Die staatlich angeordneten Kulturgutentziehungen und -verlagerungen zwischen 1945 und 1990 in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) und der DDR sind keineswegs vergessen. Das zeigten die lebhaften Diskussionen rund um die divergierenden und sich gegenseitig ergänzenden Vorträge im Rahmen des diesjährigen Tagesseminars. Die Themen Provenienz und Restitution sind hochaktuell. Im Hinblick auf die Zeit der Sowjetischen Besatzung und der DDR bedarf es aber vor allem noch der Grundlagenforschung und Tiefenrecherchen – so eines der festzuhaltenden Ergebnisse am Ende des Tages.
Seit 2009 richtet die Stiftung Ettersberg gemeinsam mit der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen jährlich ein Tagesseminar aus, das sich multiperspektivisch einem ausgewählten Aspekt der historischen Aufarbeitung der Diktatur in der DDR widmet.
In seiner Eröffnungsrede zeichnete FRANZ JOSEF SCHLICHTING (Erfurt), der Leiter der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, die Kulturgutentziehungen in Erfurt anhand von Erfurter Persönlichkeiten nach. Er erinnerte an den jüdischen Schuhfabrikanten und Kunstmäzen Alfred Hess, der in den 1920er-Jahren eine der bedeutendsten Sammlungen der Klassischen Moderne zusammengetragen und im Erfurter Angermuseum ausgestellt hat. Die Sammlung existiert in dieser Form nicht mehr, da sie in der NS-Zeit zerschlagen wurde. Schlichting würdigte den Erfurter Sammler Rudolf Frank. Der Grafiker und Hochschullehrer trug zu DDR-Zeiten eine bedeutende Grafiksammlung mit internationalen Positionen zusammen. Trotz Bespitzelung und Überlegungen von Staatsseiten, ihm die Sammlung zur Devisenbeschaffung zu entziehen, überdauerte diese die SED-Diktatur ohne Zerschlagung. 2004 erhielt das Angermuseum die Sammlung als Schenkung. Schlichting schloss mit der persönlichen Geschichte seiner 2017 verstorbenen Nachbarin Winifred Zielonka. Die Malerin, Bildhauerin und Anthroposophin ist in der DDR vom Ministerium für Staatssicherheit (MfS) massiv bedrängt und ihre Sammlung in Teilen beschlagnahmt worden. Die persönliche Erfahrung Betroffener und Zeitzeug:innen zog sich als roter Faden durch das Seminar und war eine bereichernde Ergänzung zum wissenschaftlichen Blick der vortragenden Expert:innen.
Der Direktor der Stiftung Ettersberg, JÖRG GANZENMÜLLER (Weimar), führte in die noch junge Disziplin der Provenienzforschung ein. Alle drei Teilbereiche – Schwerpunkt Kolonialzeit, verfolgungsbedingte Entziehungen während der NS-Diktatur und die staatlichen angeordneten Entziehungen in SBZ und DDR – erfahren in letzter Zeit erhöhte Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit. Ganzenmüller zeigte den wichtigen Punkt auf, dass sich die einzelnen Bereiche weder zeitlich noch im Hinblick auf den Unrechtskontext trennscharf voneinander abgrenzen lassen. Zeitliche, geographische und politische Überlagerungen machen das Forschungsfeld äußerst komplex, aber auch umso spannender.
