Familie und Verwandtschaft in Zeiten disruptiver Umbrüche (1800-1950)

Familie und Verwandtschaft in Zeiten disruptiver Umbrüche (1800-1950)

Organisatoren
Amerigo Caruso / Severin Plate, DFG-Projekt „Resilienz und Vulnerabilität. Europäische Adelsfamilien in Zeiten revolutionärer Umbrüche“, Universität Bonn
PLZ
53111
Ort
Bonn
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
19.09.2024 - 20.09.2024
Von
Victoria Fischer / Laila Zajonz, Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bonn

Die Abschlusstagung des DFG-Projekts „Resilienz und Vulnerabilität. Europäische Adelsfamilien in Zeiten revolutionärer Umbrüche“ legte den Fokus bewusst nicht eng auf das Projektthema aus, sondern zielte auf Querverbindungen und neue Perspektiven, um Elitenformationen besser zu verstehen. SEVERIN PLATE (Bonn) und AMERIGO CARUSO (Bonn) betonten in ihrem einleitenden Beitrag, dass die Tagung das Ziel verfolge, die Handlungslogiken und -strukturen der sozial und kulturell heterogenen Akteursgruppe "Familie" besser zu verstehen. Krisenerfahrungen und -diskurse, die insbesondere in weiten Teilen der langen Moderne Handlungs- und Entscheidungsdruck erzeugten, würden diese Logiken und Strukturen sichtbar machen, da sie in Krisenzeiten verstärkt eingesetzt, diskutiert und teils grundlegend verändert wurden. In vier Panels wurden vor dem Hintergrund von Krisen und Umbrüchen im 19. und 20. Jahrhundert die Themen Inszenierung, Geschlechterordnung, politisches Handlungskollektiv und Transnationalität untersucht. Das Herstellen, Pflegen und Nutzen von verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Netzwerken, oft über die Grenzen der Nationen hinaus, die Rolle weiblicher Akteure und, allgemein, Muster in den Geschlechterrollen bildeten panelübergreifende Motive.

Thematisch begann das Programm am oberen Ende der zeitgenössischen Gesellschaft mit MONIKA WIENFORTs Beitrag (Potsdam) über Adel und Elite in Preußen vor den Krisen des 19. Jahrhunderts. Anhand einer Adelsdefinition, die sich weniger auf Leistung, sondern mehr auf die Einbindung von Individuen eines Adelsgeschlechts über eine möglichst lange Zeitspanne bezieht, präsentierte der Vortrag Inszenierungsstrategien des preußischen Adels unter dem Motiv des „Obenbleibens“, welche die Familie in den Mittelpunkt stellten: Fideikommisse, die Gründung adeliger Familienverbände zur Identitätsstiftung, das Konnubium sowie die Ausbildung adliger Frauen für eine „standesgemäße“ berufliche Tätigkeit. Eine weitere Inszenierungsmöglichkeit kleinadliger Familien in der Krisenerfahrung um 1900 durch die Agrarkrise und Massendemokratisierung zeigte HANNAH BOEDDEKER (Hamburg) anhand des „Genalogischen Taschenbuchs des Uradels“. Der Aufruf zu einem Beitrag in dem Taschenbuch durch den Gothaer Perthes Verlag gebe Einblicke in die genealogische Praxis einzelner Familien. Die Genealogie als familiäre Bewältigungsstrategie funktioniere jedoch nur bedingt und zeige den sozialpolitischen Einflussverlust adliger Familien und deren prekäre Situation, die den strengen Vorgaben des Verlags, anders als noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nun nichts mehr entgegenzusetzen hätten.

Das zweite Panel zu Familie und Geschlechterordnung leitete FRANS JOOST WELTEN (Wien) mit einem Beitrag über Handlungsspielräume der Habsburger Erzherzoginnen und deren Nutzen in Zeiten revolutionärer und kriegerischer Umbrüche ein. Am Beispiel einer freigeistigen Schwester von Kaiser Franz II., Maria Anna, wurde deren Handlungsspielraum als Äbtissin und später als Schirmherrin einer religiösen Sekte dargelegt. Durch diese Schirmherrschaft habe die Erzherzogin gegen die österreichische Kirchenpolitik agiert, würde aber dennoch immer vorrangig als Mitglied ihrer Dynastie gesehen, das Geschlecht sei in diesem Fall zweitrangig. Im darauffolgenden Beitrag sprach SEVERIN PLATE über weibliche Beiträge zu Kernprozessen der Familienresilienz im dänischen Gesamtstaatsadel. Anhand des Beispiels der Familien Bernstorff, Stolberg, Reventlow und Schimmelmann zeigte er Frauen als Vermittlerinnen zwischen der Verwandtschaft auch in Krisenzeiten, deren Verhalten in der damit verbundenen Reaktion zu Resilienzstrategien der Familie beitrage.

