Die Tagung bildete den zweiten Teil der Abschlusskonferenz des japanisch-deutschen Projekts “Rechtskultur(en) in der fränkischen Welt”, deren erster Teil im März 2024 in Tokio stattgefunden hat.
Nach einer kurzen Einführung von Stefan Esders (Berlin) behandelte FRANÇOIS BOUGARD (Paris) Isidor von Sevilla und seinen Einfluss auf die formale und inhaltliche Beschaffenheit mittelalterlicher Rechtstexte. Seine Etymologiae hatten einen signifikanten Einfluss auf die Rechtstradition des Frühmittelalters. Kapitel wie de legibus oder de agnatis et cognatis wurden häufig in Handschriften der Zeit zitiert oder als Zugangstexte zu umfassenden juristischen Sammlungen genutzt. Bougard wies darauf hin, dass Isidors Schriften einerseits oft redaktionell an die jeweilige Rechtshandschrift angepasst, andererseits auch unverändert überliefert wurden, wie es bei de legibus der Fall ist. Bougard wertete dies als Zeichen, dass diese Kapitel über eine quasireligiöse Autorität verfügten, sodass sie, ähnlich wie bei Bibelversen, eher als Grundlage für eine rechtliche Exegese verstanden werden müssen statt als bindende Rechtstexte. Aus diesem Grund bezeichnete Bougard Isidors Werk als Werkzeugkasten für frühmittelalterliche Rechtshandschriften sowie als Vermittler zwischen der römischen und der fränkischen Rechtskultur.
LUCA LOSCHIAVO (Teramo) widmete sich in seinem Vortrag der Überlieferung der Collatio legum Mosaicarum et Romanarum, einem vermutlich in Rom entstandenen, anonymen Rechtswerk aus der Spätantike. Dieser Rechtstext aus dem späten vierten Jahrhundert vergleicht in ausgewählten Passagen das alttestamentarische mit dem römischen Recht. Zu Beginn zeigte Loschiavo auf, dass dieser Text ins Frankenreich gelangte und dort bekannt war. Hinkmar von Reims zitierte beispielsweise aus der Collatio, und auch im Codex Bellovacensis (Paris, BnF, Lat. 9652) finden sich Fragmente dieser textlichen Tradition. Die älteste erhaltene Handschrift aus dem Frankenreich ist der Codex Berlin, Lat. fol. 269, der auf das späte 8. Jahrhundert datiert wird. Dieser Codex kombiniert die Collatio mit der Epitome Iuliani. Diese Paarung ist Loschiavo zufolge bereits auf einer früheren Überlieferungsstufe entstanden, auf der die gesamte bekannte Überlieferung basieren soll. Loschiavo setzt als frühestes Entstehungsdatum für diese Verbindung ebenfalls das achte Jahrhundert an. Aufbauend auf das von Fritz Schulz konzipierte Stemma (1946) schlägt er eine Erweiterung vor, die sowohl die kürzlich als Fragment der Collatio identifizierte Handschrift Zadar, State Archives, Ms. 377 als auch die Exzerpte aus dem Codex Bellovacensis mit einbezieht. Der Vortragende schloss seine Präsentation mit den Fragen, welche sich aus dieser Erkenntnis ergeben: Warum wurden die Epitome Iuliani und die Collatio verknüpft und wie gelangten Kopien dieser Paarung ins nordalpine Frankenreich?
Im Anschluss referierte SHIGETO KIKUCHI (Tokio) über die Handschrift Paris, BnF, Lat. 4628 aus der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts Diese enthält neben acht Kapitularien, die teilweise nur fragmentarisch überliefert sind, Ausschnitte der Lex Salica sowie die Lex Ribuaria und die Lex Alamannorum. Kikuchi argumentierte für die Funktion der Handschrift als praktisches Rechtsbuch aufgrund der schlichten Gestaltung ohne aufwändigen Buchschmuck sowie der Abwesenheit von Prologen. Er wies auf eine große Anzahl an Modifikationen und Fehlern sowie Ähnlichkeiten zu einer anderen Pariser Handschrift (BnF, Lat. 10753) hin. Des Weiteren klassifizierte Kikuchi die Handschrift als eine von vier Handschriften, in denen die sogenannte Fassung Ɛ vorliegt, wobei es sich um eine spezifische Redaktion von Kapitularien Ludwigs des Frommen von 818/819 handelt (BK 139, 140, 156 sowie c. 6 aus BK 138 und Fragmente aus BK 141). Ferner interpretierte er eine Illustration am Ende des Textes eher als Darstellung einer königlichen Audienz denn eines Tribunals. Als mögliche Begründung für die Ergänzung der Zeichnung nannte er eine spätere Verwendung des Textes durch eine Kirche oder ein Kloster.