RÜDIGER HAUFE (Weimar) gab einen Überblick zum Kulturgutentzug in Thüringen zwischen dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der deutschen Wiedervereinigung und konzentrierte sich auf private Eigentümer von Kulturgütern mit anschließender öffentlicher Verwertung. Im Rahmen der Bodenreform von 1945 gab es auch im Bereich des heutigen Thüringens Enteignungs- und Umverteilungsvorgänge. So wurde die Familie Wintzingenrode von der Burg Bodenstein entschädigungslos enteignet und vertrieben. Die Stücke der wertvollen Sammlung aus Gemälden, Porzellan und Möbeln geriet in verschiedene Museen in Thüringen und ans Märkische Museum in Berlin. Der Verbleib der Bibliothek konnte bis heute nicht abschließend geklärt werden. Durch die Klassik Stiftung Weimar sind einzelne Stücke an die Erben der Familie Wintzingenrode restituiert worden. Im Haus der Stiftung begann die systematische Provenienzforschung zu den Zugängen zwischen 1945 und 1990 erst im Jahr 2020. Nach Einschätzung Haufes dürften hier noch einige kritische Provenienzen und Ungereimtheiten auftauchen. Zu erwarten sei, dass auch Stücke von Kunstsammelnden und Händler:innen auftauchen werden, deren Sammlungen aufgrund von teilweise fingierten Steuerverfahren aufgelöst wurden. Obwohl der Großteil der Stücke meist zur Devisenbeschaffung ins westliche Ausland verkauft worden ist, gelangten einzelne Exponate auch in ostdeutsche Sammlungen. In Hinblick auf die Erschließung der Provenienzen und die sich daraus ergebenden Fragen der Restitution habe die Klassik Stiftung Weimar noch viel Arbeit vor sich.
Das Thema Rückgabe wurde in der Diskussion im Anschluss an Haufes Vortrag aufgegriffen. Fürst zu Stolberg wies im Namen der Betroffenen darauf hin, dass die Frage nach Restitution immer noch virulent sei. Nach seiner Erfahrung haben die Rückgabeverfahren eine Schieflage zum Nachteil der Opfer von Beschlagnahmungen. Stolberg vermisst eine proaktive Haltung bei den öffentlichen Institutionen, die an den Rückgabeverfahren beteiligt sind.
THOMAS WIDERA (Cottbus), wissenschaftlicher Mitarbeiter des Sorbischen Instituts, stellte den heutigen Kenntnisstand zur MfS-Aktion „Licht“ im Jahr 1962 vor. Von 2017 bis 2019 führte Widera am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Kooperation mit dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste ein Pilotprojekt zur Grundlagenforschung durch. Im Januar 1962 hatten Mitarbeitende der Stasi Banken und Finanzinstitute in der gesamten DDR durchsucht. Tresore, Safes und Schließfächer, die seit dem Zweiten Weltkrieg unberührt geblieben waren, wurden geöffnet, und Wertgegenstände, Papiere und Aktien wurden entnommen. Da die MfS-Aktion unter strengster Geheimhaltung vorbereitet, durchgeführt und nachbereitet wurde, finden sich heute nur dürftige Aktenüberlieferungen. Was der eigentliche Zweck und das Ziel der Aktion waren, sei bis heute nicht ganz klar. Wahrscheinlich sei, dass es der Stasi nicht in erster Linie um die Inhalte der Tresore und Schließfächer ging. Zumal die Ausbeute ernüchternd gewesen sein muss. Viele Tresore seien leer gewesen, und die Gegenstände waren von nicht besonders hohem Wert. Einiges deute darauf hin, dass die Aktion „Licht“ der Stabilisierung und zur Überprüfung der Loyalitäten gedient habe. Im Mittelpunkt der großräumigen Aktion scheint das Verhalten und die Abstimmung von Individuen und Kollektiven gestanden zu haben, nicht unbedingt der Inhalt der Tresore. Die dürftige Aktenlage mache die Aktion zu einem schwer zugänglichen Forschungsthema. Bekannt sei, dass auch wertvolle Kupferstiche alter Meister in den verwaisten Tresoren gefunden wurden. Nicht bekannt sei jedoch, was davon in den Kunsthandel gelangt ist. Expert:innen der Provenienzforschung sollten am Pilotprojekt anknüpfen und die einzelnen Spuren verfolgen. Da es sich bei den Themen Kunstmarkt und Kunsthandel der DDR um Forschungsdesiderate handelt, bedarf es hier noch der wissenschaftlichen Grundlagen.
