Anlässlich des 200. Todestages von Rudolph Zacharias Becker (1752-1822) ließ eine von der Theodor-Springmann-Stiftung geförderte geisteswissenschaftlich-interdisziplinäre und internationale Tagung peu à peu ein intellektuelles Tableau erscheinen, das Gotha als Mikrokosmos einer fundamentalen Transformationsperiode zeigte, als „Informationsknotenpunkt”, „Anverwandlungsort”, „vielstimmiges Ensemble“ und „Scharnierstelle”.
In der Stadt von damals ca. 11.000 Einwohnern identifizierte MARTIN MULSOW (Gotha) in seinem einführenden Aufriss circa 60 bis 80 Akteure im Zentrum des intellektuellen Gothas, als dessen Keimzelle die „gemeinnützige Privatgesellschaft”1 fungierte. Im Spannungsfeld von Gymnasium und Freimaurerloge, Buchdruckern und Redaktionsräumen, frankophilem Hof und illuminatischer Minervalkirche, Lesezirkeln und Teegesellschaften entfaltete sich eine Vielzahl persönlicher, verwandtschaftlicher und geschäftlicher Querbeziehungen und Kontakte in der „spielenden Gelehrsamkeit”2 der prärevolutionären Zeit, zwischen überregionaler Publizistik und klandestiner Logen- und Ordenstätigkeit, die aus der Vielzahl vor Ort verfügbarer Materialien und Quellen zu erschließen ist.
Zu Beginn der ersten Sektion, die sich Becker im Speziellen widmete, folgte HOLGER BÖNING (Bremen) in seinen Ausführungen der These, dass sich der Gedanke der deutschen Nation zuerst in der von Becker betriebenen Publizistik realisierte. Der „populäre Volksaufklärer”3 verstand seine publizistische Tätigkeit als Mittel, den Deutschen Gemeinsinn und Vaterlandsliebe zu geben. Mit dem wichtigsten Intelligenzblatt seiner Zeit und dem gleichermaßen überregionalen „Reichsanzeiger“ machte vor allem Becker Gotha damit zum Gründungsort der publizistischen Aufklärung, nicht zuletzt ein Erfolg wegen der kaufmännisch geschickten Herangehensweise an die Unternehmung. Die Folgen der Französischen Revolution als eines der viel diskutierten Hauptthemen der 1790er-Jahre lassen sich als Zeit zunehmender Politisierung genauso daraus ablesen wie aus den zahlreichen Steckbriefen, Such-, Stellen- und Heiratsanzeigen noch heute das Allgemein-Menschliche spricht. Der „Reichsanzeiger“ fungierte als Organ des Miteinanders, des Austauschs, sollte idealiter als Erleichterung dienen, Veredelung und Verschönerung des Lebens bieten. Schiller allerdings ließ es sich nicht nehmen, aus dem nahen Weimar hörbar über die in der Praxis bisweilen wenig hochgeistigen Sphären zu spotten, etwa wenn es um den Frostschutz junger Triebe, Infektionsbekämpfung im Tierbestand oder die Lohn und Brot suchende Pfarrerswitwe ging.
Im Anschluss präsentierte REINHART SIEGERT (Freiburg) aus der demnächst erscheinenden, erweiterten und ergänzten Ausgabe seiner Dissertation4 einen materialbedingten Lückenschluss zu Beckers früher Laufbahn, zunächst als Lehrer im Haus Dacheröden und dann als Redakteur einer Jugendzeitschrift des Dessauer Philanthropins. Bereits nach nur einem Jahr überführte Becker die erfolgreiche Konzeption nach Gotha, was notwendigerweise nicht ohne Friktionen verlief. Unter dem Schutzschirm seines Erfurter Gönners Karl Theodor von Dalberg nahm er dort alsbald Kontakt zum Illuminatenorden auf und versicherte sich damit eines lebenslangen sozialen Netzwerks. Auf Reisen knüpfte Becker weitere Kontakte, nicht nur in Münster und Halberstadt, sondern auch in Königsberg – der Popularisator der Aufklärung korrespondierte mit dem Philosophen derselben.
