In jüngster Zeit sind Gebären, Geburtshilfe und Mutterschaft wieder vermehrt in den öffentlichen Fokus gerückt. Kulturen des Gebärens, Vorstellungen von einer glücklichen oder guten Geburt und von Mutterschaft waren und sind bis heute einem steten Wandel unterzogen. Auf der Tagung nahmen Expertinnen aus den Bereichen Geschichte, Medizingeschichte, Ethnologie, Politik-, Sozial- und Hebammenwissenschaft, Soziale Arbeit und Gesundheit diese Entwicklungen im Zeitraum von mehr als fünf Jahrhunderten in einer interdisziplinären Zusammenschau in den Blick. Eva Labouvie und Tina Jung diskutierten gemeinsam mit den Teilnehmer:innen, wie sich Konzepte, Praktiken und Rechte um Gebären, Geburtshilfe und Mutterschaft entwickelt haben und sich bis heute in Brüchen und Kontinuitäten präsentieren. Dabei interessierten die immensen Verschiebungen vom 18. zum 19. Jahrhundert ebenso wie jene ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die eine moderne europäische Kultur des Gebärens, der Geburtshilfe und der Mutterschaft hervorbrachten. Im Mittelpunkt stand zum anderen eine der Forschung bislang fehlende Perspektive auf langfristige Entwicklungen, die sowohl die historische Genese und ihre Folgen als auch die Implikationen gegenwärtiger Vorstellungen, Konzepte und Entwicklungen in den Blick nimmt.
Nach der Begrüßung durch die Veranstalterinnen sprachen der Dekan der Humanwissenschaftlichen Fakultät, Frank Bünning, die Vorsitzende des Landeshebammenverbands Sachsen-Anhalt, Undine Bielau, und die Schirmherrin der Tagung, Petra Grimm-Benne, Ministerin für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Gleichstellung des Landes Sachsen-Anhalt, ihre Grußworte.
LISA MALICH (Lübeck) eröffnete die erste Sektion mit ihrem wissensgeschichtlichen Vortrag über den Nestbauinstinkt. In der aktuellen Ratgeberliteratur beschreibe dieses Phänomen einen Trieb von Schwangeren, die passende Umwelt für das ungeborene Kind zu gestalten, zu putzen, Ausstattung einzukaufen und die Wohnung einzurichten. Malich konnte aufzeigen, dass dieses Phänomen im 19. Jahrhundert zuerst in verhaltensbiologischen Beschreibungen von Fischen, Vögeln und Insekten festgehalten wurde. Während dies als männliches Verhaltensmuster galt und das Nest ein Analogon zum Wohnhaus bildete, transformierte sich der Instinkt in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu einer primär weiblichen Eigenschaft, bei der das Nest für den Innenraum des Zuhauses stand. Damit setzte auch eine Somatisierung des Nestbauinstinkts ein, für den nun Schwangerschaftshormone als ursächlich bezeichnet wurden. Auch die Bezeichnung „Einnistung“ der befruchteten Eizelle in die Gebärmutterschleimhaut habe sich in diesem Zeitraum durchgesetzt. Das „Nest“ wurde somit gleichzeitig zu einem körperlichen und psychologischen Schwangerschaftsphänomen. Das Frauenbild der 1950er-Jahre beförderte diese Vorstellung einer umsorgenden, nestbauenden Mütterlichkeit, während in heutigen populären Diskursen nicht mehr überwiegend das Putzen des Heims, sondern auch der Kauf von Babyausstattung zum Nestbauinstinkt gehöre – womit Malich aufzeigte, wie sehr dieses Konzept in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die kapitalistische Konsumkultur integriert wurde.
LOTTE ROSE (Frankfurt am Main) stellte aus dem Fachbereich Soziale Arbeit eine ethnografische Studie zu Geburtsvorbereitungskursen und Bildungsangeboten rund um die Geburt vor. Sie zeichnete nach, wie werdende Eltern dabei von institutionellen Akteur:innen für die Geburt „qualifiziert“ werden. Dabei kritisierte sie, dass werdende Eltern implizit auch in die Verantwortung genommen würden, auf dem Markt der Geburtshilfe die richtigen – gesundheitssichernden und geburtsoptimierenden – Entscheidungen zu treffen und Bildungsziele zu erfüllen. Im Fokus stünden dabei Qualifikationspraktiken wie die Vermeidung von Gesundheitsgefahren, die Vermittlung von Diagnosekompetenzen, Körperschulung und -bearbeitung für die Geburtsarbeit und die Vermittlung von Regiekompetenzen zur Geburt. In der Väterbildung zur Geburt zeigten sich dabei geschlechtsspezifische Rollenverteilungen. In der regen Diskussion dieser kritischen Bestandsaufnahme erörterten Teilnehmer:innen zudem die Frage nach der konzeptionellen Bedeutung von care in Schwangerschaftsbegleitung und Geburtshilfe.