Der zweite Teil des Panels verband verstärkt die Kategorien Geschlecht und Nation. GINTARE MALINAUSKAITE (Vilnius) verknüpfte Geschlecht mit Migration und Nationalstaatsbildung in ihrem Beitrag über die Familie Šliūpas aus Vilnius, die der litauischen Nationalbewegung angehörte und gegen Ende des 19. Jahrhunderts auf der Flucht vor der Russifizierungspolitik des zaristischen Regimes in die USA emigrierte. Beide Eheleute seien am Aufbau der Nationalbewegung in der litauisch-amerikanischen Gemeinschaft beteiligt gewesen, deren Überzeugungen sich auch in den Geschlechterverhältnissen innerhalb der Familie zeigten. Neben intellektueller Arbeit beider Ehepartner im Sinne der Bewegung habe die Ehefrau neben der Kindererziehung den Lebensunterhalt verdient und damit die politischen Aktivitäten ihres Mannes finanziert. Auf diese Art habe die Familie als politisches Handlungskollektiv funktioniert. RUTH NATTERMANN (München) sprach im letzten Panelbeitrag über italienisch-jüdische Familien als Widerstands- und Zufluchtsorte von der Zeit des Risorgimento bis zum Faschismus. Von einer stärkeren öffentlichen Präsenz vor dem Hintergrund der italienischen Unabhängigkeitskriege über neu erschlossene Tätigkeitsfelder während des Ersten Weltkriegs bis hin zur aktiven Beteiligung am antifaschistischen Untergrund veranschaulichte Nattermann die Eroberung sowie den darauf folgenden Verlust familiärer und öffentlicher Handlungsräume jüdischer Feministinnen.

JOACHIM EIBACHs Keynote (Bern) über Resilienzstrategien bürgerlicher Familien im 19. Jahrhundert definierte Familie als eine totale Institution im Sinne einer Unterstützungs-, Überlebens- aber auch Konfliktgemeinschaft. Eibach entwarf eine Typologie der Krisen auf Basis der Selbstzeugnisse von acht Paaren bzw. Familien: Unvorhersehbare externe, häufig politische, Ereignisse, ökonomische Krisen, die häufig in Verbindung mit emotionalen Krisen des Paares stünden, sowie Reputationskrisen. Resilienz habe vor allem durch soziale Netzwerke und Durchhaltevermögen erlangt werden können. Hinzu komme die kulturelle Praxis einer ‚Offenen Häuslichkeit‘, indem, entgegen des Konzepts der bürgerlichen Kernfamilie, regelmäßig mehr Menschen in einem Haushalt anzutreffen gewesen seien, als nur die engsten Familienmitglieder, wie Dienstboten oder weitere Verwandtschaft. Abschließend attestierte Eibach zwar viele Krisen, aber nicht notwendigerweise eine nachhaltige Resilienz der untersuchten Familien.

Das dritte Panel zur Familie als politisches Handlungskollektiv begann mit einem Vortrag von ALEXA VON WINNING (Tübingen) zur engen Verflechtung von imperialem Staat und Privatleben von Adelsfamilien im Russischen Reich des 19. Jahrhunderts. Die Familie Mansurov wurde als Beispiel einer einflussreichen Familie des Dienstadels aufgeführt, die familiäre Ressourcen zum Aufbau eines transnationalen Imperiums einsetzte und von großen Handlungsspielräumen profitierte. Wie Familien mit einem transnationalen leistungsfähigen Netzwerk in Krisenzeiten wirkungsvoll agieren konnten, würde sich im Stresstest Krimkrieg und durch die zunehmende Professionalisierung der Politik zeigen. Die Mansurovs seien diesen Herausforderungen mit zwei Strategien begegnet: Der Verknüpfung ihres privaten Netzwerks mit formellen Institutionen und der inhaltlichen Spezialisierung durch Sammeln von religiösem Fachwissen und der Verbindung mit der Russisch-Orthodoxen Kirche. Weitere Strategien der Anpassung adeliger Familien an veränderte politische Umstände zeigte KATHARINA THIELEN (Saarbrücken) mit den politischen Netzwerken der Notabelnelite im Rheinland von 1815 bis 1848. Mit der Zugehörigkeit zu Preußen hätten sie ihre institutionellen Repräsentations- und Partizipationsformen verloren und sich informelle Ersatzforen politischer Kommunikation geschaffen. Am Beispiel der Stadträte in Aachen, Düsseldorf, Köln, Koblenz und Trier untersuchte Thielen Verwandtschaft und Vereine als vormoderne Netzwerkformen, die als Interaktions- und Kommunikationsräume zur Durchsetzung individueller und kollektiver politischer Ziele beitragen würden. Durch die Netzwerkanalyse können verwandtschaftliche Beziehungen und die Vernetzung in Vereinen sichtbar gemacht werden.
Der zweite Teil des Panels rückte die Unterstützung durch weibliche Familienmitglieder in den Vordergrund.

