Die interdisziplinäre Tagung, die vom 4. bis 6. Juli 2024 in Sulzbach-Rosenberg stattfand, beschäftigte sich mit dem Einfluss des vielseitigen Werks des Universalgelehrten und Beamten am Sulzbacher Pfalzgrafenhof, Christian Knorr von Rosenroth (1636–1689), auf pietistische Bewegungen. Sie wurde von der Christian-Knorr-von-Rosenroth-Gesellschaft in Kooperation mit dem Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung (IZP) der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg veranstaltet und durch die Fritz Thyssen Stiftung gefördert.
Die zweitägige Veranstaltung bot Raum für einen multiperspektivischen Austausch von Forschenden aus den Bereichen Theologie, Judaistik, Germanistik, Philologie, Geschichte, Religionswissenschaft, Pharmaziegeschichte und Musikwissenschaft. Im Zentrum der Tagung stand die Frage nach der Wirkung und Rezeption der Schriften Knorr von Rosenroths, insbesondere seiner einflussreichen christlich-kabbalistischen Arbeiten, in später als radikal-pietistisch bezeichneten Kreisen – wie den englischen Cambridge Platonists – sowie in Strömungen wie dem Halleschen Pietismus. Einen weiteren Schwerpunkt bildete die christliche Liederdichtung Knorr von Rosenroths mit ihren kabbalistischen, naturphilosophischen sowie alchemischen Motiven.
Bereits der Konzertabend in der Alten Synagoge von Sulzbach-Rosenberg, mit dem die Tagung eröffnet wurde und bei dem Anna Moritz und Martin Steuber ausgewählte Stücke aus Christian Knorr von Rosenroths „Neuem Helicon mit seinen Neun Musen“ (1684) präsentierten, wurde die außerordentliche Interdisziplinarität der Veranstaltung spürbar. Ein Höhepunkt des Abends war die Darbietung des bis heute in den evangelischen Gesangbüchern vorhandenen „Morgen-Glanz der Ewigkeit“ in drei unterschiedlichen melodischen Fassungen sowie des Figurengedichts „Geistliche Beschneidung des Hertzens“. Auf besondere musikalische und textliche Eigenheiten der Lieder verwies der Musikwissenschaftler WOLFGANG HIRSCHMANN (Halle) in seinen kritischen Kommentaren, die den Konzertabend zu einem informativen aber insbesondere musikalischen Hochgenuss werden ließen.
Das Konzert wurde durch die Präsidentin der Knorr von Rosenroth-Gesellschaft, die Literaturwissenschaftlerin ROSMARIE ZELLER (Basel) und den Geschäftsführenden Direktor des Interdisziplinären Zentrums für Pietismusforschung (IZP), den Kirchenhistoriker FRIEDEMANN STENGEL (Halle), eröffnet. Stengel identifizierte die Bezeichnung Pietismus in seiner Einführung als zu historisierende Begrifflichkeit, die im 18. Jahrhundert ausgesprochen ambivalent und widersprüchlich und oft pejorativ genutzt wurde und erst im 19. Jahrhundert als historische Kategorie Verwendung fand. Zu keiner Zeit, so macht er deutlich, sei eine solche Setzung ohne anti-pietistische Vorbehalte geschehen, später aber vor allem mit dem Anspruch, das Anrüchige aus „dem Pietismus“ fernzuhalten. Ähnliches gelte auch für die Bezeichnung „Esoterik“, die nicht selten für Hermetik, Theosophie und Kabbala angewendet werde, aber eigentlich selbst zu historisieren sei. Auch die Knorr-Tagung in Sulzbach solle dazu beitragen, dem damit angesprochenen Forschungsdesiderat beizukommen, indem deutlich wird, mit welcher Breitenwirkung die Sulzbacher Personen, Ereignisse und Publikationen die überregionalen „Kirchen-Gruppen-Konflikte“ um 1700 beeinflussten.
