Rechte Zeitenwende? Die Transformationsphase extrem rechter Politik in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren

Rechte Zeitenwende? Die Transformationsphase extrem rechter Politik in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren

Organisatoren
Fritz Bauer Institut, Frankfurt am Main; Zeithistorischer Arbeitskreis extreme Rechte, Potsdam
Veranstaltungsort
Goethe-Universität Frankfurt am Main
PLZ
60486
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
29.06.2022 - 30.06.2022
Von
Linn Sofie Børresen, Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin

Die gesellschaftliche und politischen Zeitenwende der späten 1960er- und frühen 1970er-Jahre zeigte sich auch in Neuausrichtungen der extremen Rechten: Der fortschreitende Angriff auf die Liberalisierung, die Agitation gegen den vermeintlichen ‚Sittenverfall‘, ein verstärkter Nationalismus sowie eine gewaltgeprägte Jugendkultur kennzeichnete die extreme Rechte der Zeit. Diese Transformationsphase brachte neue Akteur:innen, Aktionsformen und ideologische Stoßrichtungen, ohne dass altes Personal und Ideen der extremen Rechten sich deswegen verabschiedet hätten. In einer Wechselwirkung zwischen Modernisierung und Kontinuität waren sie von eben jener Zeit geprägt, die sie so vehement kritisierten. Bei der Tagung standen verschiedene Ansätze und Strömungen in dieser Umbruchsphase und deren Zusammenhänge im Mittelpunkt, das Verhältnis des rechten Milieus zu Staat und Gesellschaft und deren Entwicklungen und Auswirkungen.

Die Wichtigkeit der Tagung unterstrich SYBILLE STEINBACHER, Leiterin des Fritz Bauer Institut (Frankfurt am Main) in ihrer Begrüßung und nannte das Thema „einen blinden Fleck der Zeitgeschichte“. ANKE HOFFSTADT (Düsseldorf) fügte in ihrer Einführung mit NIKLAS KRAWINKEL (Frankfurt am Main) ergänzend hinzu; das Thema sei keine Eintagsfliege und trotz wachsendem, politischem und historischem Interesse, müsste noch mühsam und detailliert nachgefragt werden.

In diesem Kontext wurde das erste Panel zur NPD präsentiert. JAKOB SAß (Potsdam) problematisierte erst die NPD als „Soldatenpartei“ und deren Beziehung zur Bundeswehr. Mit dem Vortragstitel „Wir haben mindestens 1200 Bundeswehrmänner“ wieß Saß auf das übertriebene Selbstbild der NPD in ihrem Aufstieg ab Mitte der 1960er-Jahre hin, wobei es der neuen Partei tatsächlich gelang, Zeit- und Berufssoldaten mit auffälligen Posten in der Kommunal- und Landespolitik zu versorgen. Medialer und interner Aufschrei wurden oft von dem Verfassungsschutz und der Bundeswehr verharmlost mit Erklärungen wie, Mitglieder der NPD in der Bundeswehr seien lediglich als „Einzelfälle“ zu betrachten sowie mit der von Saß genannte „Spiegelthese“ – die Bundeswehr wäre ein Spiegel der Gesellschaft, weshalb Rechtsradikalismus nicht Fuß fassen könnte. LAURA HAßLER (Potsdam) nahm die Jugendorganisation der NPD Junge Nationaldemokraten (JN) um die 1970er-Jahre in den Blick. Die JN spiegelten ihre Zeit wieder, indem sie Aktionsformen der Linken (Sitzstreiks, Protestlieder) übernahmen. Zugleich organisierte sie auf inhaltlicher Ebene gezielte Gegendemonstrationen, wenn die Linke gegen den Vietnamkrieg demonstrierte. Diese Wechselwirkung zeigt ein Abgrenzungsproblem. Die JN übernahmen popkulturelle Praktiken nicht, um ihre politische Position „scheindemokratisch“ zu verschleiern oder die Taktiken der Linken zu adaptieren, sie wollten mehr Mitglieder werben, indem sie sich mit bekannten Parolen und Bildern „schmückten“. In der folgenden Diskussionsrunde fragte Haßler überzeugend nach, ob die Neue Rechte nicht eher als „ein Set von Handlungen und Reaktionen“ zu verstehen seien, denn als eine Gruppe? Eine solche These gebe der Forschung frischen Wind, die sich oft schwertue, die Neue Rechte zu definieren.

