Am 21. Dezember 1524 wurde im Zuge der Reformation eine Lateinschule im Augustinerkloster der ernestinischen Residenzstadt Gotha gegründet. Sie stieg rasch zu einer Einrichtung von regionaler und auch überregionaler Bedeutung auf und wurde zum vitalen Teil der mitteldeutschen Bildungslandschaft. Durch finanzielle Förderungen nahm die Schule früh einen hochschulähnlichen Charakter an. Mit der Gründung des Herzogtums Sachsen-Gotha 1640 wurde das Gymnasium illustre dem Konsistorium unmittelbar unterstellt und nahm durch Reformen unter dem Rektor Andreas Reyher eine pädagogische Vorreiterrolle im Reich wahr. Für die praxisorientierte Bildung zog man auch die herzoglichen Sammlungen auf Schloss Friedenstein heran. Wie an Universitäten bildete Privatunterricht einen wesentlichen Bestandteil der Bildung vor Ort. Die historische Entwicklung des Gothaer Gymnasiums ist außerordentlich gut dokumentiert und zeigt, dass in der Frühen Neuzeit zwischen Schule und Universität häufig nicht strikt zu trennen war. Auch waren die Möglichkeiten der höheren Bildung sehr vielfältig und lagen teilweise außerhalb eines institutionellen Rahmens.
Anlässlich des 500. Jubiläums des Gothaer Gymnasiums veranstalteten die Forschungsbibliothek und das Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt unter der Leitung von Daniel Gehrt und Martin Mulsow eine internationale Tagung, die ihre Aufmerksamkeit auf die Pluralität frühneuzeitlicher Kulturen gelehrten Wissens, curriculare Überschneidungen und Eigenarten verschiedener Bildungseinrichtungen und -möglichkeiten, das Spannungsfeld zwischen deren Komplementarität und Konkurrenz sowie den Etablierungsprozess neuer Wissensdisziplinen und innovativer Methoden richtete.
Noch vor der Eröffnung der Tagung durch die Direktoren der beiden ausrichtenden Institutionen, Kathrin Paasch und Martin Mulsow, führte MONIKA MÜLLER (Gotha) durch die historischen Räume der Forschungsbibliothek auf Schloss Friedenstein. Sie präsentierte mehrere hochkarätige Handschriften zur Bildungsgeschichte, insbesondere aus der historischen Bibliothek des Gothaer Gymnasiums, die nach dem Zweiten Weltkrieg großenteils in die Bestände der Forschungsbibliothek aufgenommen wurde.
DANIEL GEHRT (Gotha) führte in das Tagungsthema ein. Zum einen gab er einen allgemeinen Überblick über den strukturellen Wandel des Gothaer Gymnasiums in der Frühen Neuzeit und erläuterte die außergewöhnlich dichte Überlieferung zu dieser Einrichtung seit 1640. Zum anderen zeigte er, inwiefern das Gymnasium im Spannungsfeld zwischen Bürgerschule, Landesschule, Universität und Privatbildung stand. Dabei wies er auf die in der Forschung oft übersehene Bedeutung von privaten Bildungsangeboten und Selbststudium für Lehrende an Lateinschulen und Universitäten hin. Mehr als die öffentlichen Lehrveranstaltungen boten diese Bereiche Freiraum für Neuerungen, Innovationen und Experimentieren.
OLAF SIMONS (Halle) erklärte die vielseitigen Vorteile und Verwendungen der von ihm entwickelten Wikibase-Plattform „FactGrid“. Diese Datenbank für historische Forschung lässt die unterschiedlichsten Relationen zwischen Personen und Objekten erkennen und visualisieren. Als Beispiel präsentierte er Daten zu mehr als 4.000 Personen in den oberen Klassen am Gothaer Gymnasium zwischen 1653 und 1882. Durch die Anreicherung bibliographischer Informationen kann man unter anderem das überregionale Einzugsgebiet des Gymnasiums geographisch visualisieren und die Karrierewege der Schüler in den verschiedenen akademischen Bereichen graphisch und prozentual darstellen.