Am ersten Tagungstag führte ROSMARIE ZELLER (Basel) in das Thema der Tagung ein. Ihr Vortrag gab einen Überblick über die vielfältigen Veröffentlichungen, an denen Christian Knorr von Rosenroth als Autor, Übersetzer und Kommentator beteiligt war. Sie verdeutlichte die seinerzeit außergewöhnliche Situation in Sulzbach, wo der an chiliastischen Ideen interessierte Pfalzgraf Christian August (1622–1708) gegenüber Juden Toleranz übte, nicht zuletzt, weil er davon überzeugt war, dass das Aufweisen theologischer Übereinstimmungen der christlichen Mission förderlich sei. Zeller wies auf Knorrs intensive Zusammenarbeit mit dem befreundeten Hermetiker Franciscus Mercurius van Helmont (1614–1699) hin und betonte, dass der Anteil van Helmonts an den gemeinsamen Projekten sowie seine diesbezügliche Leistungen in der Forschung lange nicht erkannt worden sind. Dieses Desiderat zu überwinden, stehe im Interesse der diesjährigen Knorr-Tagung.
ANDREAS DEPPERMANN (Dorsten), der mit seiner für die Pietismusforschung grundlegenden Dissertation über Johann Jakob Schütz (1640–1690) von 2002 die Verbindungen zwischen Frankfurt am Main und Sulzbach markiert hat, beleuchtete in seinem Beitrag die Zusammenarbeit und Freundschaft Christian Knorr von Rosenroths mit dem Frankfurter Juristen Schütz, der als einer der Protagonisten der Frankfurter Konventikelbewegung gilt, die zu Beginn pietistischer Bewegungen verortet wird. Er erläuterte den Prozess der Drucklegung von Knorrs „Harmonia Evangeliorum“ (ersch. 1672) durch Schütz und die Nähe der theologischen Ansichten beider. Schütz hatte den chiliastischen Duktus der „Harmonia“ gutgeheißen und mit Knorr die Auffassung über die Seelenwanderung und die Präexistenz der Seelen geteilt. Schütz hatte Knorr auch bei der Herstellung seiner „Kabbala denudata“ (1. Teil ersch. 1677, 2. Teil 1684) unterstützt – unter anderem durch die Beschaffung von Schriften – und deren Bekanntmachung und Verbreitung gefördert. Auch die Alchemie bildete ein gemeinsames Interessenfeld. Schütz hatte beispielsweise mehrere selbst hergestellte alchemische Heilmittel wie eine tinctura antiscorbutica nach Sulzbach übersendet sowie für den dortigen Kreis um Knorr von Rosenroth alchemische Schriften besorgt.
Der Judaist GEROLD NECKER (Halle) untersuchte in seinem Vortrag über den englischen Geistlichen Thomas Burnet (1635–1715) die Reflexion der „Kabbala denudata“ im England zur Zeit der Glorious Revolution. Die Textsammlung, die in unmittelbarem Zusammenhang mit den konfessionellen Streitigkeiten seit Ende des Dreißigjährigen Krieges verstanden werden müsse, beeinflusste auch die englischen Debatten. Dem durch die Cambridge Platonists geprägten Burnet, der von dem zum Katholizismus konvertierten King James II. gefördert worden war und nach der Revolution als Kammertheologe von King Wilhelm III. gewirkt hatte, war nach Veröffentlichung seiner Erdgeschichte, in der er unter anderem die theoria sacra kritisiert hatte, Heterodoxie vorgeworfen worden. Daraufhin wurde ihm das Amt des Erzbischofs von Cambridge verwehrt. In der unter dem Titel „Archiologiae Philosophicae“ (1692) erschienenen Abhandlung hatte er sich ebenfalls intensiv mit der Kabbala auseinandergesetzt. Er lehnte die in die „Kabbala denudata“ eingegangene Lehre Abraham Cohen de Herreras (1570–1635) ab (zum Beispiel die Lehren von Adam Kadmon, von den vier Welten und den Sefirot). Burnet hatte kabbalistische Lehren in eine von ihm abgeurteilte, auf Zahlen- und Buchstabenmystik fokussierte cabbala nominalem und einer von ihm befürwortete cabbala realem unterteilt. Letztere leitete er auch von John Dee (1527–1608/9) ab, der 1564 „Die hieroglyphische Monade“ veröffentlicht hatte. Den Fokus legte Burnet nicht auf die Trennung von Schöpfer und Schöpfung, sondern mit Rekurs auf Henry More (1614–1687) und dessen 16 Thesen zu Kabbala und Philosophie auf die Wandelbarkeit aller Wesen.
