„Geschichte ist oft bilderlos.“ – Damit stellt sich die Frage, wie man in der Präsentation und Vermittlung von Geschichte mit bildlichen Überlieferungslücken umgeht? Es stellt sich aber auch die Frage nach dem Umgang mit überlieferten Bildern, die aus rassistischen, diskriminierenden oder ethischen Gründen nicht oder nur unter bestimmten Voraussetzungen gezeigt werden sollten. Wie visualisiert man also Ereignisse, die nicht oder nur bedingt bildlich darstellbar sind? Diesen und weiteren Fragen ging ein dezidiert interdisziplinär ausgerichteter Workshop am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung unter dem Titel „Was man nicht sieht! Perspektivwechsel durch Comics“, geleitet von CHRISTINE BARTLITZ (Potsdam) und IRMGARD ZÜNDORF (Potsdam) nach. Über zwei Tage verteilt wurde der Einsatz von Comics und Graphic Novels in Publikationen, Ausstellungen, Filmen, Games und VR-Anwendungen diskutiert. Dabei ging es vor allem um die Nutzung von Comics in der Geschichts- und Erinnerungskultur, um marginalisierte Akteur:innen und Ereignisse sichtbar zu machen sowie das Thema Gewalt zu behandeln.
Die Verwendung von Comics zur Geschichtsvermittlung habe sich seit den späten 1990er-Jahren von einem lockenden Angebot für Jugendliche zu einer anerkannten Ausdrucksform entwickelt, so CHRISTINE GUNDERMANN (Köln) in ihrer einleitenden Keynote. Mit den „Underground Comix“ der 1960er- und 1970er-Jahre sowie dem Konzept der „Graphic Novel“ habe die historische Forschung begonnen, Comics als ernsthafte Quellen zu betrachten. Art Spiegelmans „Maus“ habe eine Debatte darüber ausgelöst, was in Comics dargestellt werden darf. Historisierende Comics, so Gundermann, bewegten sich zwischen Kunst und Kitsch, Historiographie und Fiktion und seien eine wertvolle Quelle der Geschichtskultur. Sie dienten nicht nur der Präsentation von Geschichte, sondern auch der Aufarbeitung von Erinnerungen und politisch-historischem Aktivismus. Comics könnten Leerstellen der Überlieferung abbilden und Perspektiven derjenigen Akteur:innen aufzeigen, die keine bildlichen Quellen hinterlassen hätten. Doch sei es wichtig, die Gefahr der „emotionalen Authentizitätsfiktion“ zu erkennen. Die Arbeit mit Comics erfordere daher einen hohen Grad an Medien- und Methodenkompetenz, um Stereotype zu erkennen und zu dekodieren. Im Vergleich zu anderen Medien wie Dokumentarfilmen böten Comics mehr Reflexionsfläche. Außerdem könnten Historiker:innen in Comics selbst Teil der Geschichte werden und so den Konstruktionscharakter von Geschichtsschreibung und ihre subjektive Gebundenheit aufzeigen.
