Historical and Travel Practices and Digital Humanities

Historical and Travel Practices and Digital Humanities

Organisatoren
Guido Hausmann / Anna Ananieva / Sandra Balck / Hermann Beyer-Thoma / Ingo Frank / Jacob Möhrke, Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung IOS Regensburg; Karsten Brüggemann / Maris Saagpakk, Tallinn University
Ort
Tallinn
Land
Estonia
Fand statt
Hybrid
Vom - Bis
29.08.2024 - 30.08.2024
Von
Hermann Beyer-Thoma, München

Elektronische und über das Internet verfügbare Quelleneditionen sind inzwischen schon zu so etwas wie einem Standard ausgearbeitet und weit verbreitet. Für Reiseberichte gilt das nicht, obwohl das Thema schon seit vielen Jahre von der Forschung beackert wird. Die Gründe liegen wohl in der Herausforderung der Visualisierung der Reisewege und bei der oft großen Vielfalt von Materialien, die in Archiven in Verbindung mit Reiseberichten schlummern.

Die deutsch- und englischsprachige Tagung wurde zum Abschluss des dreijährigen Projektes „Digitale Editionen Historischer Reiseberichte“ veranstaltet. Dieses wird am Institut für Ost- und Südosteuropaforschung in Regensburg durchgeführt und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert. Die Leitung haben Guide Hausmann und Anna Ananieva inne. SANDRA BALCK (Regensburg), JACOB MÖHRKE (Regensburg) und ANNA ANANIEVA (Regensburg) stellten das Projekt vor. In dessen Mittelpunkt steht die Edition des handschriftlichen Berichts von Franz Xaver Bronner (1758–1850) über seine Reise von Aarau in der Schweiz nach Kazan’ im Jahre 1810 und wieder zurück im Jahre 1817. In dem Projekt wurde eine ganze Reihe digitaler Methoden angewandt, von der Texterkennung mit Transkribus über Named Entity Recognition und Datumserkennung bis zur Anwendung von TEI-XML bei der Texterstellung, wobei die derzeit führenden Softwarelösungen Ediarum und Oxygen (für korrektes XML) zu Hilfe genommen wurde.

INGO FRANK (Münster) schilderte konzeptionelle Fragen, die bei der Bearbeitung von Bronners Reisebericht zu lösen waren, wie semantisches Annotieren und den Gebrauch von Ontologien. Die von ihm ebenfalls angerissene Frage der Karten wurde von HERMANN BEYER-THOMA (München / Regensburg) vertieft, denn die von Bronner benutzten Karten konnten tatsächlich identifiziert werden. Beyer-Thoma stellte einige Forschungsergebnisse vor, die im Rahmen des Editionsprojekts erzielt wurden: In den ehemals polnischen Gebieten Preußens, Russlands und Österreichs waren die Angaben zu den Postrouten widersprüchlich und oft veraltet, weil die Teilungsmächte mit dem Aufbau des Postnetztes noch nicht fertig waren.

In den anderen Beiträgen zu historischen Reiseberichten kam eindringlich die Vielfalt der Herangehensweisen in den Literaturwissenschaften durch ANNA GAJDIS (Wrocław), REET BENDER (Tartu) und LIINA LUKAS (Tartu), in der Geschichtswissenschaft durch TAT’JANA KOSTINA (Paris), OL’GA KIRIKOVA (St. Petersburg) und BORBÁLA ZSUZSANNA TÖRÖK (Wien) und bei Digital-History-Projekten zum Vorschein. Der Vortrag von Anna Gajdis war insofern von besonderem Interesse, weil die von ihr behandelte, aus Kurland stammende Schriftstellerin Elisa von der Recke auch bei Bronner erwähnt wird und er mit ihr sogar, wie man bei genauerem Nachforschen erkennt, mehr als nur einmal zu tun hatte. Das (als deutschsprachig wahrgenommene) Baltikum und Polen waren für „reichsdeutsche“ Reisende des 18. und 19. Jahrhunderts exotische Länder. Die Frage nach der diesbezüglichen Wahrnehmung durch Reisende aus dem Baltikum selbst kam deswegen hier immer wieder zur Sprache, genauso auch im Zusammenhang mit den Referaten von Liina Lukas über baltische Reiseberichte um 1800 und von Reet Bender über die Reisen von Deutschbalten in die alte Heimat während des Kalten Krieges. Der anregende Beitrag von Borbála Zsuzsanna Török über „statistische“ Landesbeschreibungen im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert wiederum stellte einen deutlichen Bezug zur Kartographie her und zum Wissen der Reisenden über die Gegenden, in denen sie sich aufhielten.

Sehr anregend waren die Digital-Humanities-Projekte. DORIS GRUBER (Wien) stellte ein Projekt der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zur Anwendung der automatischen Bilderkennung in gedruckten Reiseberichten vor – man nahm schmunzelnd zur Kenntnis, dass bei genauerem Hinsehen nicht jeder erkannte Löwe auch ein lebendiger ist; manche sitzen auch leblos auf Steinsockeln. MAREIKE SCHUMACHER (Stuttgart) machte mit ihrem neuen computerlinguistischen Projekt über Reiseliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts bekannt. In diesem untersucht sie die wechselnden Schwerpunkte bestimmter Begrifflichkeiten über Natur und Umwelt. Bei solchen Vorhaben ist man auf die wissenschaftlichen Ergebnisse besonders gespannt.