LUSDEMAR JACQUEZ RIVERA (Berlin) referierte aus ihrem kultur- und philosophiegeschichtlichen Dissertationsprojekt über die zweifache Deutung Christi in der „Kabbala denudata“. Im Zentrum des Vortrags standen die Einflüsse der Kommunikationsnetzwerke, die den unterschiedlichen christlich-kabbalistischen Interpretationen des Erlösers zugrunde lagen. So hatte Henry More beispielsweise Knorrs Interpretation des Parzuf Ze`ir Anpin (Kurzes Gesicht) und der sechsten Sefira Tiferet als Christus übernommen, die Knorr dem Herrengebet entnommen und mit der neu-platonischen Philosophie Henry Mores aber auch den pythagoräischen Ansätzen von Johannes van Meurs (1579–1639) verbunden hatte. More wiederum hatte seine dualistisch ausgerichtete Schöpfungslehre mit den fünf Zuständen der Seele verknüpft, einer alten kabbalistischen Lehre von Moses ben Jacob Cordovero (1522–1570), die in die Sammlung der „Kabbala denudata“ eingegangen war. Ein Streitpunkt zwischen den Kabbala-Interpreten blieb die Interpretation Christi als Adam Kadmon, für die der Quäker George Keith (1638/39–1716) in Briefen an Knorr geworben hatte, mit der Argumentation, dass Christi Seele an allen menschlichen Seelen Anteil habe, die Knorr aber ablehnte.
ELISA BELLUCCI (Domodossola) ging in ihrem Vortrag zu ihrer 2022 erschienen Dissertation den kabbalistischen Bezügen in den Werken von Johann Wilhelm (1649–1727) und Johanna Eleonora Petersen (1644–1724) nach. Das Ehepaar hatte sich mit seinen millenaristischen Ideen und Schriften zur Apokatastasis offen für kabbalistische Lehren gezeigt. So lassen sich in Johanna Eleonoras „Evangelium der allgemeinen Wiederbringung der Creaturen“ (1698) sowie in Johann Wilhelms „Mysterion apokatastaseos panton“ (1700) Gedanken einer kosmischen Harmonie und die Vorstellung von Christus als universellem Erlöser und Adam Kadmon finden. Als Quellen dienten ihnen neben Anne Conway (1631–1679) und Guillaume Postel (1510–1581) auch Knorr von Rosenroths „Kabbala denudata“ sowie Schriften von Franciscus Mercurius van Helmont. Kenntnis von Knorrs Werk hatten die Petersens wohl über Johann Jakob Schütz erhalten. Bellucci konnte aufzeigen, dass die Kabbala als wichtiger Bezugspunkt für die Entwicklung millenaristischer Vorstellungen im Umfeld des Frankfurter Pietismus im Allgemeinen und des Ehepaars Petersen im Speziellen diente.
Die Judaistin ELKE MORLOK (Frankfurt am Main) stellte in ihrem Vortrag heraus, dass die Auseinandersetzung mit der Kabbala am Sulzbacher Hof und in der pietistischen Mission in Halle einen spezifischen Diskurs- bzw. auch Missionsraum erzeugte, in dem vor allem innerchristliche Debatten verhandelt wurden. Im Zentrum stand die Suche nach dem „wahren“ ursprünglichen Christentum. Im Zeitalter der Konfessionalisierung seien so innerchristliche und jüdisch-christliche Kontaktzonen und Transferräume entstanden. Bemühungen um Sprache als gemeinsamem Verständnisraum seien die Basis für einen religiösen Dialog auf Grundlage der christlichen Kabbala gewesen. Aus diesem Grund hatte sich Knorr von Rosenroth beispielsweise um den Druck hebräischer Schriften in Originalsprache bemüht. Am Halleschen Waisenhaus waren im Rahmen des sogenannten „Institutum Judaicum et Muhammedicum“ Jiddisch-Übersetzungen christlicher Texte erschienen. Drucke der Missionsbegleitliteratur enthielten zudem kabbalistische Begrifflichkeiten aus Knorrs „Kabbala denudata“. Diese Übersetzungs- und Publikationspraxis wurde innerhalb der pietistischen Missionsarbeit als Beitrag einer praxis pietatis zur Bekehrung zu einem neuen „reinen“ Christentum mit Besinnung auf kabbalistische Quellen verstanden.