Beckers Tagebuch fokussierte OLAF SIMONS (Gotha), einerseits als Analyse von dort gleichermaßen zu Tage tretenden Konfliktlinien und andererseits als Bestandteil eines Projektvorhabens, die Bestände der erst seit den frühen 1990er Jahren zugänglichen „Schwedenkiste“ mittels der von ihm am Forschungszentrum Gotha betriebenen Datenbank FactGrid detailliert zu erschließen. Statistische Auswertungen visualisierten entsprechend erkennbare Prominenzen in den Beständen, während Beckers Tagebücher selbst von seiner konfliktreichen Mitgliedschaft im Illuminatenorden, Versuchen der Einflussnahme auf die Freimaurerloge sowie sowohl den Kontroversen und Konkurrenzen in der beruflich-publizistischen Zusammenarbeit als auch in der städtisch-gesellschaftlichen Interaktion zeugen.
MARIAN HEFTER (Gotha) widmete sich Beckers Vorschlägen zur Trachtenreform, insbesondere einer deutschen Nationaltracht. Becker fokussierte demnach den Komplex zunächst als ökonomische Frage, empfahl eine Stützung der heimischen Produktion, bis – gerade 1814 – die Frage nach altdeutscher Tracht immer stärker in den Vordergrund rückte, um den „Nationalgeist zu fördern“.
Der zweite Tag der Konferenz öffnete das Feld in mehrfacher Hinsicht auf weitere Akteure und Betätigungsfelder. Den Auftakt lieferte DIRK SANGMEISTER (Gotha) mit der Schilderung Gothas durch zeitgenössische Reisende, aus deren Darstellungen er sechs Aspekte herausdestillierte: die Person Herzog Ernsts II., der die Zeitgenossen mit seinem unscheinbaren und unprätentiösen Auftreten beeindruckte; das Theater; die zahlreichen Literaten und Publizisten; die örtliche Volksaufklärung, welche die Gothaer Bevölkerung in einem sehr hellen Licht erscheinen ließ; Adam Weishaupt als Gründer der geheimen und schließlich verbotenen Gesellschaft der Illuminaten, über den man sich nur mündlich auszutauschen wagte – und der Vergleich mit Weimar. Letzteres erscheint insbesondere überstrahlt von einer späteren Voreingenommenheit, während die beiden Städte zeitgenössisch, etwa in den Texten von Handwerkern, noch gleichrangig figurierten, als Stationen einer Reise von A nach B, die zwangsläufig zu passieren waren.
Als Fokalisationspunkt eines Großteils der städtischen und höfischen Gesellschaft betrachtete MARKUS MEUMANN (Gotha) die Gothaer Freimauerloge, der in den 1780er-Jahren rund 50 Mitglieder zuzuordnen waren. Zudem zeichnete er mittels einer Neusichtung des Quellenmaterials eine Chronologie der Logentätigkeit nach, einerseits im Verhältnis zur Minervalkirche, andererseits aber auch zu den übergeordneten Großlogen, bis hin zu Auflösung und Wiedergründung 1806. Eine wichtige Rolle kam speziell in der Gothaer Loge den Aufsätzen zu, die von den Mitgliedern einzureichen waren, zirkulierten, kritisiert wurden und Gegenaufsätze evozierten.
Den Briefwechseln einzelner Akteure in Gotha wandten sich die Beiträge in der dritten Sektion zu. In den umfangreichen Nachlässen des Autors, Journalisten und Büchersammlers Karl August Böttigers, des zu frühmorgendlicher Stunde Hasen jagenden Gothaer Gymnasialdirektors Friedrich Wilhelm Döring und des in herzoglichen Diensten stehenden Bibliothekars Friedrich Jacobs ließ FRIEDER SONDERMANN (Sendai) eine Dreierkonstellation im Spannungsfeld zwischen den jeweiligen Publikationsvorhaben und gegenseitiger Kritik aufscheinen.
