Die Erforschung historischer Graffiti wird derzeit in drei ERC-geförderten Projekten in Italien, Zypern und Frankreich sowie durch zahlreiche andere Initiativen vorangetrieben. Die dabei zutage geförderten Befunde sind so zahlreich wie bemerkenswert und zeigen vor allem, dass der Quellenwert historischer Graffiti zunehmend erkannt wird. In diesem Kontext bewegte sich die Tagung, zu der zahlreiche internationale Forscherinnen und Forscher aus Belgien, Deutschland, Großbritannien, Österreich, Schweden, USA und Zypern beitrugen. Aufgrund dieses internationalen Zuschnitts wurde die Tagung hybrid veranstaltet, vor Ort waren dabei etwa 20 Teilnehmer, online noch einmal über 50. Die Vorträge wurden aufgezeichnet und über Youtube zur Verfügung gestellt.1
Schon in ihrer Begrüßung betonte Emma Bryning (York), wie sehr sich die Wahrnehmung der Erforschung der Graffiti in den letzten zwei Jahrzehnten gewandelt hat. Nicht zuletzt ist dies Initiativen wie dem Norfolk Medieval Graffiti Survey von Matthew Champion zu verdanken, der für einige der Vortragenden der ausschlaggebenede Punkt war, sich mit der Thematik näher zu beschäftigen.
Sektion 1 wurde von einer Keynote von MIA TRENTIN (Aglantzia) eingeleitet. Sie ging zunächst auf die Probleme der Definition von Graffiti als Quellengruppe ein und wiederholte ihre Beobachtung, dass mit dem derzeitigen Forschungsstand anstatt einer Definition nur eine Deskription möglich sei. An Funktionen von Graffiti fasste sie neben Devotion und Votiv auch die damnatio memoriae. Damit leitete sie zu einem konkreten Beispiel über, der systematischen Erfassung und Aufarbeitung der historischen Graffiti auf Zypern in der Projektdatenbank „Digigraf“. Trentin konnte anhand mehrerer Beispiele zeigen, dass gerade Text-Bild-Graffiti in ihrer Zuordnung einige Schwierigkeiten verursachen.
THOMAS WOZNIAK (Tübingen) beschäftigte sich mit dem seltenen Schriftträger Glas und schätzte, dass auf etwa 1.000 Graffiti an der Wand etwa ein erhaltenes Graffito auf Glas zu verzeichnen ist. Nichtsdestotrotz können die Einzelbefunde umfangreich sein. Es ist zu unterscheiden zwischen Glasgefäßen (Humpen, Trinkgläser) und immobilem Glas (Fenster in sakralen und profanen Räumen). Die Ritzungen können nur mit Hilfe von Diamantwerkzeugen angebracht werden, wie anhand von mehreren Beispielen gezeigt wurde, darunter über 840 Graffiti von Besuchern im Geburtshaus Shakespeares in Stratford-Upon-Avon aus dem 19. Jahrhundert.
RACHAEL HELEN BANES (Wien) ging auf mittelalterliche Pilgergraffiti im byzantinischen Raum ein und stellte die Befunde von drei Kirchen vor: der Hagia Sophia in Konstantinopel, der St. Johanneskirche in Ephesos und der kleinen Höhlenkapelle Horvat Qasra in Israel. Durch die Auswertung der Positionierung der Graffiti konnte gezeigt werden, dass Graffiti einen wichtigen Einblick in die Nutzung religiöser Stätten in einem breiten zeitlichen und räumlichen Kontext bieten und dass die Entwicklung der Graffitipraktiken an jeder Stätte so einzigartig ist, dass sie nur aus dem jeweiligen Kontext heraus verstanden werden kann.
Einen Überblick über einen bisher nicht untersuchten Korpus mittelalterlicher Graffiti im Papstpalast in Avignon gab SARAH FRISBIE (Chapel Hill, NC). Auf der Basis von im Jahr 2021 erhobenen Daten stellte sie über 200 Beispiele aus dem 14. bis 16. Jahrhundert vor. Dabei konzentrierte sie sich auf zwei Bereiche im Kontext Papst Benedikts XII. und des Portals der Großen Kapelle. In der Zeit der Nutzung als päpstliche Residenz (1309–1377) wechselten diese Bereiche zwischen öffentlichen und privaten, religiösen und zivilen Zusammenhängen. Durch den Vergleich der Kategorien der Wappenbilder, Symbole und Inschriften konnte Frisbie deutlich machen, wie sich die Nutzung der Räume durch die Bewohner und Gäste im Laufe der Jahrhunderte verändert hat.