XENIA SCHIEMANN (Berlin) gab einen Einblick in das laufende Kooperationsprojekt des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste und des Kunsthistorischen Instituts der Technischen Universität Berlin. Es geht darum, die Auktionsgeschäfte der Kunst und Antiquitäten GmbH (KuA) auf dem westlichen Kunstmarkt in den 1970er- und 80er-Jahren zu untersuchen. Zudem richtete die Kunsthistorikerin den wissenschaftlichen Blick auf die Rezeption in der westlichen Presse in diesem Zeitraum. Die Kunst und Antiquitäten GmbH war ein 1973 gegründetes Exportunternehmen für Kunstgegenstände und Antiquitäten, das zum schattenwirtschaftlichen Gefüge des Bereichs Kommerzielle Koordinierung (KoKo) unter Alexander Schalck-Golodkowski gehörte. Zur Devisenbeschaffung für den chronisch klammen Staatshaushalt wurde Kunst ins westliche Ausland exportiert. Mehr als 25 westliche Auktionshäuser haben mit der KuA kooperiert. In den 1970er- bis 80er-Jahren gab es über 200 Fälle, in denen private Sammler:innen von DDR-Behörden beschuldigt wurden, gewerblichen Handel mit ihren Sammlungen zu betreiben und den Staat um die Steuereinnahmen zu bringen. Die geforderten Steuern waren meist so hoch, dass die Betroffenen nicht zahlen konnten und stattdessen ihre Sammlungen in Teilen oder vollständig abgeben mussten. Die Stücke wurden von der KuA exportiert und gelangten auf den westlichen Kunstmarkt. Der Berliner Arzt Peter Garcke war eines der Opfer der fingierten Steuerschuld. Schiemann konnte anhand von Ergebnissen ihrer Archivrecherchen verfolgen, wie ein wertvoller Louis XVI-Sessel aus Garckes Sammlung wenige Zeit nach der Enteignung prominent im Katalog des Londoner Auktionshauses Christie‘s abgebildet war und dort versteigert wurde. Zudem konnte sie nachweisen, dass die DDR-Praxis der fingierten Steuerschulden und anschließenden Enteignung durch den Staat im Westen durchaus bekannt war. Verschiedene internationale Fachzeitschriften und Tageszeitungen berichteten darüber, sodass man davon ausgehen kann, dass die westlichen Auktionshäuser durchaus wussten, woher die KuA die angebotenen Stücke hatte. Am Ende von Schiemanns Werkstattbericht war als ein Zwischenergebnis ihrer Forschung festzuhalten, dass die Wege der Kunstgegenstände in die und aus der DDR vielfältig und verschlungen waren. Die Kunsthistorikerin verfolgt die Spuren einzelner Objekte und Akteure und deckt sukzessive die Handelsbeziehungen und -wege über Strohfirmen und Mittelspersonen zum internationalen westlichen Kunstmarkt auf.
Als Skandal und Lehrstück betitelte der Historiker WINFRIED SÜSS (Potsdam) den Streit über die Hohenzollern-Restitution, der im Sommer 2019 an die Öffentlichkeit gelangte und durch die Presse ging. Seit 2014 befinden sich rechtliche Vertreter des Prinzen Georg Friedrich von Preußen im Gespräch mit der Bundesregierung und Vertretern der Länder Berlin und Brandenburg. Die genauen Gegenstände der Gespräche und Verhandlungen, die zwischen 2014 und 2019 stattfanden, seien nicht öffentlich bekannt geworden. Es gehe bis heute um die Restitution von Immobilien und Kunstgegenständen und Entschädigungszahlungen, aber auch um die historische Deutungshoheit und die Frage nach der Rolle der Hohenzollern-Familie während der NS-Zeit. Im Hinblick auf die Unwürdigkeitsklausel, die Bestandteil des Ausgleichsleitungsgesetzes von 1994 war, ist nach wie vor zu klären, inwiefern die Hohenzollern dem Nationalsozialismus erheblichen Vorschub geleistet und einen Teil der historischen Verantwortung zu tragen haben. Zu den historischen und rechtlichen Hintergründen der Hohenzollern-Klage hat der Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands e.V. ein sehr umfangreiches Wiki erstellt, das einen wissenschaftlich fundierten Einblick in die komplexe Debatte aus Rechtsstreitigkeiten, Eigentumsansprüchen, Meinungsfreiheit und historischer Deutungshoheit bietet1.