JÖRN AHRENS (Gießen) argumentierte in seinem Vortrag im ersten Panel, dass Geschichte niemals bilderlos sei und selbst ohne Bilddokumente nur dann zu Geschichte werden könne, wenn sie erfolgreich in ikonografische Performanz übersetzt werde. Comics würden genau das tun, indem sie Erinnerungen in Bildern ausdrücken, und dadurch außerdem Geschichte auf eine ästhetische und zugängliche Weise präsentieren. Ihr Defizit, keine mimetische Kraft zu besitzen, also die Realität naturgetreu abzubilden, werde so zu ihrer Stärke, da die grafische Abbildungsform, die auf eine uneindeutige Darstellung bzw. Multiperspektivität abziele, zur Reflexion anrege. ULRIKE KOPPERMANN (Berlin) führte anschließend Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Fotoalben und Comics auf. Beide bestünden aus einer Abfolge von fotografischen und gezeichneten Bildern, die mit Text auf aufeinanderfolgenden Seiten platziert seien. Angesichts dieser Prallelen wurde in dem Beitrag die Frage aufgeworfen, wie die einzigartigen stilistischen Elemente des Comics dazu beitragen könnten, eine kritische Analyse von Fotoalben zu bereichern. Das kreative Potenzial von multimodalen Erzählformen in Comics wurde als Möglichkeit dargelegt, um aus der begrenzten Perspektive eines Fotoalbums auszubrechen. So hätten Comics die Möglichkeit – im Gegensatz zu Fotografien – beispielsweise Barrieren wie Wände oder Oberflächen aufzulösen, um den Betrachter:innen zu zeigen, was sich dahinter verbergen könnte. Als nächstes erläuterte PATRICIA VESTER (Potsdam) ihren Beitrag zur Ausstellung „Schlösser. Preußen. Kolonial. Biografien und Sammlungen im Fokus“ der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten, mit dem sie einen postkolonialen Perspektivwechsel in der Bildungsarbeit und Kulturvermittlung zu initiieren suchte. In dem Zusammenhang zeigte sie Ausschnitte aus ihrer Graphic Novel „Gelebt“, in der sie sich mit dem Leben der Bilillee Ajiamé (Machbuba) auseinandersetzt. Die Forderung nach mehr Verantwortung aus weißer Perspektive sei ein wichtiger Aspekt bei der Dekolonialisierung und erfordere eine kritische Auseinandersetzung mit Rassismus und Geschichte. Sie kritisierte zudem den Umgang mit Bildern in unserer Gesellschaft, sei es als Foto oder als Comic. Es sei wichtig, die gesellschaftlichen Auswirkungen von Bildern zu erkennen und einen sensibleren Umgang, auch in historischen Fachkreisen zu stärken. So sei es beispielsweise entscheidend, wie wir mit Farbgebung umgingen und dass wir sprachsensibel agieren, insbesondere beim Umgang mit kolonialen Themen. In der folgenden Diskussion, moderiert von SANDRA STARKE (Potsdam), wurde der letzte Punkt von Patricia Vester aufgegriffen und nach Leitlinien für die Dekolonisierung, z.B. von Literatur, gefragt. In der Diskussion wurden die Fragen aufgeworfen, ob Comics als ethisches Medium dienen sollten und wie eine Änderung der Quellen interpretiert werden könnte. Darüber hinaus hatte die Debatte die Konkurrenz zwischen Fotografie und Zeichnung in Bezug auf ihre Wahrnehmung und Rezeption zum Thema.
Im folgenden Worldcafé konnten die Teilnehmer:innen in kleineren Gruppen verschiedene Zeichner:innen und ihre Arbeit kennenlernen: EVGENIA GOSTRER (Berlin), die den dokumentarischen Animationsfilm „Kirschknochen“ kreiert hat; LISA HÖLSCHER (Berlin), die das Projekt „Motion Comics – Bewegte Geschichte(n). Motion Comics in der Bildungsarbeit“ koordinierte, das in Zusammenarbeit zwischen Zeitzeug:innen, Zeichner:innen und Studierenden umgesetzt worden ist; SONJA HUGI (Berlin), die unter anderem an einer Graphic Novel über die Geschichte der deutsch-chilenischen Sekte „Colonia Dignidad“ arbeitet; sowie BETTINA KÖHLER (Berlin), die für die Ausstellung „Kiezgeschichten. 100 Jahre Friedrichshain und Kreuzberg“ im FHXB Museum einen Geschichtscomic erstellt hat. Der Abend schloss mit einer Vorführung des Kurzfilms von Evgenia Gostrer, einem der Filme des Motion Comic-Projekts sowie mit dem Animationsfilm „Herzsprung“ der zur Ausstellung „BRUCHSTÜCKE ´45. Von NS-Gewalt, Befreiungen und Umbrüchen in Brandenburg“ von Mitarbeiter:innen der Gedenkstätte Sachsenhausen produziert worden ist.
