Bewohner. Dipper arbeitete am Beispiel des Po-Deltas heraus, dass die Trockenlegung dieser Region und die Investitionen einer englischen Aktiengesellschaft zwar zur Kommodifizierung des Bodens und einem erdbebenartigen Besitzwechsel im Delta, aber nicht zum Abbau von Vermögensungleichheiten führten. Im Gegenteil, während ausländische und städtische Investoren Gewinne machten, verarmte die Bevölkerung vor Ort, was bis in die 1920er-Jahre regelmäßig soziale Konflikte zur Folge hatte. HEINRICH HARTMANN (Konstanz) bezog mit dem Mittelmeerraum als Einziger außereuropäische Regionen in die Diskussionen ein. Dort erfolgte die Bodenerfassung nicht über Kataster, wodurch die Erstellung eines Katasters zu einer politischen Forderung werden konnte und andere Experten, z.B. Ethnologen, wichtige Funktionen bei der Visualisierung von Zugehörigkeiten einnehmen konnten. Damit provinzialisierte er zugleich noch einmal grundsätzlich die im Zentrum der Tagung gestandenen mitteleuropäischen Erfassungs- und Visualisierungsmedien von Bodeneigentum und warf die Frage auf, mit welchen anderen Medien und Techniken Grundeigentum in anderen Weltregionen erfasst und markiert wurde.

Die in diesem Bericht nur angedeuteten Befunde und Diskussionen der Tagung werden von Ute Schneider in Kooperation mit dem Historischen Kolleg in einem Sammelband publiziert. Wer sich für die angeführten Themen rund um Eigentum, Bodenwert und Visualisierung seit dem 18. Jahrhundert interessiert und/oder mehr über die Details der zeitlich und räumlich sehr viel konkreteren Fallbeispiele erfahren möchte, darf sich auf einen anregenden und empirisch dichten Band freuen.

Konferenzübersicht:

Ute Schneider (Essen): Begrüßung

1. Sektion
Moderation: Dorothee Wierling (Hamburg)

Gabriele B. Clemens (Saarbrücken): Taxierung des Bodenwertes ohne Kataster? Die Nationalgüterversteigerungen in den rheinischen Departements (1800–1820)

Nils Bennemann (Essen): Wem gehört der Fluss? Eigentums- und Nutzungskonflikte in hydrodynamischen Landschaften im langen 19. Jahrhundert

Anette Schlimm (München): Von der territorialen Feinstruktur des Staates. Die Probleme der bayerischen Gemeindebildung im frühen 19. Jahrhundert

2. Sektion
Moderation: Kornelia Konczal (München/Konstanz)

Lorenz Kähler (Bremen): Ordnungsvorstellungen im Grundbuchrecht

Christof Dipper (Darmstadt): Eigentum, Bodenwert, Landschaft. Trockenlegung und Landwirtschaft im Po-Delta von 1860 bis 1915

Heinrich Hartmann (Konstanz): Kognitive Dissonanzen. Ethnologische Umschreibungen von Nutzungs- und Eigentumsrechten im Mittelmeerraum in der Nachkriegszeit

3. Sektion
Moderation: Nina Szidat (Essen)

Ernst Langthaler (Linz): Der geordnete „Hoforganismus“: Agrarstatistik als Machtdispositiv im Nationalsozialismus

Andreas Dix (Bamberg): Die Reichsbodenschätzung ab 1934 – Bodenklassifikation und -bewertung als Hilfsmittel „zweckmäßigsterOrdnung und Nutzung des deutschen Bodens“

Eva Maria Gajek (Gießen): Zwischen Prestige, Preisstopp und Protest: Das Frankfurter Villenviertel am Lerchesberg

Abschlussdiskussion

Anmerkung:
1 Vgl. hierzu auf nationaler Ebene auch Dietmar Müller, Bodeneigentum und Nation (1918–1948). Rumänien, Jugoslawien und Polen im europäischen Vergleich, Göttingen 2020.