In der zweiten Sektion versammelten sich Beiträge, die sowohl historische Entwicklungen als auch aktuelle drängende Fragen aus der Geburtshilfe und Geburtsmedizin aufgriffen. EVA LABOUVIE (Magdeburg) veranschaulichte anhand zahlreicher historischer Quellen den „Erlebnisraum Geburt“ in seinen kulturhistorischen Entwicklungen vom 16. bis 19. Jahrhundert. Dabei wurde deutlich, dass Geburt und Geburtshilfe in der Vormoderne im Gegensatz zu heute keine privaten, sondern öffentliche Angelegenheiten waren, die im Kreise verwandter und befreundeter verheirateter Frauen stattfanden und von einer besonderen Ethik getragen wurden. Mit der Reglementierung des Hebammenwesens ab 1800 fand eine Medikalisierung der Geburtshilfe statt, die nicht ohne Widerstände, insbesondere in den Landgemeinden, ablief. Seit den 1850er-Jahren begann der neue Typus der approbierten Berufshebamme jenen der traditionellen, von der Vorgängerin unterrichteten Geburtshelferin allmählich zu verdrängen, ein Prozess, der bis weit ins 20. Jahrhundert reichte. Labouvie machte deutlich, dass die heutige Art der Geburtshilfe eine sehr junge ist, die erst in den 1930er-Jahren die traditionelle, europaweit von Frauen getragene Gebärkultur abgelöst hat. Auf großes Interesse stießen in der anschließenden Diskussion überlieferte Zahlen zur Mütter- und Kindersterblichkeit bei Geburten, die aufgrund ihrer behaupteten Höhe von Obrigkeit und Ärzteschaft als Argumente für die Medikalisierung der Geburtshilfe angeführt wurden, deren Faktizität auf Grundlage ermittelter Quellen jedoch in Zweifel gezogen werden muss.
JULIA BÖCKER (Lüneburg) referierte über Schwangerschaftsverluste, „Stille Geburten“ und „Sternenelternschaft“ in der Gegenwart. Sie zeigte aktuelle rechtliche, medizinische und lebensweltliche Aushandlungen über Fehl- und Totgeburt sowie Schwangerschaftsverlust auf. Diese zeigten sich aktuell vor allem über Social Media, in denen sich betroffene Eltern zusammenschließen, und in der erst seit 2013 bestehenden Möglichkeit, Fehlgeborene zu bestatten. Böcker erklärte anschließend anhand ihrer kultursoziologischen Studie zum Kindsverlust und an Ausschnitten aus narrativen Interviews, unter welchen Bedingungen es gesellschaftlich als legitim gilt, vom Tod eines Kindes zu sprechen. Dabei wurde deutlich, dass nicht nur das individuelle Erleben der Schwangeren/Eltern – das von der gleichen medizinischen Faktenlage ausgehend höchst unterschiedlich ausfallen kann – dafür essentiell ist, sondern darüber hinaus das Vorhandensein körperlicher Materie, die medizinisch-rationale Feststellung sowie soziale Praktiken, die Elternschaft konstituieren, notwendig seien, um von einem „Kindsverlust“ zu sprechen.
TINA JUNG (Magdeburg/Gießen) ging auf die Genese des Gewaltbegriffs ein und beleuchtete auch internationale Perspektiven auf Gebären und Geburtshilfe. Dabei verwies sie auf die Einbettung von Gewalt in der Geburtshilfe in gesellschaftliche Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse, die sich in kolonialen, rassistischen und klassistischen sowie (hetero-)sexistischen Kontinuitätslinien zeigten. Mit Rückmeldungen von Praktiker:innen aus dem Plenum wurde deutlich, dass mit Bezug auf die Gegenwart einerseits eine große Sensibilität für das Thema vorhanden ist, andererseits Unsicherheit darüber besteht, wie Gewalt (vor allem im Bereich von Grenzverletzungen oder Unterlassung) in der geburtshilflichen Praxis zu erkennen und demnach auch wirksam zu verhindern sei. Wiederholt wurde die aktuelle Situation einer mangelbesetzten und -ausgestatteten Geburtsmedizin in den Kliniken thematisiert, die Formen von Gewalt begünstige. Deutlich wurde ebenso, dass disziplinübergreifend ein großer Gesprächsbedarf besteht.