LUKAS MOLL (Berlin) richtete den Blick auf die Familien- und Verwandtschaftsnetzwerke von Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung als Parlament im „ständigen Krisenmodus“. Anhand der Korrespondenz der Abgeordneten mit ihren Ehefrauen könne der wichtige Stellenwert der Familie für die Wirksamkeit parlamentarischer Tätigkeiten in Zeiten von Umbrüchen gezeigt werden. Durch die steigende Verflechtung von Politik und Privatleben entstünden informelle Zugänge zur Politik für Frauen. Die Professionalisierung der Politik sei mit zunehmenden sozialen und emotionalen Belastungen verbunden gewesen, wobei die Ehefrauen die Rolle der emotionalen und administrativen Stütze einnahmen, die unerlässlich für den politischen Erfolg wäre. In ihrem Beitrag ging ANDREA HOPP (Schönhausen) auf das Beispiel der Familie um Otto von Bismarck als adelspolitisches Handlungskollektiv ein. Das familiäre System habe neben seinen Söhnen und seinem Schwiegersohn auch Ehefrau Johanna, Tochter Maria und später Schwiegertochter Marguerite als Unterstützung miteinbezogen. Der Familienkreis habe als adelspolitisches Kollektiv mit schichtspezifischer Prägung agiert, der einen in Beharrung verankerten Gegenpol zu der sich wandelnden Welt für Otto von Bismarck und damit einen unentbehrlichen Rückhalt für ihn dargestellt habe.

Das letzte Panel zu Verwandtschaftsnetzwerken und Transnationalität begann MARINE FIEDLER (Rom) mit einem Beitrag zu einer translokal denkenden und handelnden Hamburger Kaufmannsfamilie in Konflikt- und Krisenzeiten des „langen 19. Jahrhunderts“. Durch die globale Ausdehnung der Familie Meyer seien Spannungen zwischen Mobilität und Lokalität sowie zwischen den mobilen und nichtmobilen Familienmitgliedern entstanden. Komplexe, zweideutige Handlungen wären zur Durchsetzung der familiären und ökonomischen Interessen notwendig gewesen, durch die es den Meyer auch in Zeiten der Krise und Konflikten gelang, das grenzüberschreitende Familienmodel zu erhalten. SARAH PANTER (Mainz) befasste sich in ihrem Beitrag mit dem transatlantischen Pendlertum revolutionärer Familien in den 1860er- und 1870er-Jahren. Die politische Amnestierung könne nicht, wie lange in der Forschung behauptet, als einziger Grund für ihre Rückkehr gesehen werden. Panter argumentierte, dass familiale Hintergründe und alltagspraktische Überlegungen Mobilitätsanreize gewesen seien. Unabhängig davon, ob die Rückkehr temporär oder dauerhaft war, sei sie eine familial-biographische Risikoabwägung gewesen. Dabei ließe sich die Lebenswirklichkeit der Deutschamerikaner nicht mit den bürokratischen Begriffen „Auswanderung“ und „Rückkehr“ erfassen, denn sie seien in transatlantische familiale und berufliche Netzwerke eingebunden gewesen. Im letzten thematischen Beitrag beschäftigte sich SIMONE DERIX (Erlangen-Nürnberg) mit Überlegungen eines US-amerikanischen Geschwisterpaars zur Vergabe von Affidavits, die Jüdinnen und Juden die Einreise in die USA erlaubten. Zur Entscheidungsfindung, die in ihrer Korrespondenz festgehalten ist, legte das Geschwisterpaar Lowie Abstufungen von Nähe fest, wobei Verwandte innerhalb der hierarchischen Beziehungen den Vorzug erhielten. Derix leitete aus der Korrespondenz von Robert und Risa Lowie eine Natürlichkeit von Verwandtschaft ab, die auch ohne tatsächlich erfahrene Nähe ein Pflichtbewusstsein hervorrief. Verwandtschaft würde dabei zu einem hochrangigen Auswahlkriterium in den Selektionsprozessen, die auch Helfende anwenden mussten.