Der Theologe und Judaist MATTHIAS MORGENSTERN (Tübingen) zeigte am Beispiel der Lerntafel der Prinzessin Antonia von Württemberg, wie kabbalistisches Wissen in die adelige Frömmigkeitspraxis Eingang fand. Die Lerntafel, ein aufwändig gestaltetes Triptychon, befindet sich in der Dreifaltigkeitskirche in Bad Teinach. Sie wurde zwischen 1659 und 1663 vermutlich vom württembergischen Hofmaler Johann Friedrich Gruber (1620–1681) geschaffen und ist von kabbalistischer Motivik durchsetzt, etwa tauchen in ihr allegorische Darstellungen der Sefirot auf. Morgenstern verfolgt die These, dass es sich nicht um eine Lehrtafel handele, die Wissen „von oben herab“ vermittelt, sondern dass deren Betrachtung zu einer regelgeleiteten Bibellektüre führe. Die Gestaltung der Lerntafel geht auf den gelehrten Beraterkreis der Prinzessin zurück, dem unter anderem Johann Steudner (1652–1732), Johann Laurentius Schmidlin (1626–1692), Johann Ebermeier (1598–1666) und Philipp Jakob Spener (1635–1705) angehörten. Einer ihrer wichtigsten Vertrauten war der Cannstatter Pfarrer Johann Jakob Strölin (1620–1663), der als ihr Hebräisch- und Aramäischlehrer fungierte. Als Quelle des kabbalistischen Wissens hatten wohl weniger Knorrs Textsammlung „Kabbala denudata“ als vielmehr die Schriften Johannes Reuchlins (1455–1522) fungiert, die im Kreis der Prinzessin rezipiert wurden. Die Schriften des Renaissance-Gelehrten waren Antonia und ihrem Umkreis zugänglich und hatten zu einer distinkten süddeutschen Prägung der christlichen Kabbala-Rezeption geführt. Als Beleg dafür, dass diese Kabbala-Rezeption von einigen Zeitgenossen kritisch gesehen wurde, dient Morgenstern die Predigt des Tübinger Theologieprofessors und Rektors der Tübinger Universität, Balthasar Reith, anlässlich der Aufstellung der Lerntafel.
NORA BLUME (Halle) stellte in ihrer Präsentation Quellen aus ihrem kirchengeschichtlichen Promotionsprojekt vor. Anhand von zwei Texten Johann Franz Buddes (1667–1729) aus der Zeit um 1700 benannte sie Leerstellen, die durch Buddes Kanonisierung als sogenannten „Übergangstheologen“ entstanden. Sie wies darauf hin, dass in dessen Auseinandersetzung mit Wittenberger Theologen wie Valentin Ernst Löscher (1673–1749) und Gottlieb Wernsdorf (1668–1729) über die richtige theologische Lehre und insbesondere die angemessene philosophische Grundlage sogenannte „Orthodoxie“ keine homogene Gruppierung oder Theologie dargestellte, sondern einen Anspruch markierte. Budde habe unter diesem Signum eine „wahre Kabbala“ gegen Monismus- und Atheismusvorwürfe verteidigt, wie sie Johann Georg Wachter (1663–?) 1699 gegen die jüdische Kabbala vorgebracht hatte. Wachter hatte den Spinozismus aus der Kabbala hergeleitet und daraus eine antijüdische Polemik entworfen. Dementgegen hatte Budde, der auf der Grundlage der „Kabbala denudata“ über christliche Kabbala schrieb, sich aber insbesondere auf Henry More und Marsilio Ficino (1433–1499) bezog, die Schriftgemäßheit kabbalistischer Lehre betont. Er hatte behauptet, dass Christus und die Apostel selbst Kabbalisten gewesen seien und rehabilitierte auch die platonische Philosophie gegenüber dem Heterodoxievorwurf. Damit hatte er sich nicht nur unmittelbar in die Debatten eingeschrieben, die von anti-platonischen Polemiken wie Ehregott Daniel Colbergs „Platonisch-hermetischem Christentum“ (1690/91) geprägt waren, sondern verteidigte aktiv all jene, die wegen als deviant erachteter Ideen als Häretiker verurteilt wurden, wie Valentin Weigel (1533–1588) und Jakob Böhme (1575–1624).