SABINE TOPPE (Berlin) referierte mit historischem Bezug über Mutterschaft und Elternschaft im historischen Wandel vor allem seit dem 18. Jahrhundert. Indem sie Entwicklungen in der Vormoderne fokussierte, verdeutlichte sie die Veränderbarkeit von geschlechtsspezifischen Zuweisungen, die Elternschaft bedingten. So wurde anhand des Ammenwesens deutlich, wie sich Normvorstellungen von „guter Mutterschaft“ wandelten und wie männliche Wissenschaftler anhand des Wesens von Mutterschaft gesellschaftliche Krisen erklärten oder vermeintlich zu vermeiden suchten. In der Diskussion wurde das Feld noch erweitert, indem nach der Lebensrealität von Eltern der Unterschichten – unabhängig von den normierenden Diskursen über Elternschaft im Adel oder Bürgertum – gefragt wurde.
Sektion 3 befasste sich mit den Akteur:innen, die Geburt begleiten und medizinisch betreuen. Zwei Vorträge warfen erneut einen Blick zurück in die Geschichte und zeigten den Wandel von der Geburtshilfe zur Geburtsmedizin auf. MARITA METZ-BECKER (Marburg) widmete sich dem Zeitraum der Aufklärung und veranschaulichte anhand zahlreicher historischer Quellen, wie das Handwerk von medizinischen Berufsgruppen wie Chirurgen, Badern, Apothekern, Barbieren, Hebammen und fahrenden Heilern und Heilerinnen verwissenschaftlicht und an die Universitäten gebracht wurde. Dies habe zur „kopernikanischen Wende“ in der Geburtshilfe geführt, die bis dahin ausschließlich von Hebammen ausgeübt worden sei. Metz-Becker zeigte auf, wie neue Hebammenordnungen und -lehrbücher das traditionelle Wissen der Hebammen nun reglementierten und dass die Hebammenausbildung fortan von der Ärzteschaft übernommen wurde, um wissenschaftlichen Standards zu entsprechen. Dies lief nicht ohne Konflikte und Widerstände seitens der Hebammen und Gebärenden ab, wie Metz-Becker unter anderem anhand von Quellen zu den Vorläufern von Geburtskliniken (Accouchieranstalten und Gebärhäusern) zeigte, in denen sich vor allem unverheiratete Frauen medizinischen Untersuchungen unterzogen, um kostenfrei gebären zu können oder den Strafen wegen nichtehelicher „Unzucht“ zu entgehen.
Zeitlich schloss SOPHIE FÄS (Basel/Magdeburg) hieran an, indem sie den Zeitraum zwischen 1770 und 1960 fokussierte. Anhand des Schweizer Fricktals, das im 18. Jahrhundert zur Habsburger Monarchie gehörte, zeigte sie die damaligen Hebammenreformen und ihre Auswirkungen auf die Region auf. Den angeordneten Institutionalisierungen entzogen sich einzelne Gemeinden und Hebammen; der Einfluss der Wiener Regierung auf das ländliche Hebammenwesen blieb somit begrenzt. Anschließend stellte Fäs ihr Promotionsprojekt „Von der Heim- zur Spitalhebamme – Baselstädter, Baselländler und Urner Hebammen“ vor. Ihr Untersuchungszeitraum (1870-1960) reicht von der ersten Zunahme von Klinikgeburten zu deren beinahe vollständiger Etablierung. Von Interesse ist dabei, über die Untersuchung des sich verändernden Beziehungsgefüges von Gebärenden, Hebammen und Ärzten im regionalen Vergleich Gründe für diesen einschneidenden Transformationsprozess der europäischen Gebärkultur aufzuzeigen.
Im zweiten Teil der Sektion ging es um die Perspektive der Hebammenwissenschaften. ANNEKATRIN SKEIDE (Jena) stellte eine Pilotstudie über die Physiologie als Hebammenkunst vor. In ihrer „praxeographischen Untersuchung hebammenspezifischer Wissensformen“ zielte sie darauf, die Trennung von Physiologie – dem natürlichen Geburtsvorgang ohne medizinische Intervention – und Pathologie zu hinterfragen und die Grenzziehungen in der geburtshilflichen Praxis zu untersuchen. Diese, so Skeide, würden letztlich die hebammenspezifische und die geburtsmedizinische Versorgung voneinander unterscheiden und hätten unmittelbare Auswirkungen auf die Zuständigkeiten in der Geburtsbegleitung. Anhand ihrer Analyse von zehn praxeologischen Interviews mit Hebammen, die in unterschiedlichen geburtshilflichen Versorgungsumgebungen in Deutschland tätig sind, wurde deutlich, dass die Intuition und das Erfahrungswissen von Hebammen mit vorgegebenen Normdaten, die sie erheben (z.B. Herztöne des Kindes) nicht immer in eindeutiger Beziehung stehen und diese außerdem mehrdeutig oder unzuverlässig sein können. Die „Physiologie-in-der-Praxis“ beschrieb Skeide demnach als ein kreatives Adaptieren medizinischer Normen. Diskursiv würden diese komplexen Tätigkeiten des Herstellens der Physiologie, des Normalisierens inklusive des Erzeugens neuer Normen, in der Regel als Nichtintervention gefasst. Voraussetzung sei eine Hebammenbegleitung der Schwangeren über einen längeren Zeitraum. Skeide schlug vor, Physiologie statt als matter of fact als matter of caring zu behandeln und zu untersuchen und damit hebammenspezifischen Versorgungsrepertoires eine Sprache zu verleihen.