In den Beiträgen würde deutlich, wie unterschiedliche Familien ausgehend von ihrer gesellschaftlichen und politischen Situation Strategien der Resilienz entwickelten, fasste GABRIELE CLEMENS (Saarbrücken) in einem abschließenden Kommentar zusammen. Ob man das 19. Jahrhundert als Zeitalter der Krisen beschreiben könne, stellte Clemens in Frage.

Insgesamt ließen sich als übergreifende Tagungsthemen verwandtschaftliches internationales Krisenmanagement vor dem Hintergrund der Globalisierung des 19. Jahrhunderts ausmachen, aber auch die Neuverhandlung weiblicher familiärer Rollenbilder in krisenhaften Situationen, besonders in jenen Familien, die als politisches Handlungskollektiv agierten. Darüber hinaus können vor allem das Verhältnis von innerer und äußerer Krise (Krise innerhalb der Familie – Familien in Krisenzeiten) sowie die Ambivalenz von Familie als Resilienzfaktor und als Subjekt von Fragilität und Vulnerabilität als vielversprechende Impulse für weitere Forschung gelten.

Konferenzübersicht

Panel 1: Familie und Inszenierung
Moderation: Amerigo Caruso

Monika Wienfort (Potsdam): Adel und Elite in Preußen in Krisen des 19. Jahrhunderts

Hannah Boeddeker (Hamburg): Das „Genalogische Taschenbuch des Uradels“: mediale Repräsentation niederadliger Familie in der Krisenerfahrung um 1900

Panel 2: Familie und Geschlechterordnung
Moderation: Christine Krüger

Frans Joost Welten (Wien): Wie überlegt eine Dynastie die revolutionären und napoleonischen Kriege? Die unbekannten Rollen der Frauen des Hauses Habsburg

Severin Plate (Bonn): Dänischer Gesamtstaatsadel in Zeiten der Krise: Weibliche Beiträge zu den Kernprozessen der Familienresilienz

Gintare Malinauskaite (Vilnius): Familie und Nationsbildung: Die Familie Šliūpas in der amerikanischen Emigration (1884-1919)

Ruth Nattermann (München): Widerstandsorte, Handlungsräume, Fluchtpunkte. Italienisch-jüdische Familien zwischen Risorgimento und Faschismus

Abendvortrag/Keynote:

Joachim Eibach(Bern): Viel Krise – viel Resilienz: Bürgerliche Familien im 19. Jahrhundert

Panel 3: Familie als politisches Handlungskollektiv
Moderation: Marion Romberg

Alexa von Winning (Tübingen): Stresstest, neue Öffentlichkeit und staatliche Institutionen: Die Mansurovs im russländischen Reich (1861-1905)

Katharina Thielen (Saarbrücken): Notablenpolitik im Rheinland: Politische Netzwerke zwischen Frankreich und Preußen 1815-1848

Lukas Moll (Berlin): „Mir ist die Hoffnung geblieben, dass wir auch diese Krise glücklich überstehen“. Familien- und Verwandtschaftsnetzwerke der Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49

Andrea Hopp (Schönhausen): Das Politische im Privaten. Die Familie um Otto von Bismarck als adelspolitisches Handlungskollektiv

Panel 4: Verwandtschaftsnetzwerke und Transnationalität
Moderation: Carsten Burhop

Marine Fiedler (Rom): Translokal handeln und denken: eine Hamburger Kaufmannsfamilie in Konflikt- und Krisenzeiten des „langen 19. Jahrhunderts“

Sarah Panter (Mainz): Jenseits von „Exil“ und „Rückkehr“: Das transatlantische Pendlertum revolutionärer Familien in den 1860er und 1870er Jahren

Simone Derix (Erlangen-Nürnberg): „One ought not to discriminate against one’s relatives”. Überlegungen von US-Amerikaner*innen zur Vergabe von Affidavits für europäische Verwandte ab 1938

Gabriele Clemens (Saarbrücken): Kommentar und Abschlussdiskussion

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