In ihrer 2020 erschienenen Dissertation2 erforschte INES LANGELÜDDECKE (München) die Rückkehr von adeligen Gutsbesitzern ins postsozialistische Brandenburg und die sich daraus für die dörflichen Gemeinschaften ergebenen Folgen. Hier zeichnete sie ihr wissenschaftliches Vorgehen nach und fasste ihre Ergebnisse zusammen. Nach 1989 sind an die 40 Adelsfamilien verschiedener Genrationen nach Brandenburg zurückgekehrt. Als Grundlage der Dissertation dienten lebensgeschichtliche Interviews mit zurückgekehrten Familien und Anwohnern. Wie auch von Winfried Süß zuvor thematisiert, sah Langelüddecke eine Diskrepanz zwischen der Viktimisierung in postheroischen Gesellschaften, der damit einhergehenden Forderung nach umfassender Wiedergutmachung und der anteiligen Mitschuld eines Teils des preußischen Adels am Aufstieg Hitlers. Zuletzt erwähnte sie den Aspekt des emotionalen Verlustes durch Enteignung und Vertreibung. Sie beobachtete im Rahmen ihrer Studie individuelle Strategien des (Wieder-)Anknüpfens an die Familiengeschichte und der Auseinandersetzung mit den Dorfbewohnern.
Es gebe noch offene Wunden und vor allem zahlreiche offene Fragen – darin waren sich die Teilnehmer:innen des Abschlusspodiums einig. Der emotionale Wert sei genauso wichtig wie der monetäre. Der Vorsitzende des Deutschen Zentrums Kulturgutverluste Gilbert Lupfer (Magdeburg) betonte, dass es dem Zentrum in erster Linie um die Erforschung der Provenienzen und um die Beantwortung offener Fragen geht. Natürlich werde die Restitution damit auch zur Debatte gestellt, dies sei aber nicht das primäre Ziel der Stiftung. Sahra Rausch (Jena) betonte hingegen die Notwendigkeit von Restitutionsdebatten im Kontext des kolonialen Erbes. In allen Bereichen und Fachgebieten der Teilnehmer:innen des Tagesseminars gilt Transparenz als Leitmotiv. Der Mut zur Lücke – vor allem in Museen – ermöglicht die Reflexion über die eigene gesellschaftliche und historische Verantwortung. Längst geht es nicht mehr nur um das Sammeln und Bewahren, sondern vor allem um Aufarbeitung und Gerechtigkeit.
Konferenzübersicht:
Begrüßung und Einführung
Franz-Josef Schlichting (Landeszentrale für politische Bildung Thüringen, Erfurt) / Jörg Ganzenmüller (Stiftung Ettersberg, Weimar)
Rüdiger Haufe (Klassik Stiftung Weimar): Kulturgutentzug in Thüringen 1945–1990
Thomas Widera (Sorbisches Institut / Serbski institut Bautzen): Die Aktion „Licht“ des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR
Xenia Schiemann (Technische Universität Berlin): Die Auktionsgeschäfte der Kunst und Antiquitäten GmbH der DDR auf dem westlichen Kunstmarkt
Winfried Süß (Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam): Erbe und Ehre. Der Streit um die Hohenzollern-Restitution als Skandal und Lehrstück
Ines Langelüddecke (München): Alter Adel – neues Land? Die Erben der Gutbesitzer und ihre umstrittene Rückkehr ins postsozialistische Brandenburg
Abschlusspodium: Zum Umgang mit und zur Restitution von Kulturgütern des Kolonialismus, des NS und der DDR
Gilbert Lupfer (Deutsches Zentrum Kulturgutverluste, Magdeburg), Winfried Süß, Sahra Rausch (Wissenschaftliche Koordinationsstelle zur Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe in Thüringen, Friedrich-Schiller-Universität Jena)
Moderation: Jörg Ganzenmüller
Anmerkungen:
1https://wiki.hhu.de/spaces/viewspace.action?key=HV.
2 Ines Langelüddecke, Alter Adel – neues Land? Die Erben der Gutsbesitzer und ihre umstrittene Rückkehr ins postsozialistische Brandenburg, Göttingen 2020.