Die beiden folgenden Beiträge nahmen weitere hochschulähnliche Einrichtungen in den Blick. STEFAN EHRENPREIS (Innsbruck) fokussierte auf katholische Institutionen, deren Vielfalt oft im Schatten der Jesuitenschulen steht. Neben älteren Magistrats- und Stiftsschulen sind beispielsweise auch neue Universitäten mit vorwiegend regionaler Ausstrahlung wie diejenigen, die im 16. bzw. 17. Jahrhundert in Graz und Innsbruck gegründet wurden, zu erforschen. Zu den Propria des katholischen Bildungswesens in der Frühen Neuzeit zählen unter anderem die Trägerschaft von Orden, der globale Bildungseinfluss infolge von Missionen sowie ein stark ausgebautes Schulwesen höherer Bildung für Mädchen mit Unterweisung in modernen Fremdsprachen und in der Poesie.
MARIAN FÜSSEL (Göttingen) widmete sich akademischen Gymnasien mit para-universitären Strukturen im Reich. Zu diesem Typus zählen rund 50 Einrichtungen, die im 16. und 17. Jahrhundert einen wesentlichen Bestandteil der Hochschullandschaft insbesondere im protestantischen Raum bildeten. Ihre Strukturen waren mannigfaltig. Auch ohne Universitätsprivilegien verfügten einzelne Gymnasien über eine eigene Gerichtsbarkeit. In der Fest- und Studentenkultur lassen sich viele Parallelen ziehen. In Konkurrenz zu Universitäten bauten sie Bibliotheken aus und gründeten beispielsweise botanische Gärten und anatomische Theater. Vergleichende Studien zu dieser aufschlussreichen Grauzone fehlen.
Griechisch zu dichten, war eine hohe Form der Gelehrsamkeit, die sowohl an Universitäten als auch an hervorragenden Schulen praktiziert wurde. STEFAN WEISE (Wuppertal) beleuchtete, wie Michael Neander, renommierter Pädagoge an der lutherischen Elitenschule, die 1546 im Ilfelder Prämonstratenserkloster gegründet wurde, durch die Identifizierung mit Gestalten der Mythologie seine Schüler für diese Sprache begeistern und ein andauerndes Gefühl der Verbundenheit fördern konnte. In dieser poetischen Welt wurde Neander zum Kentaur Chiron, Erzieher der Heroen, der am Fuß des Berges Pelion wohnte – eine Anspielung auf Ilfeld als Tor zum Südharz –, während individuelle Schüler, allen voran Lorenz Rhodoman und Wolfgang Finckelthaus, Heroen auf dem Schiff Argo auf der Suche nach dem Goldenen Vlies zugeordnet wurden. Diese Analogien wie auch die Darstellung der Schule als zweites Athen oder das Trojanische Pferd stärkten die kollektive Identität.
Höhere Bildung fand natürlich nicht nur in öffentlichen Lehrveranstaltungen statt. STEFFIE SCHMIDT (Osnabrück) gewährte tiefe Einblicke in private Lehrangebote, die zwar den Hauptteil der akademischen Bildung ausmachten, aber wegen der schmalen Überlieferung heute kaum sichtbar sind. Sie zeigte, dass die öffentlichen Vorlesungen an der Universität Uppsala im 17. Jahrhundert die Anforderungen an angehende Pfarrer in Bezug auf dogmatische Kenntnisse und die Predigtpraxis nicht entsprachen. Gebührenpflichtige Privatkollegien kamen jedoch diesen Bedürfnissen nach. Ein Notizbuch des Theologieprofessors Erik Benzelius d.Ä. lässt erkennen, dass solche Veranstaltungen meist kompakter und prägnanter waren. Privilegierte Studenten genossen auch Einzelunterricht. Schließlich fällt auch situatives Lernen, wie bei Gelehrtengesprächen oder Bibliotheksbesuchen, in diesen Bereich.