Die Pharmaziehistorikerin und Kulturwissenschaftlerin CLAUDIA WEIß (Halle) referierte zu einem Aspekt ihres durch die DFG geförderten Promotionsprojekts zur Alchemie am Halleschen Waisenhaus im 18. Jahrhundert. Im Zentrum des Vortrags standen die Verbindungslinien zwischen dem Sulzbacher Hof, dem Halleschen Waisenhaus als Stätte des institutionalisierten sogenannten Halleschen Pietismus und Friedrich Breckling (1629–1711) in den Niederlanden im Hinblick auf einen theosophisch-alchemischen Wissensaustausch. Ein solches verbindendes Element war das intensive Interesse an der Verknüpfung von Kabbala und Alchemie. Dabei hatte man sich nicht auf das Feld der spekulativen Alchemie beschränkt, sondern sich auch eingehend mit dem praktischen Laborieren befasst. Über diese Themen hatte ein intensiver brieflicher Austausch zwischen Breckling als wichtigem Wegbereiter des Pietismus bzw. vehementem Kritiker innerhalb der lutherischen Kirche und mehreren Protagonisten am Halleschen Waisenhaus, insbesondere dem Waisenhaus-Gründer August Hermann Francke (1663–1727), stattgefunden. Dabei war es zu einer Rezeption von alchemischem sowie kabbalistischem Wissen, welches auf das Schaffen des Sulzbacher Kreises zurückging, gekommen. Die Referentin stellte fest, dass alchemische und theosophische Einflüsse von Anfang an von großer Bedeutung für pietistische Bewegungen waren und bei der heutigen Erforschung derselben nicht unterschätzt werden dürfen.
In ihrem gemeinsamen Vortrag untersuchten die Germanistin IRMGARD SCHEITLER (Würzburg) und ROSMARIE ZELLER (Basel), inwieweit die Lieder Knorr von Rosenroths in pietistischen Gesangbüchern verbreitet waren. In Johann Crügers „Praxis pietatis melica“, dem wohl bekanntesten evangelisch-lutherischen Gesangbuch im 17. und 18. Jahrhundert im deutschen Sprachraum, finden sich über sämtliche Ausgaben verteilt 34 Lieder aus dem „Neuen Helicon“. Als zentrale Vermittlungsinstanz hatte zudem das 1698 in Darmstadt erschienene „Geistreiche Gesangbuch“ fungiert. Aufnahme hatten die Lieder auch jenseits der Boetius-Übersetzung gefunden, teils seien die Melodien des „Neuen Helicon“ übernommen worden, teils hätten die Texte eine neue Vertonung erhalten. Als erfolgreichster Text gilt „Morgenglanz der Ewigkeit“.
FRIEDEMANN STENGEL (Halle) stellte heraus, dass die Bezeichnung Pietist für den württembergischen Theologen Friedrich Christoph Oetinger (1702–1782) irreführend ist. Oetinger, der durch Maria Katharina Schütz (1687–1740) an die „Kabbala denudata“ Christian Knorr von Rosenroths gelangt war, pflegte eine stark von Knorrs Kabbala-Lektüre und Jakob Böhmes Schriften geprägte Interpretation. Seine Beschäftigung mit der Kabbala war sowohl durch seine jüdischen Lehrer Koppel Hecht (gest. 1729) als auch durch die Lehre Chaim Vitals (1542–1620) geprägt worden. Oetinger könne allenfalls als kabbalistischer Theosoph oder aber theosophischer Kabbalist bezeichnet werden, so Stengel. Er hatte sich kritisch gegen die Auffassungen der „doketistischen“ Monadologie und gegen eine rationalistische rein-geistige Deutung des Reiches Gottes gewandt. Gegen den zeitgenössischen Materialismus und den Idealismus, den er in der Wolff-Leibnizʼschen Philosophie erblickte, hatte er eine kabbalistisch, alchemisch und vitalistisch geprägte Theosophie gestellt, welche ein enges Verhältnis zwischen Gott und Schöpfung implizierte, da laut Oetinger Gott der Wille zur Verleiblichung innewohne, ohne dass die Schöpfung eine göttliche Emanation sei. Er war dem helmontischen Modell „kein Geist ohne Materie – keine Materie ohne Geist“ gefolgt und hatte eine gegenseitige Durchdringung angenommen. Auch wenn Oetinger nach eigener Aussage 1736 eine lutherische Wende erlebt hatte und in einem Brief schrieb: „ich wage keine Cabala mehr. Hiobs Kreuz schmeckt besser“, so ließ er sie doch weiter intensiv in seine Theosophie einfließen.