CLAUDIA TASZUS (Jena) fokussierte den Briefwechsel zwischen Böttiger und Heinrich August Ottokar Reichard, deren Korrespondenz sich zwischen 1802 bis zu Reichards Tod 1828 zu einem zunehmend freundschaftlicheren Austausch intensivierte. Aufgrund des Überlieferungsverhältnisses von ca. 5:1 dominierte Reichards Perspektive, einerseits als Anekdotenerzähler sowie andererseits als Zeitzeuge und minutiöser Chronist des Umbruchs am Hof nach dem Tod des Herzogs Ernst II. oder der Inhaftierung Beckers in der Napoleonischen Zeit.
Reichards Journale bildeten den Gegenstand der Vorträge der nächsten Sektion. PETER HESSELMANN (Münster) konzentrierte sich auf Reichards Theaterperiodika, auf den „Theaterkalender“ und das „Theater-Journal für Deutschland“, beide im Gothaer Verlag von Carl Wilhelm Ettinger erschienen. Vor dem Hintergrund Gothas als namhafter Bühnenspielstätte in den 1780er-Jahren, einem herausragenden Ort der Theaterkultur und der Professionalisierung des Bühnenwesens, waren sie Informationsbörse, boten statistische Daten, lieferten Verzeichnisse und waren mit zahlreichen Kupferstichen illustriert.
KATRIN LÖFFLER (Leipzig) betrachtete die über 20 Jahre von Reichard geführte Zeitschrift „Olla Potrida“ als Lesejournal in der Art eines Reader’s Digest, das großteils Wiederabdrucke in verschiedenen Rubriken bot. Schwerpunktmäßig fanden sich darin Autoren aus dem Thüringer Raum sowie aus Göttingen und Berlin versammelt.
Der letzte Tag der Konferenz widmete sich stärker dem Komplex „Gotha und die Literatur“, was als weitere Forschungslücke augenfällig wurde. HELGA MEISE (Reims) thematisierte die wenig bekannte Amalie Froriep mit ihrem Briefroman „Amalie von Nordheim, oder Der Tod zur unrechten Zeit“, der in zwei Teilen 1783 erschien. Vermutlich in kurzer Zeit entstanden, erweist sich die Originalität des teils als Schlüsselroman zu lesenden Werks etwa in der Gestaltung der vielfältigen Charaktere und ihrer Mobilität, der Thematisierung nicht nur zeitgenössisch aktueller Fragen – etwa Für und Wider von Impfungen – oder durch Todesfälle, die jeweils die Handlung vorantreiben.
MICHAEL LUDSCHEIDT (Erfurt) warf ein Schlaglicht auf Christoph Jakob Wagenseils in Gotha verbrachtes Jahr und seine in dieser kurzen Zeit umfangreich entfaltete Redaktions-, Publikations- und Herausgebertätigkeit. Vom Verleger Ettinger eingeladen, wurde Gotha für Wagenseil dem Ruf, eine der angenehmsten und gastfreiesten Städte ihrer Zeit zu sein, gerecht und bot mit Bibliothek und Theater ein produktives Umfeld, in dem es Wagenseil binnen kurzem gelang, sich exzellent zu vernetzen.
Abschließend setzte sich ANETT LÜTTEKEN (Zürich/Bern) mit dem Autor Friedrich Wilhelm Gotter und seinen Adaptionen französischer und italienischer Stücke für die Gothaer Hofbühne auseinander. Gemeinsam mit dem Leipziger Verleger Johann Gottfried Dyck folgte er dabei dem Prinzip einer Nationalisierung der Übertragungen und zeigte seinen Sinn für die Erfordernisse der Theaterpraxis, wenngleich der Vorwurf der mangelnden Originalität lange für eine Abwertung seines Schaffens sorgte.