In ihrem Beitrag zur gelehrten Bildung von Mädchen und Frauen, die in der Frühen Neuzeit aufgrund ihres Geschlechts keinen Zugang zu Universitäten hatten, fokussierte MONIKA MOMMERTZ (Basel) auf Klöster und europäische Höfe. Kenntnisse der lateinischen Sprache, der freien Künste, der Philosophie und der Theologie waren für den religiösen Alltag und die Verwaltungsaufgaben der Nonnen unerlässlich und gehörten somit zum Bildungsprogramm der Klosterschulen. Höfe mit ihren Bibliotheken und anderen Sammlungen waren wichtige Bildungsstätten für weibliche Mitglieder der elitären und herrschenden Adelsgesellschaft. Im Unterschied zu Institutionen fand die privilegierte Privaterziehung zu Hause oder am Hof oft in einem gemischtgeschlechtlichen Lehrer-Schülerin-Verhältnis statt und ließ die Vermittlung von neuen Wissensdisziplinen und innovative Lehrmethoden eher zu.
Die letzten vier Beiträge beleuchteten verschiedene Aspekte der Bildungsverhältnisse am Gothaer Gymnasium, teils in vergleichender Perspektive. MARTIN MULSOW (Gotha) wertete die umfangreiche Gelehrtenkorrespondenz von Wilhelm Ernst Tentzel aus, der seit 1686 als Inspektor der finanziell geförderten und im Konvikt zusammenlebenden auswärtigen Schüler der oberen Klassen tätig war. Der Polyhistor ohne hohe pädagogische Ambitionen empfand seine Lehr- und erzieherischen Verpflichtungen als Last und führte jahrelang eine Art Doppelleben, tagsüber Lehrer, nachts Briefschreiber und Herausgeber der gelehrten Zeitschrift „Monatliche Unterredungen“. Sympathisanten pietistischer Strömungen in kirchlichen und schulischen Führungsstellen in Gotha zwangen Tentzel, der ihnen kritisch gegenüberstand, 1693, sein Amt am Gymnasium niederzulegen. Bereits seit 1692 leitete er die Münzsammlung auf Schloss Friedenstein und 1696 wurde er auch zum ernestinischen Hofhistoriographen ernannt.
ASAPH BEN-TOV (Wolfenbüttel) ging Spuren innovativer Methoden des Hebräischunterrichts am Gothaer Gymnasium im 17. Jahrhundert nach. Diese Altsprache hatte seit dem 16. Jahrhundert einen festen Platz im Lehrprogramm an Universitäten und größeren Lateinschulen als Zugang zum besseren Verständnis des Alten Testaments. Als Gotha Teil von Sachsen-Weimar war, verfasste der Oberhofprediger der Hauptresidenz Johann Kromayer 1614 eine Anleitung für die Hebräischlehre nach Prinzipien des Reformpädagogen Wolfgang Ratke. Methodisch neu war die Sprachaneignung ohne jegliche Berücksichtigung der Grammatik in der ersten Stufe. Andreas Reyher, der seit 1641 Rektor am Gothaer Gymnasium war und das Bildungssystem im Herzogtum nach Ratkeschen Prinzipien reorganisierte, verfasste ebenfalls eine Schrift mit neuen Methoden für den Hebräischunterricht. Reyhers Aufzeichnungen zu seiner Lehrtätigkeit weisen jedoch nicht auf deren tatsächliche Umsetzung hin.