Zum Abschluss gab NICOLA H. BAUER (Köln) einen umfassenden Überblick über die Lage der geburtshilflichen und -medizinischen Begleitung von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett in der Gegenwart. Dabei wurde deutlich, dass es an Daten mangelt, die nachweisen könnten, wie viele Hebammen und Geburtshelfer:innen nach der Ausbildung im Beruf verbleiben und in welchen Konstellationen (Beleghebammen, freie Hebammen etc.). Grundsätzlich sei die Versorgung in Deutschland eher mangelhaft; zahlreiche Krankenhäuser hätten in den vergangenen Jahren ihre geburtsmedizinischen Abteilungen geschlossen, was einem anhaltend hohen Interesse von Bewerber:innen für den Beruf der Hebamme entgegenstehe. Bauer ging auch auf den Wandel der Hebammenausbildung ein, die seit 2023 nur noch als Studium an einer Fachhochschule absolviert werden kann.
Zum Ausklang der Tagung gaben Eva Brinkschulte (Magdeburg) aus historischer und medizinhistorischer Perspektive und Michèle Kretschel-Kratz (Berlin) aus hebammenwissenschaftlicher und anthropologischer Perspektive kurze Diskussionsimpulse, die zur weiteren intensiven Auseinandersetzung mit Gebären, Geburtshilfe und Mutterschaft anregten.
Die Tagung, die mit über 330 angemeldeten Teilnehmer:innen auf ein sehr großes öffentliches Interesse am Thema verweist und auch von Wortbeiträgen und Fragen der Teilnehmenden aus dem digitalen Raum profitierte, ermöglichte Expert:innen aus unterschiedlichen Fachdisziplinen, Praktiker:innen und Theoretiker:innen, ihre Perspektiven zusammenzubinden und zu diskutieren. Von vielen Seiten wurde der Wunsch geäußert, diesen Dialog fortzusetzen.
Konferenzübersicht:
Sektion 1: Fertilität, Natalität, Schwangerschaft
Lisa Malich (Lübeck): Frauen, Vögel, Hausarbeit. Zur Wissensgeschichte des Nestbauinstinkts in der Schwangerschaft
Lotte Rose (Frankfurt am Main): Gebären als Bildungsprojekt. Einblicke in eine Ethnografie zu Geburtsvorbereitungskursen
Sektion 2: Geburt, Gebären, Mutterschaft
Eva Labouvie (Magdeburg): Erlebnisraum Geburt. Kulturhistorische Überlegungen zum Gebären vom 16. bis 19. Jahrhundert
Julia Böcker (Lüneburg): Schwangerschaftsverluste, Stille Geburten und „Sternenelternschaft“ in der Gegenwart
Tina Jung (Magdeburg/Gießen): Eine kurze Geschichte der Gewalt: Perspektiven auf Gebären und Geburtshilfe
Sabine Toppe (Berlin): Mutterschaft/Elternschaft im Wandel: Entwicklungen in der Vormoderne
Theresa Anna Richarz (Hildesheim): Entwicklungen in der Gegenwart: Mutterschaft(en) im Recht
Sektion 3: Beistand in Kindsnöten – Hebammenkunst – Geburtshilfe – Geburtsmedizin
Marita Metz-Becker (Marburg): Zeit des Umbruchs: Von der Geburtshilfe zur Geburtsmedizin im Kontext der Aufklärung
Sophie Fäs (Basel/Magdeburg): „Von Hebamen, Chyrurgis, Medicis und dem Frauenvolke“ – Ein sich seit dem 18. Jahrhundert veränderndes Beziehungsgeflecht um die Gebärenden im Fricktal/Schweiz
Annekatrin Skeide (Jena): Die Physiologie als Hebammenkunst. Eine praxeographische Untersuchung hebammenspezifischer Wissensformen
Nicola H. Bauer (Köln): Die reproduktive Lebensphase von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett in der Gegenwart: Wer steht im Mittelpunkt?
Abschlussdiskussion mit Impulsen von Eva Brinkschulte (Magdeburg) und Michèle Kretschel-Kratz (Berlin)