Der Tagung anlässlich des Todesjahres Beckers gelang es, die Perspektive zu weiten und Gotha als intellektuelles Zentrum mit einer Reihe weiterer Akteure und Aspekte in den Blick zu rücken. Mehrfach wurden dabei spätere dominante Verengungen auf das bei aller geografischen Nähe doch bisweilen sehr fern liegende Weimar unterlaufen. Gotha erwies sich als wichtiger „Mittler” und „in der Mittelposition” wie Martin Mulsow und Dirk Sangmeister zum Abschluss resümierten. Entsprechend legten die Vorträge eine Reihe von Verdichtungen und Schnittpunkten offen, in dem Versuch, das Gesamtgefüge eines Orts in seinen Beziehungen zu fokussieren, keineswegs nur in einem Gruppenporträt einzelne Akteure zu betrachten, sondern dahinterliegende Interessen, Verbandelungen und charakterliche Eigenheiten ebenso wie (kultur-)politische und ökonomische Fragen der Zeit aufscheinen zu lassen. Zugleich rückten potentiell weiter zu schließende Leerstellen in die Aufmerksamkeit, sei es die Zeichenakademie von Friedrich Wilhelm Eugen Döll, die Höhere Töchterschule (die Stielersche Anstalt) oder die sich seit 1768 wieder in Gotha ansiedelnden jüdischen Familien5.
Konferenzübersicht:
Eröffnung
Martin Mulso (Gotha): Intellektuelle Konstellationen in Gotha 1780-1800
Sektion I: R. Z. Becker
Holger Böning (Bremen): Gotha als Gründungsort einer gemeinnützig-aufklärerischen Publizistik
Reinhart Siegert (Freiburg): Der Anteil von Philanthropinismus und Illuminatenorden an R. Z. Beckers Laufbahn
Olaf Simons (Gotha): Publizist im Geheimorden – Beckers Tagebuch seiner Illuminatenmitgliedschaft
Marian Hefter (Gotha): Becker und die deutsche Nationaltracht
Sektion II: Gesellige und semi-arkane Kreise
Dirk Sangmeister (Gotha): Das Bild Gothas in der Reiseliteratur um 1800
Markus Meumann (Gotha): Die Gothaer Freimaurerloge als „Black Box" des geselligen Lebens der 1780er Jahre
Sektion III: Korrespondenzen
Frieder Sondermann (Sendai): Aus dem Briefwechsel dreier Altphilologen: Böttiger – Döring – Jacobs
Claudia Taszus (Jena): Zwei Polygraphen im Dialog: Der Briefwechsel zwischen Reichard und Böttiger
Sektion IV: H. A. O. Reichards Journale
Peter Heßelmann (Münster): Reichards Gothaer Theaterperiodika
Katrin Löffler (Leipzig): Reichards Olla Potrida
Sektion V: Vergessene Akteure im literarischen Feld
Helga Meise (Reims): Die früh gestorbene Schriftstellerin Amalie Froriep (1752-1784)
Michael Ludscheidt (Erfurt): Christian Jakob Wagenseils Intermezzo in Gotha (1778/79)
Sektion VI: Anregende Vorlagen und fremde Blicke
Anett Lütteken (Zürich/Bern): „Nach Gozzi" – Gotters Beitrag zur Lustspielrezeption auf deutschsprachigen Bühnen
Abschlussdiskussion
Anmerkungen:
1 Martin Mulsow, Die Gothaer Illuminaten als fortgeführte „gemeinnützige Privatgesellschaft“? Die Aufsatzpraxis der Gothaer Sozietät von 1778 und die Minervalkirche von 1783–1787“ in: Aufklärung 28 (2016), S. 343–360.
2 Martin Mulsow, Dilettantismus oder „Nebenwerk““, in: Zeitschrift für Historische Forschung 48, Nr. 3 (1. Juli 2021), S. 475–499. https://doi.org/10.3790/zhf.48.3.475.
3 Werner Greiling, Presse und Öffentlichkeit in Thüringen: mediale Verdichtung und kommunikative Vernetzung im 18. und 19. Jahrhundert. Köln 2003, S. 209.
4 Reinhart Siegert, Aufklärung und Volkslektüre. Exemplarisch dargestellt an Rudolph Zacharias Becker und seinem „Noth- und Hülfsbüchlein“. Mit einer Bibliographie zum Gesamtthema, in: Archiv für Geschichte des Buchwesens, Bd. 19, Frankfurt am Main 1978, Sp. 565-1344; auch als Separatdruck unter demselben Titel Frankfurt am Main: Buchhändlervereinigung 1978. 2. erg. Aufl. in Vorbereitung.
5 Eike Küstner, Jüdische Kultur in Thüringen: Eine Spurensuche, Erfurt 2012, S. 95.