VALERIE DUBSLAFF (Rennes) nahm den Fokus des vorherigen Panels auf die NPD auf, indem sie sich zweiten Panel über Liberalisierungstendenzen mit den Nationaldemokratinnen und deren Wandel befasste. Ihr Schluss: Je liberaler und offener die Gesellschaft wurde, desto größer wurde der Widerstand von den Nationaldemokratinnen. Nach der Definition „männlich, konnotierte(r) Politikbereiche“ blieben „Familie-, Heimat-. Erziehung-, Sittlichkeit- und Kulturpolitik bei der NPD „Frauensache“, was aber die Nationaldemokratinnen innerparteilich ausnutzten, um sich selbst zu behaupten. Geprägt von dem Paradigma der Neuen Sozialen Bewegungen in den 1970er-Jahren entwickelten die Nationaldemokratinnen einen Art Anti-Feminismus, der einerseits Frauen in die Politik integrieren sollte, aber anderseits gegen die zeittypische, moderne Frau agitierte.

SEBASTIAN BISCHOFF (Potsdam) setzte sich mit der Liberalisierung aus der Perspektive „Porno-Welle“ als Verfallsgeschichte auseinander. Am Beispiel Manfred Roeder beleuchtete Bischoff Ambivalenz und Brücke der extremen Rechte und deren Reaktion auf die sexuelle Revolution. „Sittenverfall“ war das Buzzword Roeders, der sich als Wächter der Moral und des Christentums gegen die Pornographie inszenierte. Sowohl Dubslaff als auch Bischoff verdeutlichten in ihren Vorträgen, wie rechtsextreme Argumente gegen die gesellschaftliche Liberalisierung oft auf Mythen (Sündenfall) beruhten und wie sie mit antimodernen Parolen konservative Bereiche erobern konnten. Darüber hinaus vermochten die Extreme Rechten Nationalismus in die Kulturpolitik einzubinden.

Im Abendvortrag spitze GIDEON BOTSCH (Potsdam) das Tagungsthema der „Rechten Zeitenwende?“ zu, indem er rechtsextreme Wendepunkte diskutierte. Botsch widmete sich Helmut Sündermann, der bereits in den 1930er-Jahren aktiv war und der, ähnlich wie Arthur Erhardt, den Bedarf einer Veränderung des Rechtsextremismus sah. Die Ideologie Sündermanns als „eine pluralistische Europäische Idee“ knüpfte an den Algerien-Krieg 1958, die Feuernacht in Südtirol 1961 und eine Anti-Israel Politik an. Botsch zeigte, wie Nationalismus und Antisemitismus wichtiger Teil der Neuen Rechten blieben.

Im vierten Panel beschäftigte sich MARIE MÜLLER-ZETZSCHE (Potsdam) mit dem Generationswechsel der Zeitschrift Nation Europa. Mit einer punktuellen Darstellung zeigte sie, wie jüngere Stimmen (Henning Eichberg, Wolfgang Günther) von Arthur Ehrhardt (Chefredakteur bis 1972) gefördert wurden, und wie Verfremdungsthemen und nationale Revolution, unter Einfluss der französischen Nouvelle Droite in den Vordergrund rückten. Abschließend setzte Müller-Zetzsche ein Fragezeichen hinter den neuen Nationalismus als ausschlaggebendes Definitionsmerkmal der Neuen Rechte. CHRISTIAN SAEHRENDTS (Thun) Thema Documenta 4 (1968) und Documenta 5 (1972) als Agitationsfeld der extremen Rechten hatte sogar gegenwärtigen Bezug: Mit der aktuellen, politischen Debatte über Antisemitismus in der Documenta 15 in Kassel, zog Saehrendt eine Linie zwischen der Documenta als Ort rechtsextreme Hetze als auch einen Raum der Moderne.1 Dieses scheinbare Paradox verkörperte das Dilemma der modernen Kunst, und es sollte dementsprechend nicht überraschen, dass die Documenta 4 und 5 sowohl von Linken und Rechten angegriffen wurde. Die extreme Rechte habe hier an einen Diskurs aus der Vergangenheit, der ‚entarteten Kunst‘, angeknüpft und diesen mit der Politik der Gegenwart vermischt. Einen Erfolg der rechtsextremen Attacken auf die Documenta zweifelte Saehrendt jedoch an.