SASCHA SALATOWSKY (Coburg) fragte mit Blick auf das Lehrpersonal, inwiefern aufklärerische Philosophie an den Gymnasien in Coburg und Gotha im 18. Jahrhundert vermittelt wurde. Für Gotha ergab sich hierbei der überraschende Befund, dass diese nur eine geringe Rolle spielte. Die einzige sichtbare Entwicklung bestand in den 1730er-Jahren in der Einführung der Eklektik unter Rektor Johann Heinrich Stuß, der in seinen Schulschriften eine erstaunliche Bandbreit an Gelehrten rezipierte. Seine Bemühungen, der Philosophie überhaupt einen systematischen Platz im Curriculum zuzuweisen, fanden keine Nachfolger. In Coburg finden sich dagegen mit Johann Ulrich Tresereuter, Johann Georg Heinrich Feder und Johann Christian Briegleb mindestens drei bedeutende Gelehrte, die die philosophische Aufklärung in die Schulpraxis überführten. Davon zeugen zahlreiche Programm- und Schulschriften, die durchgängig ein hohes philosophisches Reflexionsniveau präsentieren.
EVA DOLEZEL (Berlin) erläuterte ein Gutachten des Leipziger Ingenieurs Jacob Leupold aus dem Jahr 1718 über den pädagogischen Nutzen von Kunst-, Modell- und Naturalienkammern. Wissen über die Natur, Realien, Technologie, Wirtschaft und Landeskunde sollte durch Objekte und Modelle anschaulich vermittelt werden. Damit ging das Ziel einher, das ganze Land in Miniatur abbilden zu können. Der zwischen 1641 und 1673 amtierende Gothaer Rektor Andres Reyher hatte ähnliche Vorstellungen vom Nutzen der Sammlungen auf Schloss Friedenstein artikuliert, wobei unbekannt bleibt, inwiefern dies wie im Ottoneum in Kassel oder in den Franckeschen Stiftungen in Glaucha bei Halle umgesetzt wurde.
Die Beiträge der Tagung gaben durch ihre vielfältigen Blickwinkel wichtige Impulse für weitere Forschung insbesondere in eklatanten Grauzonen und blinden Flecken der Bildungs- und Wissensgeschichte. Eine Publikation der Vorträge und weiterer Beiträge zur Schülerdevianz, zum Geschichtsunterricht und zur Naturlehre in der Reihe „Gothaer Forschungen zur Frühen Neuzeit“ beim Franz Steiner Verlag ist vorgesehen.
Konferenzübersicht:
Monika Müller (Gotha): Thematische Führung durch die Forschungsbibliothek Gotha
Martin Mulsow / Kathrin Paasch (Gotha): Begrüßungen
Daniel Gehrt (Gotha): Das Gothaer Gymnasium illustre zwischen Schule, Universität und Privatbildung
Olaf Simons (Halle): Noch nicht so recht erforscht. Die Geschichte des Gymnasiums Gotha in ihrer aktuellen Datenstruktur
Stefan Ehrenpreis (Innsbruck): Organisationsstrukturen von Schule und Unterricht in katholischen Gymnasien. Vergleichsbeispiele
Marian Füssel (Göttingen): Para-universitäre Strukturen akademischer Gymnasien im Norden des Reichs
Stefan Weise (Wuppertal): Doing Things with Words: Antike Mythifizierung und Sakralisierung des Lernens in der protestantischen Schulpoesie der Spätrenaissance
Steffie Schmidt (Osnabrück): Privates Lehren und Lernen im Kontext akademischer Bildung. Beispiele aus dem skandinavischen Raum
Monika Mommertz (Basel): Formen außeruniversitärer Bildung im frühneuzeitlichen Europa. Konzeptionelle Überlegungen
Martin Mulsow (Gotha): Wege aus dem Zuchthaus. Wilhelm Ernst Tentzel, das Gothaer Gymnasium und die Korrespondenz mit der gelehrten Welt
Asaph Ben-Tov (Wolfenbüttel): Hebräisch und andere orientalische Sprachen am Gothaer Gymnasium
Sascha Salatowsky (Coburg): Aufgeklärte Schule? Der Philosophieunterricht an den Gymnasien in Coburg und Gotha im 18. Jahrhundert
Eva Dolezel (Berlin): Die didaktische Kunstkammer? Jacob Leupold und die Gothaer Sammlung