In der Abschlussdiskussion wurde danach gefragt, ob Christian Knorr von Rosenroth als ein Katalysator für die Entstehung pietistischer Bewegungen gesehen werden könne. Zwar wurde konstatiert, dass Knorr diesbezüglich wohl kaum als „treibender Autor“ zu verstehen sei, dennoch hätten die Vorträge der Tagung gezeigt, dass die Rezeption Knorrs in einem sich zeitgleich etablierenden Gelehrtenmilieu mit gemeinsamen Interessen eine bedeutende Rolle spielte. Dies zeigt sich in heterogenen Debatten sowohl innerhalb wie außerhalb institutioneller Strukturen pietistischer Bewegungen. Für heutige kirchengeschichtliche und religionswissenschaftliche Betrachtungen, in denen auf sich gegenseitig durchdringende Vorstellungen, die miteinander in Verflechtung und Verbindung stehen, noch nicht genügend geblickt wird, ist die Tagung daher eine große Bereicherung. Mit Vorfreude erwarten wir den Tagungsband.
Konferenzübersicht:
Rosmarie Zeller (Basel) / Friedemann Stengel (Halle): Begrüßung
Anna Moritz (Leipzig) / Martin Steuber (Leipzig) / Wolfgang Hirschmann (Halle): „Gemüther auf / hinauff zur Sonnen“ – Lieder aus Christian Knorr von Rosenroths Neuem Helicon.
Stefan Frank (Sulzbach-Rosenberg): Begrüßung
Rosmarie Zeller (Basel): Knorr von Rosenroth im Kontext. Zur Einführung
Andreas Deppermann (Dorsten): „In vertrauliche freundschafft gekommen“ – Johann Jacob Schütz und Christian Knorr von Rosenroth
Gerold Necker (Halle): Englische Perspektiven: Die ‚Kabbala Denudata‛ bei Thomas Burnet (1635-1715)
Lusdemar Jacquez Rivera (Berlin): The Kabbalistic Readings of Christ in ‚Kabbala Denudata‘ and their Influence on the Christologies of Henry More, George Keith and Anne Conway
Elisa Bellucci (Domodossola): Kabbalistic Influences on „Pietistic“ Millenarian Expectations and especially on the Petersen’s Ideas
Elke Morlok (Frankfurt am Main): Kabbala als Diskursraum in Sulzbach und in der pietistischen Mission in Halle
Matthias Morgenstern (Tübingen): Littera vivificans. Kabbalistische Kreuzestheologie im württembergischen Frühpietismus am Beispiel der Bad Teinacher Lerntafel der Prinzessin Antonia von Württemberg
Nora Blume (Halle): „… dass selbst Christus und auch die Aposteln immer wieder der Hebräischen Kabbala folgten“ – Johann Franz Buddes (1667-1729) Verteidigung der Kabbala
Claudia Weiẞ (Halle): Theosophisch-alchemischer Wissensaustausch um 1700. Verbindungslinien zwischen dem Halleschen Waisenhaus, Friedrich Breckling in den Niederlanden und dem Sulzbacher Hof
Irmgard Scheitler (Würzburg) und Rosmarie Zeller: Die Rezeption der Lieder Knorrs in pietistischen Gesangbüchern
Friedemann Stengel (Halle): „Hiobs Kreuz schmeckt besser“? Oetingers theosophische Kabbala