Der Frage der Edition von Reiseberichten in all ihrer Komplexität war auch der Keynote-Vortrag von TOBIAS KRAFT (Berlin) von der Humboldt-Edition bei der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften gewidmet. Er ging unter anderem auf Probleme ein, die auch im Zusammenhang mit dem Bronner-Projekt schon angesprochen worden waren, wie die Verknüpfung der Reiseberichte mit weiteren archivalischen Dokumenten derselben und anderer Sammlungen, aber auch mit Internetressourcen; des Weiteren auf die inhaltliche Erschließung und Visualisierung der Daten, auf die Forschung rund um das Editionsprojekt sowie auf die Zugänglichmachung der Daten im Druck, online und, nicht zu vergessen, über die Lebensdauer des Projekts hinaus auf Servern wie GitHub und Zenodo. Stets stellt sich auch die Frage, wie eng zugeschnitten auf das Projekt und die damit möglicherweise verbundenen Forschungsfragen die Softwarelösungen und vor allem die inhaltliche Erschließung sein sollen. Für eine spätere externe Datenabfrage oder die Verwendung der Daten unter neuen Fragestellungen können hier schwer überwindliche Hürden entstehen.

Eine letzte Gruppe von Referaten war schließlich noch in einem weiteren Sinne verwandten Projekten gewidmet: RŪTA BRUŽEVICA (Tallinn) stellte das Projekt „Digital Livonia“ vor, das der Online-Zusammenführung der mittelalterlichen Quellen zu Livland gewidmet ist. In der Datenbank estnischer Übersetzungsliteratur von MARIS SAAGPAKK (Tallinn) gehen sozusagen Bücher auf Reisen. Die Beiträge von STEFAN DUMONT (Berlin) und KRISTER KRUUSMAA (Tallinn) waren der Erschließung von Reisequellen gewidmet. Bei Stefan Dumont ging es dabei um die Datenbank correspSearch, die Brief erfasst, bei Krister Kruusmaa um Reiseliteratur in der Estnischen Nationalbibliothek.

Die Tagung war für das Regensburger Projekt „Digitale Editionen Historischer Reiseberichte“ eine wichtige methodische Selbstvergewisserung. Dafür werden solche Abschlusskonferenzen ja auch veranstaltet. Außerdem war es für alle Beteiligten nicht unwichtig zu erfahren, was thematisch „in der Nachbarschaft“ – bei Quelleneditionen, bei der Bearbeitung von Reiseberichten – so geschieht. Räumlich war der Schwerpunkt auf dem Baltikum sehr gelungen, weil Franz Xaver Bronner, der im Mittelpunkt des Regensburger Projekts steht, in seinem Bericht dem Baltikum viel Aufmerksamkeit widmet und sich dadurch oft überraschende Querverbindungen und Anregungen ergaben.

Konferenzübersicht:

Guido Hausmann (Regensburg) / Anna Ananieva (Regensburg) / Karsten Brüggemann (Tallinn) / Maris Saagpakk (Tallinn): Welcome & Introduction

Chair: Jacob Möhrke (Regensburg)

Doris Gruber (Wien): On Animals, Plants and More: Ottoman Nature in Travelogues

Borbála Zsuzsanna Török (Wien): Traveling in One’s Country. Topography and Imagery in State Descriptions

Chair: Karsten Brüggemann (Tallinn)

Anna Ananieva (Regensburg) / Sandra Balck (Regensburg) / Jacob Möhrke (Regensburg): Franz Xaver Bronner’s Travelogues (1810 & 1817): Digital Approaches to Academic Mobility

Tatiana Kostina (Paris) / Olga Kirikova (St. Petersburg): Appropriation of the Imaginary East: The Journey of Johann Werner Pause from Saxony to Moscow 1701–1702

Chair: Maris Saagpakk (Tallinn)

Anna Gajdis (Wrocław): Tagebuch als Zuflucht: „Sächsische Reise“ (1784–1786) von Elisa von der Recke (1754–1833) und Sophie Becker (1754–1789) im Kontext der Egodokumente um 1800

Reet Bender (Tartu): Heimat Revisited – die Reisen der Deutschbalten in das sowjetisch besetzte Estland bzw. Lettland während des Kalten Krieges

Chair: Sandra Balck (Regensburg)

Keynote Address

Tobias Kraft (Berlin): Traveling with Humboldt (for 18 years): Digital Scholarly Editing on the Move

Chair: Gordon Fischer (Berlin)

Rūta Bruževica (Tallinn): Digital(ised) Livonia: A Trampoline for the Research of the Medieval History of Livonia

Ingo Frank (Münster) / Hermann Beyer-Thoma (München / Regensburg): Digitale Edition und Kontextualisierung historischer Reiseberichte mit historischen Karten

Stefan Dumont (Berlin): Post von unterwegs – Reisebriefe in correspSearch

Chair: Sandra Balck (Regensburg)

Mareike Schumacher (Stuttgart): Fremde Ökologien und Lebensräume. Beobachtungen der Natur im Reisebericht

Liina Lukas (Tartu): „Ich habe mit eigenen Augen gesehen…“ Baltische Reisetexte um 1800

Chair: Anna Ananieva (Regensburg)

Maris Saagpakk (Tallinn): Datenbank der literarischen Übersetzungen ins Estnische und „reisende Bücher“

Krister Kruusmaa (Tallinn): Travel Literature in the Estonian National Bibliography – a Data-Driven Approach