Natürliches – Übernatürliches. Natur und Geschlechtsbegriff

Natürliches – Übernatürliches. Natur und Geschlechtsbegriff

Organisatoren
Monika Mommertz / Claudia Opitz-Belakhal, Universität Basel; Arbeitskreis Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit; Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Fachbereich Geschichte (Arbeitskreis Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit)
Ausrichter
Arbeitskreis Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit
Ort
Hohenheim
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
27.10.2022 - 29.10.2022
Von
Magdalena Irnstötter, Institut für Geschichte, Universität Wien

Im Fokus der 27. Tagung des Arbeitskreises Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit standen frühneuzeitliche Diskurse und Praktiken, die sich auf das Natürliche, Übernatürliche oder Widernatürliche bezogen oder auf diese zurückgeführt werden, und deren Beziehung zu Geschlechterordnungen oder -differenzen. Die Referent:innen wie auch die Teilnehmer:innen hatten verschiedene disziplinäre Hintergründe, weshalb das Tagungsthema nicht nur aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet, sondern auch lebhaft diskutiert wurde. Die langen Diskussionen waren ein zentraler Bestandteil der Tagung. Als roter Faden kristallisierte sich in ihnen die Notwendigkeit der Historisierung sowohl des Natur- als auch des Geschlechterbegriffs heraus, da beide nicht losgelöst von Ideen einer übernatürlichen Schöpfungs- und Heilsgeschichte verstanden werden können.

In ihren einleitenden Worten umriss Monika Mommertz (Basel) die Ziele der Tagung. Die Verbindung von Natürlichem und Übernatürlichem, obwohl an sich kein neues Thema, beinhalte weiter wichtige Desiderate für die Forschung und durchaus auch für die Geschlechtergeschichte. Zum einen orientiere sich diese auch in jüngeren Jahren immer noch häufig implizit oder explizit an einem modernistischen Interpretationsmuster, das die beiden Sphären vor allem im Hinblick auf Prozesse der Rationalisierung und Säkularisierung in den Blick nimmt. Dass diese Sphären in der Frühen Neuzeit in nahezu allen Kontexten eng miteinander verbundenen und verflochten waren, werde häufig nicht in angemessener Weise berücksichtigt. Damit einher ginge immer noch eine relative Vernachlässigung der Kategorie Geschlecht, die unter anderem dazu führe, dass die Rolle von „weiblich markierten“ Personen, Dingen, Praktiken und Institutionen in der Vermittlung zwischen Natürlichem und Übernatürlichem und den sich daraus ergebenden sozialen und kulturellen Weiterungen unterschätzt oder sogar übersehen werde.

Die Keynote von ANNA BECKER (Aarhus) untersuchte Genderaspekte der politischen Theorie von Thomas Hobbes. Wie Becker darlegte, ging Hobbes von einer absoluten Gleichheit der Geschlechter im Naturzustand aus, die erst mit der Gründung des Commonwealth und dem Gesellschaftsvertrag beseitigt wurde. Müttern kam im Naturzustand eine besondere Rolle zu, da sie mit dem Stillen ein natürliches Herrschaftsrecht über die Kinder erlangten und damit summum imperium, öffentliche Macht, hatten. Bei Hobbes ist die Mutterschaft zugleich antiessentialistisch gedacht, da die mütterlichen Pflichten (insbesondere die Ernährung der Kinder) auch abgelehnt und anderen übertragen werden konnten. Becker wies durch eine historische Kontextualisierung von Hobbes' Ausführungen nach, dass seine Positionen keineswegs so außergewöhnlich und progressiv waren, wie sie in der Forschung meist dargestellt werden. Carole Patemans Frage, wie aus dieser Machtfülle von Müttern im Naturzustand die Unterordnung von Frauen im Commonwealth werden konnte, stellte Becker ein historisches Argument entgegen: Hobbes habe die Staatsgründung durch Frauen nicht grundsätzlich abgelehnt, der Großteil der Staaten sei aber durch Männer errichtet worden. Aufgrund der doppelten Natur des Menschen, für den der Naturzustand dauernden Krieg wie das Sehnen nach Frieden bedeutet, hätten Mütter in den neuen, meist „männlichen“ Staaten ihre Rechte im Gegenzug für Sicherheit aufgegeben.