Am nächsten Tag beschrieb LUKKAS BUSCHE (Gardelegen) im ersten Panel die kontroversen Diskussionen über die Graphic Novel „Das Massaker gezeichnet“ im Rahmen der Ausstellung in der Gedenkstätte Gardelegen. Das Werk thematisiert das Massaker an 1016 KZ-Häftlingen am 13. und 14. April 1945. Aussagen von Zeitzeug:innen sowie vorhandene Fotografien waren Vorlage für die Zeichnungen der Graphic Novel: Täter wurden in Schwarz, Opfer in Weiß und zivile Personen in Schwarz-Weiß dargestellt. Durch Schattierungen und die Verwendung der Farbe Rot für Schlüsselmomente sollte die Narration verdeutlicht werden. Die Bewertung fiel vielschichtig aus: Das Werk biete einen niedrigschwelligen Zugang zum Thema, sei aber auch kritisiert worden, da die Inszenierung der Gewalt teils als zu explizit und detailliert wahrgenommen werde, was die Rezipient:innen emotional überfordere. Auch erfordere die Interpretation der Bilder eine intensive Moderation oder Anleitung für die Rezeption. Als nächste Referentin thematisierte MAREN JUNG-DIESTELMEIER (Berlin) die Bedeutung des Kontexts für die Rezeption von Bildern in Ausstellungen. Die Inszenierung der gezeichneten Bilder sollte reflektiert, und auch die Fotografien selbst sollten als inszeniert wahrgenommen werden. Die „Gemachtheit“ der Bilder und auch der Ausstellungen solle deutlich hervortreten, um die Komplexität des Geschehens zu verdeutlichen. Die Medialisierung spiele dabei eine wichtige Rolle, da Filme und Bilder im Ausstellungskontext anders wahrgenommen würden, als wenn man sie isoliert betrachte. Museen schaffen Ausstellungswelten, die Neutralität suggerieren würden, deshalb sei es wichtig, einen reflektierten Umgang mit Bildlichkeit zu etablieren, um die erwähnte „Gemachtheit“ der Bilder zu verdeutlichen. Im Kontext der von ISABEL ENZENBACH (Berlin/Potsdam) moderierten Diskussion wurde unter anderem gefordert, dass in Ausstellungen nicht nur den Opfererzählungen Raum gegeben werden sollte, sondern auch die aktive Rolle der beteiligten Täter aufgezeigt werden müsse. Diese Perspektive lenkte den Blick auf die Vielschichtigkeit der Erinnerungsarbeit und die Bedeutung von Bildlosigkeit oder Bildverweigerung in diesem Kontext. Die Diskussion endete mit der Frage, ob Texte nicht ebenfalls eine bildhafte Qualität besitzen könnten.
Im dritten Panel stellte THOMAS SCHUHBAUER (Hamburg) die Arbeit in seiner Produktionsfirma an zwei Beispielen vor. Er setzt in den historischen Dokumentationen auf den Einsatz von Graphic Novels, um Geschichten auf unkonventionelle Weise zu präsentieren. In der ARD-Produktion „Der Hitler-Fake: Geschichte einer Jahrhundertfälschung“ nutzte er Graphic Novel-Elemente, um die Geschichte der gefälschten Hitler-Tagebücher darzustellen. Ebenso kombinierte er in der ZDFinfo-Sendung „Rasse. Wahn. Verbrechen. – Die Geschichte des Rassismus“ Reenactment- mit Graphic Novel-Szenen, um vergangene Ereignisse, von denen es keine Bilder gibt, lebendig werden zu lassen. So könne die Anziehungskraft von Dokumentationen gesteigert werden. In der von JAKOB SASS (Potsdam) moderierten Diskussion blieb offen, welche Formate sich für welche Geschichte besonders gut eignen und wie diese ausgewählt werden. MALTE GRÜNKORN (Flensburg) beschäftigte sich anschließend mit der Rolle gezeichneter Bilder in digitalen Spielen im Vergleich zum Film. Während beim Film die Kameraführung vorbestimmt sei, ermöglichten es digitale Spiele den Spieler:innen, aktiv mit der Bildlichkeit zu interagieren. Diese Einladung zu einer empathischen Perspektive durch Comics erläuterte er durch sein Fallbeispiel „Spuren auf Papier“. Der abschließende Vortrag von BETTINA LOPPE (Potsdam) stellte die Arbeit des SPUR.lab als ein Forschungslabor vor, das im Jahr 2020 mit der Frage „Wie könnte NS-Geschichte im digitalen und virtuellen Raum erzählt und vermittelt werden?“ gestartet war. Der Schwerpunkt lag darauf, die Darstellung der NS-Geschichte im virtuellen Raum abzubilden, ohne die kritische Distanz zu verlieren oder ethische und ästhetische Grenzen zu überschreiten. Anhand von praktischen Beispielen aus der Arbeit des Forschungslabs zeigte sie auf, wie sich die Darstellung dem „Undarstellbaren“ angenähert hat, wo möglicherweise die Grenzen des Darstellbaren liegen und welche unterschiedlichen Sichtweisen sich dazu finden.