Die Vorträge des viertens Panels von KATHARINA TRITTEL (Göttingen) und PHILIP KNÄBLE (Göttingen) bezogen sich auf Bildungsstrategien und Metapolitik des Rechtsextremismus durch einen Akteurs-orientierten Ansatz. Mit dem vor kurzem erschlossenen Nachlass Hans-Michael Fiedlers (1943 – 2019) konnte Trittel neue und interessante Informationen zum ehemaligen NPD-Multifunktionär und seiner „nationalen Bildungsstrategie“ darlegen. Neue Quellen zeigten, wie Fiedler als Gründungsmitglied schon von Anfang an eine „Gesinnung der Gesellschaft“ durch die sogenannten „kleinen Gemeinschaften“ propagandierte und wie er seine metapolitische Agenda durch den Aufbau von Kaderstrukturen erfolgreich umsetzten konnte. Eine erfolgreiche, rechtsextreme Bildungsstruktur stellte auch Knäble dar, indem er das Vlothoer Collegium Humanum um Werner und Ursula Haverbeck als Ort der rechtsextremen Öko-Bewegung problematisierte. In zwei übergeordneten Punkten zeigte er, wie die Entstehung des Collegium Humanums auf Schultern der NS-Ideologie und ehemaligen Nationalsozialisten fußte und wie Umweltpolitik mit einem praxisnahen Bezug von den Haverbecks verknüpft wurde. Im Kontext der neuen sozialen Bewegungen verbanden sie alternativen Lebensstil mit Naturschutz gleich Heimatschutz und konnten dadurch erfolgreich junge Menschen mobilisieren. Obwohl die Verbindung zwischen Konservativen, Rechtsextremen und Umweltbewegung schon Aufmerksamkeit in der Wissenschaft bekommen hatte, fehlen noch viele Details, so Knäble.

Im letzten Panel wurde Geschichtspolitik in der Bundesrepublik unter Einbeziehung von Armin Mohlers Abwehr der Vergangenheitsbewältigung thematisiert. MAIK TÄNDLERS (Jena) These – die rechte Kritik gegen jene Vergangenheitsbewältigung sei schon in den 1960er- und 1970er-Jahren entwickelt worden, käme aber primär von neu-rechten Intellektuellen und nicht von „Alt-Nazis“ – belegte er unter anderem mit Texten Mohlers. Tändler sah einen „apokalyptischen Untergangs-Diskurs“ bei Mohler, wenn dieser Kriegsschuld als ein zerstörendes, nationales Selbstbild darstellte oder die Vergangenheitsbewältigung als „linke Waffe“ bezeichnete. FABIAN WEBER (Hamburg) veranschaulichte Mohlers Beziehung zum Judentum. Weber unterstrich, dass, obwohl die Neue Rechte nicht eine erkennbare antisemitische Stoßrichtung aufweise, sie doch eindeutig antisemitische Ansichten vertrete. Mohlers geschichtspolitische Überzeugung, die Juden könnten die Vergangenheit nicht objektiv verstehen sowie eine ausgeprägter Anti-Philosemitismus, war Wasser auf den Mühlen der neurechten Vergangenheitspolitik. Die Relation zwischen Mohler und der jüdischen Publizistin, Salcia Landmann (1911 – 2002) – die übrigens in neurechten Zeitschriften wie Criticón und Junge Freiheit publizierte – sei deshalb Weber zufolge eher ein Beispiel dafür, wie Mohler alte Kontakte pflegte. Anschließend wurde nach einem „Opfer-Diskurs“ der Neuen Rechten gefragt und diskutiert, inwieweit eine rechte Geschichtspolitik heute Anklang findet.

Mit dieser Referenz zur Gegenwart wurde die Abschlussdiskussion eröffnet. Hierbei stellten sich einige essenzielle Zwischenkonklusionen heraus: Erstens konnte sicherlich von einer Zeitenwende der extremen Rechte gesprochen werden – wie Krawinkel pointierte, hätte das Fragezeichen nach Zeitenwende in dem Tagungstitel gleich gestrichen werden können. Zweitens profitierte die Rechte vom Zeitgeist, gegen den sie sich gleichzeitig wandte. Drittens spielten „Nationalismus“ und „Nationale Identität“ im Kontext eines „Untergang-/Apokalypse-Diskurs“ eine zentrale Rolle. Viertens zeigte sich der Generationskonflikt des rechten Lagers primär in Ausdrucksformen. Die Themen aber, die für die extreme Rechte vor 1960- und 1970-Jahren wichtig waren, blieben auch danach wichtig. Was sagt uns das?