HANNAH ELMER (Hannover) eröffnete das erste Panel zur Religion. Der Beitrag beschäftigte sich mit der Praxis der Reanimation von ungetauft verstorbenen Kindern am Ende des Mittelalters. Ziel war ihre Taufe und die Ermöglichung einer christlichen Bestattung. Konkret nahm Elmer die in der Reformation zerstörte Kapelle zu Oberbüren bei Bern in den Blick, wo kürzlich bei archäologischen Ausgrabungen rund 250 Skelette von Föten und Kleinkindern gefunden wurden, die auf eine entsprechende Wiederbelebungspraxis hindeuten. Während die Stadt Bern die Wallfahrtsstätte auch deswegen schützte, um die dort verehrte Jungfrau Maria nicht zu kränken, interpretierte der damalige Bischof von Konstanz, Otto von Sonnenberg, die Reanimationen als eine abergläubische Praxis, die potenziell widernatürliche, dämonische Elemente anlocken könnte. In dieser Skepsis des Bischofs sah Elmer keine Ablehnung des Übernatürlichen, sondern den Versuch einer Abgrenzung von Religion und Aberglaube. Sie plädierte dafür, das Übernatürliche in der Frühen Neuzeit ernstzunehmen. Durch einen Vergleich mit dem Diskurs über die Reanimationspraxis im französischen Langres wies Elmer außerdem eine klare, wenn auch nicht auf den ersten Blick erkennbare Genderkomponente in der Auseinandersetzung um die Kapelle in Oberbüren nach.

Die Theologin JESSICA VOLLSTÄDT (Freiburg/Nijmegen) zeichnete in ihrem Vortrag über Jeanne d’Arc die spätere Heilige als „ganz natürliches Mädchen mit einem Hang zum Übernatürlichen“. Ihre zeitgenössische Wahrnehmung als übernatürliche Heilsbringerin oder widernatürliche Hexe wurde vor allem von ihren (fehlenden) militärischen Erfolgen bestimmt. Vollstädt versuchte Jeannes Entscheidung, Männerkleidung zu tragen, im theologischen Diskurs der Zeit zu verorten. Sie betonte, dass das Todesurteil im zweiten Inquisitionsprozess auch eine Konsequenz dessen war, dass Jeanne sich dem Inquisitionsgericht nicht als demütige Frau und Laiin darstellte, sondern als Person, die zwischen sich und ihren Heiligenvisionen keine Richter akzeptierte. Bei ihrer Verbrennung wurde Jeanne in einer nackten Geschlechtlichkeit präsentiert; ihre widernatürlichen Züge wurden in Form ihrer Kleidung verbrannt. Auch bei der Revidierung des Urteils 1456 und ihrer Rehabilitierung wurde, so Vollstädt, ihre Natürlichkeit als Frau betont.

TANITA SCHMIDT (Kassel) widmete sich dem Naturverständnis des Predigers und Naturforschers Johann Friedrich Wilhelm Herbst (1743–1807). Sie argumentierte, dass Herbsts Naturverständnis tief von seiner Beziehung zu der erblindeten Wilhelmine Derling beeinflusst war. Diese außereheliche Beziehung, die Herbst als „Herzenvereinigung“ beschrieb, sollte nach dem Tod in einer ewigen Vereinigung münden. Wilhelmines Erblindung schränke, so Herbst, ihre Fähigkeit zur Erkenntnis der Natur und damit Gottes im Diesseits zwar ein, im Jenseits jedoch würden beide gemeinsam dank verbesserter Sinneskräfte die Herrlichkeit Gottes in vollkommenerem Glanz erblicken.

Das Panel zu Emotionen eröffnete ANNE SAUDER (Saarland) mit einem Vortrag über die venezianische Querelle des femmes. Sie verortete den Prozess gegen die venezianische Cortigiana Isabella Bell’occhio, die sich bei ihrem Verfahren vor dem Sant’Uffizio wegen Erwirkens eines Liebeszaubers 1589 darauf berief, aus Liebe verrückt geworden zu sein, im Liebesdiskurs der Zeit. Während zeitgenössische gelehrte Frauen wie Lucretia Marinella und Moderata Fonte die „wahre“ Liebe weiblich konnotierten, berief sich die gebildete, aber weniger gelehrte Isabella nicht auf ihr Geschlecht, sondern auf die Wirkungen einer unerfüllten Liebe generell. Anleihen nahm sie dabei möglicherweise im weit verbreiteten Versepos „L’Orlando Furioso“ von Ludovico Ariost. Sauder formulierte die vorläufige These, dass der gelehrte Geschlechterdiskurs möglicherweise weniger Einfluss auf die Vorstellungswelten venezianischer Frauen hatte, als dies die Forschung bislang annahm.