Der Workshop endeten mit dem Fazit, dass Comicdarstellungen in der Geschichtsvermittlung die Möglichkeit bieten, schwierige Themen anders zu präsentieren und dadurch auch wieder neu für diese zu sensibilisieren. Es zeigte sich insgesamt, dass die Einsatzmöglichkeiten von Comics sehr vielseitig sind: ihre Nutzung im Buch, Film oder Ausstellung in Form von zwei- oder dreidimensionalen Bildern: Alles scheint möglich. Das Medium verdeutlicht zwar sehr stark, dass es ein Konstrukt ist und kann daher zur Reflexion anregen, doch muss trotzdem auch immer der Entstehungsprozess der präsentierten Bilder transparent gemacht werden. Diesen Prozess konnten die Teilnehmer:innen in den Vorträgen als auch im World Café mit den Zeichner:innen diskutieren. Gerade fotografische Leerstellen können um visualisierte (gezeichnete) Aussagen von Zeitzeug:innen sowie Informationen aus anderen Quellen ergänzt werden. Ein weiteres Potenzial liegt darin, die Perspektive einer Fotografie bzw. eines Films aufzubrechen und multiperspektivisch auch durch die „Gemachtheit“ des Comics neu zu interpretieren. Der Workshop hat aber auch gezeigt, dass viele der Möglichkeiten weiterer wissenschaftlicher Untersuchung bedürfen bzw. weitere praktische Evaluationsprozesse für eine etabliertere Nutzung von Comics im pädagogischen Kontext notwendig sind.
Konferenzübersicht:
Christine Bartlitz (Potsdam) / Irmgard Zündorf (Potsdam): Einführung
Christine Gundermann (Köln): Keynote. Über den Drang des Verbindlichens. Einführende Gedanken zur Verarbeitung von Erinnerung und Geschichte im Comic
Panel 1 „gedruckt“
Moderation: Sandra Starke (Potsdam)
Jörn Ahrens (Gießen): Die Gewalt der Geschichte und die Gewalt der anderen. Darstellungen im Comic
Ulrike Koppermann (Berlin): Was uns die Kamera nicht zeigt. Auswege aus einer restriktiven Perspektive
Patricia Vester (Potsdam): Decolonize-Ansätze in Comics & Graphic Novels – Beispiele zum Einstieg in ein breites Thema
World Café mit Zeichner:innen:
Evgenia Gostrer (Berlin), Lisa Hölscher (Berlin), Sonja Hugi (Berlin), Bettina Köhler (Berlin)
Kurzpräsentation „Comic-Filme“
Panel 2 „ausgestellt“
Moderation: Isabel Enzenbach (Berlin/Potsdam)
Lukkas Busche (Gardelegen): Das Massaker gezeichnet – Chance oder Tabubruch?
Maren Jung-Diestelmeier (Berlin): Doing Images – Doing Displays. Bilder in Ausstellungen im Themenbereich Kolonialismus und Migration
Panel 3 „gefilmt und gespielt“
Moderation: Jakob Saß (Potsdam)
Thomas Schuhbauer (Hamburg): Gegen den Strich – Graphic Novel in historischen Dokumentationen
Malte Grünkorn (Flensburg): Games, Comics, Nazis. Zur Funktion von gezeichneten Bildern in digitalen Spielen
Bettina Loppe (Potsdam): SPUR.lab – Co-Kreation an den Grenzen des Darstellbaren