FRAN HOLLINRAKE (Kirkwall) verdeutlichte, wie die Graffiti in der St. Magnus Kathedrale in Kirkwall, der Hauptstadt der Orkney-Inseln, von einer großen Gruppe trainierter Freiwilliger schrittweise erforscht wird. Die 1137 gegründete Kathedrale ist die nördlichste Großbritanniens. Hollinrake ging der Frage nach, ob es nach den vielen Restaurierungen überhaupt noch Graffiti aus früheren Jahrhunderten gibt. Bei der von der Orkney Archaeology Society organisierten systematischen Untersuchung konnten die fast 70 Freiwilligen noch über 600 Graffiti erfassen, von mittelalterlichen Steinmetzzeichen bis zu Graffiti aus dem Zweiten Weltkrieg.
Bemerkenswerte Befunde zur Musikgeschichte, einem Bereich, für den Graffiti immer wieder neue Erkenntnisse beisteuern können, zeigten MICHAEL GALE (Milton Keynes) und KAREN WARDLEY (Hampshire Field Club). Das St. Cross Hospital in der Nähe von Winchester geht bis in die 1130er-Jahre zurück. Mit Hilfe von über 5.000 Fotos, die zwischen 2016 und 2021 von den Graffiti aus dem 16. Jahrhundert gemacht wurden, gelang es, Lücken in der schriftlichen Überlieferung zu schließen. Obwohl vereinzelt schriftliche Berichte über den Chorgesang in St. Cross zu Beginn des 16. Jahrhunderts bekannt sind, haben sich kaum Unterlagen aus der zweiten Hälfte des Jahrhunderts erhalten. Kirchenbänke jedoch, in die zahlreiche Namen geritzt sind, bieten eine Grundlage für die Rekonstruktion des musikalischen Angebots in St. Cross, denn zahlreiche professionelle Sänger, die entweder angestellt oder auch nur zu Gast waren, verewigten sich – oft mit genauen Daten – in den Bänken. Damit können auch die beruflichen Netzwerke der Musiker und Sänger analysiert werden.
Dass auch die Auswertung von Graffiti aus jüngster Zeit viele wertvolle Erkenntnisse liefern kann, wurde im Vortrag von EMMA BRYNING (York) deutlich, in dem es um die touristischen Markierungen von Kirby Hall ging. Kirby Hall in Northamptonshire, eines der großen elisabethanischen Häuser Englands, wurde im 19. Jahrhundert zu einer beliebten historischen Attraktion. Anbringung und Analyse der Graffiti haben Auswirkungen bis in die Denkmalpflege und das Management der Anlage. Erst seit dem 19. Jahrhundert wurde die Einritzung oder Anbringung von Graffiti zunehmend als kriminelle Handlungen verstanden. Die Aufschlüsselung nach Personen, Anbringungsorten und Zeit ermöglicht Aussagen nicht nur über die Zugänglichkeit der Orte, sondern auch über die Entwicklung des Denkmalmanagements.
Eine ganz andere Form von Zeichen, die bisher deutlich zu wenig Interesse erfahren haben, stellte MARC ROBBEN (Paal-Beringen) vor: Muster im Ziegelmauerwerk. Er verglich zahlreiche Befunde aus England und Belgien. In das seit dem 12./13. Jahrhundert verbreitete Ziegelmauerwerk lassen sich andersfarbige Steine so einpassen, dass auf der Mauer ein Muster sichtbar wird. Diese bisher allzu oft als zufällige Muster interpretierten Zeichen orientieren sich an einer Gruppe von Symbolen wie Kalvarienkreuzen, Andreaskreuzen, Rauten, Herzen, Hexagrammen und Kelchen. Solche Zeichen wurden in der Anfangsphase wohl für apotropäische Zwecke genutzt. Durch flämische Maurer gelangte diese Tradition auch in die frühe Backsteinbaukunst Englands. Im anglikanischen England und in den protestantischen Regionen wurde die apotropäische Funktion jedoch bald vergessen, während sie in den ländlichen (und katholischen) Regionen weiter fortlebte.