ALINE VOGT (Basel) beschrieb, wie Mitleid mit Tieren in der französischen Aufklärung als weiblich konnotierte, emotionale Praxis naturalisiert und eingegrenzt wurde. Auch wenn Mädchen erst zu Mitgefühl erzogen werden müssten, entwickelten Frauen nach Rousseau aufgrund der ihnen mit Tieren gemeinsamen Schwäche ein „natürliches“ Mitleid mit Tieren. Vogt betonte zugleich, dass Rousseaus Ansicht von Mitleid als prärational und auf der (weiblichen) Natur basierend nicht unwidersprochen blieb; so widersprach ihm etwa Louise d’Épinay in ihrer Erziehungsschrift „Emilie“. Vogt merkte an, dass die so konzeptualisierte Frau-Tier-Beziehung und ihr Gegenstück, die männliche Naturbeherrschung, die Dialektik der Aufklärung auf besondere Weise abbilden. Das Mitgefühl mit Tieren, der weiblichen Lebenswelt zugeschrieben, gefährdete die ökonomische Ausbeutung von Tieren nicht. „Maßlose Tierliebe“, etwa für zunehmend individualisierte Haustiere, wurde aber als künstlich oder übertrieben abgelehnt.

Im Zentrum des Beitrags von STEPHANIE RIEDER-ZAGKLA (Wien) standen Scheidungsakten aus dem Erzherzogtum unter der Enns vom ausgehenden 18. bis ins 19. Jahrhundert, die sie mit Caroline Arni als „gedeutete, interpretierte, mit sozialem und kulturellem Sinn versehene Wirklichkeit“ interpretierte. Ihr Interesse galt der gerichtlichen Thematisierung von Praktiken „devianter“ Sexualität wie nicht-prokreativem Beischlaf, Onanie, homosexuellem Begehren und „Bestialität“. Rieder-Zagkla legte dar, dass die „Widernatürlichkeit“ gewisser Praktiken von der Obrigkeit und den prozessierenden Paaren teilweise deutlich unterschiedlich beurteilt wurde. Die in den Scheidungsakten häufigste Thematisierung von Sexualpraxis „wider die Natur“ betraf den nicht-prokreativen, heterosexuellen Beischlaf, der dem göttlichen Prokreationsauftrag widerspreche, während die Straftatbestände der Homosexualität und Bestialität in zivilen Scheidungsverfahren nur äußerst selten vorgebracht wurden. Anhand des Verschwindens einiger und des Auftauchens „devianter“ Praktiken in den Akten (beispielsweise heterosexueller Geschlechtsverkehr unter Verwendung von Verhütungsmitteln, Masochismus) demonstrierte sie außerdem sich wandelnde Grenzziehungen und Wahrnehmungen zu „natürlicher“ und „widernatürlicher“ Sexualität zwischen dem späten 18. und dem frühen 20. Jahrhundert.

Das dritte Panel zu Repräsentation eröffnete FLORIAN KEHM (Mainz) mit seiner Analyse von Fernreiseberichten des 15. und 16. Jahrhunderts. Anhand von Niccolò de Contis und Poggio Bracciolinis „De varietate fortunae“ (1448), Ludovico de Varthemas „Itinerario“ (1510), Tomé Pires' „Suma orientalis“ (1515) und des „Livro de Duarte Barbosa“ (1516) zeigte er, dass frühneuzeitliche Reiseberichte (Selbst-)Inszenierungen der Autoren und Redaktoren sind, deren impliziter Bewertungsmaßstab für die Beschreibung fremder Kulturen und Geschlechterverhältnisse eine imaginär-heteronormative, christlich-okzidentale Leitkultur ist, verstanden als gottgewollter Naturzustand. Die Darstellung von Geschlecht und Sexualität diente als zentraler Gradmesser für („widernatürliche“) Abweichungen, mithilfe derer die Komplexität von fremden Kulturen für ein christlich-europäisches Publikum auf einzelne Merkmale reduziert, kategorisiert und verständlich gemacht werden konnte. Reiseberichte sind daher ein Spiegel europäischer Moralvorstellungen, die über Geschlecht und Sexualität kommuniziert wurden.

SINA MENKE (Marburg) beschäftigte sich mit den Utopien „The Blazing World“ (1666) und „Memoirs of a Certain Island“ (1724/25) der englischen Philosophinnen Margaret Cavendish und Eliza Haywood. Sie legte dar, wie Cavendish in ihrem naturphilosophisch geprägten Werk Natur und Geschlechterverhältnisse als ständig in Bewegung und damit überwindbar konzeptualisierte. Haywood hingegen verknüpfte ihre Kritik eines moralischen Verfalls der englischen Gesellschaft mit einer Kritik privater Geschlechterbeziehungen, deren Status quo sie als Reaktion auf widernatürliche Umstände sah. Menke skizzierte eine sich aus dem historischen Kontext erklärende, unterschiedliche Behandlung von Natur und Geschlecht in den Werken von Cavendish und Haywood, beschrieb aber auch Kontinuitäten zwischen den beiden Philosophinnen.