Die Geschichtswissenschaft hat die 1960er- und frühen 1970er-Jahre primär vor dem Hintergrund linker Bewegungen untersucht, Bedarf und Anzahl an Untersuchungen der extremen Rechten in dieser Zeit sind aber gewachsen. Unter der Prämisse „Transformationsphase und Generationsbruch“ wäre es vielleicht für spätere Untersuchungen interessant, klassische Theorien der Sub- und Jugendkultur von John Clarke, Stuart Hall und Tony Jefferson in die Untersuchung der neuen Rechten miteinzubeziehen. Denn sie argumentieren, dass eine Jugendkultur immer in Relation zur „Abstammungskultur“ und der „dominierenden Kultur“ verstanden werden müsste, trotz ihres Versuchs sich von beiden zu distanzieren.2 Diese Wechselwirkung wurde teilweise auch bei der Tagung veranschaulicht, und wie die neue Generation der Rechten sich von der gesellschaftlichen Liberalisierung und den alten Rechten distanzierte, gleichzeitig aber in Letzterer ihre Wurzeln hatte: Sie war sozusagen ein Produkt ihrer Zeit sowie ein Produkt ihrer Eltern. Offen bleiben Fragen zu Rechten und Linken und ihrer Beziehung zueinander, sowie Entwicklungen rechtsextremer Netzwerke. Diese Punkte sind besonders interessant und helfen zu verstehen, wie das rechtsextreme Lager sich heute verhält. Das Interesse an den zugrundeliegenden Ideologien des rechteextremen Lagers ist hoch und für die Geschichtswissenschaft sind noch viele Untersuchungsfragen unbeantwortet.

Konferenzübersicht:

Sybille Steinbacher (Frankfurt am Main): Begrüßung

Anke Hoffstadt (Düsseldorf) / Niklas Krawinkel (Frankfurt am Main): Einführung Begrüßung

Panel 1: Neue Soldaten – neue Jugend: Fokus NPD
Moderation: Niklas Krawinkel (Frankfurt am Main)

Jakob Saß (Potsdam): „Wir haben mindestens 1200 Bundeswehrmänner“. Die „Soldatenpartei“ NPD und die Bundeswehr

Laura Haßler (Potsdam): Braune Jugend im „roten Jahrzehnt“: Die NPD Jugend „Junge Nationaldemokraten“ um 1970

_Panel 2: Sodom und Gomorrha als »Leitbild der Zeit«: Die extreme Rechte und
gesellschaftliche Liberalisierungstendenzen_
Moderation: Christoph Schulze (Potsdam)

Valérie Dubslaff (Rennes): Zwischen Traditionalismus und Aufbruch Nationaldemokratinnen in einer politischen Scharnierzeit

Sebastian Bischoff (Paderborn): „Hinter den Sittenverderbern stehen Volksverderber...“ Der Kampf der bundesrepublikanischen Rechten gegen „Sittenverfall“ und Pornografie um 1970 – das Beispiel Manfred Roeder

Öffentlicher Abendvortrag
Moderation: Niklas Krawinkel (Frankfurt am Main)

Gideon Botsch (Potsdam): „Weiße Welt am Wendepunkt?“ Die extreme Rechte am Übergang von den 1960ern zu den 1970ern

Panel 3: Degeneration und Moderne: Extrem rechte Ideologie und Kulturpolitik
Moderation: Anke Hoffstadt (Düsseldorf)

Marie Müller-Zetzsche (Potsdam): Neuer Nationalismus: Generationenwechsel in der „Nation Europa“ 1968–1972

Christian Saehrendt (Thun): Moderne Kunst als Agitationsfeld der extremen
Rechten – Reaktionen auf die documenta 4 (1968) und die documenta 5 (1972)

Panel 4: Metapolitik und Kaderschmieden: »Bildungsangebote« der extremen Rechten
Moderation: Jens Kolata (Frankfurt am Main)

Katharina Trittel (Göttingen): Als Partei gescheitert – den vorpolitischen Raum erobert? „Nationale Bildungsarbeit“ im metapolitischen Sinne als Handlungsstrategie des NPD-Multifunktionärs Hans-Michael Fiedler

Philip Knäble (Göttingen): Von der Umweltakademie zum Zentrum für Holocaustleugner. Das Vlothoer Collegium Humanum als Akteur der Umweltbewegung (1963–1979)

Panel 5: Alles nur Kulturpessimismus? Geschichtspolitik und neue Feindbestimmungen
Moderation: Veronika Duma (Frankfurt am Main)

Maik Tändler (Jena): „Nationalmasochismus“. Rechtsintellektuelle Geschichtspolitik und die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik in den 1960er Jahren

Fabian Weber (Hamburg): Von der Souveränität und ihrer Beschneidung. Die Neue Rechte und die Juden in Deutschland seit den späten 1960er Jahren

Abschlussdiskussion
Moderation: Anke Hoffstadt (Düsseldorf) / Niklas Krawinkel (Frankfurt am Main)

Anmerkungen:
1 Martin Zeyn, Skandal mit Ansage: Der Antisemitismus-Eklat auf der Documenta 15 war absehbar“, https://www.br.de/kultur/documenta-unter-antisemitismus-verdacht-100.html (19.08.2022).
2 John Clarke u.a. Subcultures, cultures and class, in: Stuart Hall / Tony Jefferson, Resistance Through Rituals, 2. ed. Routledge, 2006.

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