Die überraschend zahlreichen Graffiti in einem natürlichen Schiffshafen an der Westküste Schwedens stellten LINNEA NORDELL (Uddevalla), INGELA LUNDIN (Uddevalla) und LARS STRID (Tanumshede) vor. Entlang der schwedischen Westküste gibt es mehrere Naturhäfen, die in der Frühen Neuzeit von internationalen Händlern genutzt wurden. Diese ritzten zahlreiche Graffiti mit maritimem Kontext in die die Häfen umgebenden Felsklippen. Die Ritzungen stammen aus der Zeit zwischen 1400 und 1700 und bestehen überwiegend aus Kaufmannszeichen, Initialen, Jahreszahlen, Kreisen, Wappen und anderen Motiven, bis hin zu längeren Inschriften. Gemeinsam haben das Bohusläns Museum und das Vitlycke Museum ein Forschungsprojekt ins Leben gerufen, um diese Graffiti zu dokumentieren, zu erhalten und zu präsentieren.
Die zweite Keynote von Matthew Champion (Norfolk) musste krankheitsbedingt entfallen. Stattdessen präsentierte TONY HACK (Wiltshire) Beispiele, die während seiner langjährigen Tätigkeit in der Region Wiltshire zutage getreten waren. Besonders ging er auf St Mary the Virgin in Calstone/Wellington ein. Hack verdeutlichte den großen Aufwand, der notwendig ist, wenn sich zahlreiche Graffiti auf relativ kleinen Flächen überlagern. An Besonderheiten hob er nicht nur Darstellungen von Steckenpferden, Glocken und Eklipsen hervor, sondern auch detaillierte Darstellungen von Jerusalem. Ebenso reich an Graffiti ist St. Giles in Imber, von denen die zahlreichen Ritzungen im Aufgang des Turmes von 1408 hervorzuheben sind, die ohne künstliches Licht fast nicht wahrzunehmen sind, darunter Darstellungen von Hunden, Hornbläsern und Waffenträgern.
Abgerundet wurde die Tagung von einer Abschlussdiskussion. Die unterschiedlichen Vorträge gewährten gehaltvolle Einblicke in zentrale wie auch in weniger erforschte Randgebiete der Beschäftigung mit historischen Graffiti.
Konferenzübersicht:
Emma Bryning (York): Begrüßung
Sektion I
Moderation: Emma Bryning (York)
Keynote
Mia Trentin (The Cyprus Institute, Aglantzia): From East to West: a comprehensive digital methodology for the study of historic graffiti
Thomas Wozniak (Tübingen): Glass as a writing medium. Rare graffiti examples from England, Germany and Austria
Rachael Helen Banes (Wien): From cathedral to cave: Examining the spatial distribution of pilgrims graffiti in the Byzantine Empire (5th-15th Century CE)
Sarah Frisbie (University of North Carolina, Chapel Hill, NC): Popes, peasants, and pilgrims: A survey of the medieval graffiti of the Palais des Papes, Avignon, France
Sektion II
Moderation: Tony Hack (Wiltshire)
Fran Hollinrake (Kirkwall): Graffiti in the people’s cathedral; St Magnus Cathedral. A case study
Michael Gale (Milton Keynes), Karen Wardley (Hampshire): Graffiti, gaps, and the written record: music and worship at the Hospital of St. Cross, Winchester during the sixteenth century
Sektion III
Moderation: Brian Porter (Lincolnshire Medieval Graffiti Survey)
Emma Bryning (York): Graffiti Heritage: The tourist marks of Kirby Hall and the impact of heritage practices and management from the 19th century onwards
Marc Robben (Paal-Beringen): Continental masons attitudes and the English adaptation: Signs in brick masonry in England
Linnea Nordell (Bohusläns Museum, Uddevalla), Ingela Lundin (Bohusläns Museum, Uddevalla), Lars Strid (Vitlycke Museum, Tanumshede): Journeys carved in stone – deciphering stories of maritime travellers through historic graffiti on the west coast of Sweden
Tony Hack (Wiltshire Medieval Graffiti Survey, Wiltshire): A tale of two Wiltshire villages
Abschlussdiskussion
Anmerkung:
1https://www.youtube.com/@MakingYourMarkConference/videos.