IMKE LICHTERFELD (Bonn) nahm eine literatur-/theaterwissenschaftliche Performanzanalyse zweier aktueller Interpretationen von Shakespeares „Macbeth“ hinsichtlich der antropozoologischen Darstellung der weiblich konnotierten Hexen vor. Während diese in Joel Cohens abstraktem, symbolisch aufgeladenem, schwarz-weiß geprägtem Film „The Tragedy of Macbeth“ von 2021 als möglicherweise genderlose, natürliche Krähen erscheinen, die aber dem Übernatürlichen zugeordnet sind, sind die Hexen in Evgeny Titors fragmentierter, postmoderner, psychologischer „Macbeth“-Inszenierung im Düsseldorfer Schaupielhaus (ebenfalls 2021) betörende, heimsuchende Spinnenwesen mit natürlich-tierischer Unnatürlichkeit. Gemeinsam haben die Interpretationen vor dem Hintergrund von Umwelt- und Coronakrise eine bedrückende Atmosphäre von Schicksal und Unabwendbarkeit; sie zeigen eine Welt aus den Fugen.

Die Diskussionen zu den einzelnen Beiträgen wie auch die Schlussdebatte griffen die Überschneidung von Natur und Geschlecht in vielerlei Facetten auf. Zur Hinterfragung der häufig impliziten Annahme einer Entzauberung der Welt seit der Frühen Neuzeit wurde der moderne Naturbegriff problematisiert und seine Rückprojektion in die Frühe Neuzeit kritisiert. Vorstellungen über das Natürliche und Übernatürliche sind in der Frühen Neuzeit nicht als Gegensätze zu betrachten, sondern sie bedingen einander über die Schöpfungs- und Heilsgeschichte. Natur ist von Gott erschaffen und durch Interpretation zugänglich. Die Kategorie Geschlecht ist ihrerseits über die Idee einer natürlichen Geschlechterordnung eng in diese Gedankenwelt eingebunden. Der Zugang zu Natur und Übernatürlichem und die Möglichkeiten zu deren Beeinflussung waren geschlechtlich kodiert. Verstöße gegen eine als natürlich konzipierte (Geschlechter-)Ordnung konnten schließlich als un- oder widernatürlich (dis-)qualifiziert werden. Die Tagung verstand sich daher als Aufforderung zur Historisierung und Entgrenzung von Natur und Geschlecht und schuf mit dem Aufzeigen neuer Perspektiven ein Bewusstsein für dieses Problemfeld.

Die nächste Fachtagung des Arbeitskreises wird vom 26. bis 28. Oktober 2023 unter dem Thema „Arbeit Macht Geschlecht“ stattfinden.

Konferenzübersicht:

Monika Mommertz (Basel): Einleitende Worte

Keynote

Anna Becker (Aarhus): Mütter, Väter und die Geburt der frühneuzeitlichen Republik

Panel I: Religion

Hannah Elmer (Hannover): Leben an der Grenze zwischen dem Natürlichen und dem Übernatürlichen. Die Reanimation in der Kapelle zu Oberbüren am Anfang der Frühen Neuzeit

Jessica Vollstädt (Freiburg/Nijmegen): Jeanne d’Arc – widernatürliche Kreatur in Männerkleidern oder geschlechts-überwindende Prophetin Gottes?

Tanita Schmidt (Kassel): „[…] daß sie nicht schon ein Himmel für uns ist“. Naturerfahrung als Geschlechterbeziehung bei J. F. W. Herbst

Panel II: Emotionen

Anne Sauder (Saarland): Über die Natur der weiblichen Liebe in der venezianischen Querelle des Femmes und vor dem Sant’Uffizio, 1580–1620

Aline Vogt (Basel): Tierische Beziehungen. Mitleid und Geschlecht in der französischen Aufklärung

Stephanie Rieder-Zagkla (Wien): Sexualpraktiken „wider die Natur“ im Fokus von Scheidungsverfahren vom ausgehenden 18. bis ins 19. Jahrhundert

Panel III: Repräsentation

Florian Kehm (Mainz): Natürlichkeit und Widernatürlichkeit der Geschlechter in Fernreiseberichten des 15. und 16. Jahrhunderts

Sina Menke (Marburg): Natur und Übernatürlichkeit in der Konstruktion von Geschlecht in Utopien frühneuzeitlicher Philosophinnen

Imke Lichterfeld (Bonn): Natürliche Tiere – Übernatürliche Hexen. Macbeth 2021