Zum Abschluss des ersten Tages zeigte HELMUT REIMITZ (Princeton) anhand der Pariser Handschrift BnF, Lat. 10758, die ca. 880 in St. Remi entstand, den Rechtspluralismus im Frankenreich auf, der sich wesentlich von den im römischen Reich gängigen Formen unterscheide. Besonders betonte er die Beachtung lokaler Rechtsgewohnheiten bei der Einführung neuer Gesetze. Dabei verwies Reimitz unter anderem auf große Ähnlichkeiten zwischen BnF, Lat. 10758 und einer weiteren Pariser Handschrift BnF, Lat. 4628A. Bis auf eine Ausnahme ließen sich alle Texte der ersten Handschrift auch in der zweiten Handschrift wiederfinden, häufig sogar in derselben Reihenfolge; diese Tradition sei aber nur für das Westfrankenreich nachweisbar. Reimitz argumentierte, dass im Westfrankenreich eine deutlich stärkere Orientierung am fränkischen Recht vorgeherrscht habe, während im Ostfrankenreich der Fortbestand verschiedener Rechtsbücher über die Zeit der Karolinger hinaus für die anhaltende Bedeutung dieser Rechtstexte stehe. Weitere Unterschiede in der Überlieferungstradition zwischen West- und Ostfrankenreich ließen sich an der Verbreitung der Reichsannalen ablesen, da ausschließlich im Ostfrankenreich ergänzend zu den Reichsannalen Einhards Vita Karoli Magni sowie Biographien über Ludwig den Frommen ständen.
ROSAMOND MCKITTERICK (Cambridge) befasste sich mit kanonistischen Rechtssammlungen und deren Kompilation sowie Funktion am Beispiel der Handschrift Einsiedeln, Stiftsbibliothek, MS 191, welche vor allem die Collectio Quesnelliana mit dogmatischen Texten Leos des Großen enthält und damit – so McKitterick – ein Modell für geistliches Leben bot. McKitterick widersprach zwar Bernhard Bischoff in dessen Einschätzung der Handschrift als Königshandschrift, brachte Einsiedeln 191 dennoch mit dem Hof Karls des Großen in Zusammenhang. Dafür spräche nicht nur die Identifizierung einer der Hände mit dem Schreiber einer anderen Handschrift (London, BL, Cotton Claudius B V), sondern auch ein Brief Karls des Großen von 794, welcher der Handschrift als Prolog dient. Daraus ergebe sich zudem, dass die Handschrift in den späten 780er-Jahren geschrieben und kurz nach 794 beendet wurde. Auch acht Hymnen, die in der Forschung oft Ludwig dem Frommen zugeschrieben wurden, deren Entstehung McKitterick jedoch ebenfalls in die Zeit und an den Hof Karls des Großen verortete, belegen die These, dass die Handschrift aus jenem Umfeld stammt. Später datierte Texte wie die Capitula ab episcopis Attiniaci data von 822 widersprächen ihrer These nicht, da sie eindeutig als Nachtrag zu identifizieren seien. Damit gelte Einsiedeln 191 mitsamt der Collectio Quesnelliana, die Antworten auf zahlreiche Fragen kirchlichen Lebens bot, als Zusammenstellung von Material zu damals aktuellen Kontroversen (zum Beispiel Adoptianismus) und den entsprechenden Gegenmaßnahmen des königlichen Hofes. So seien die Handschrift sowie die Collectio in der Tradition der karolingischen Correctio zu verorten und bildeten neben anderen Überlieferungen der Zeit eine erfolgreiche Kompilation kanonischen Rechts.
Anschließend verglich TILL STÜBER (Wien) zwei Handschriften aus Freising (München, BS, Clm 6243) und Würzburg (M. p. th. f. 146). Die Freisinger Handschrift datierte er auf ca. 800, den Würzburger Codex auf das erste Drittel des 9. Jahrhunderts Die beiden Handschriften gehören dem sogenannten Corpus canonum Africano-Romanorum (CCAR), wie er von Hubert Mordek benannt wurde, an, bei welchem es sich um die erste lateinische Übersetzung einiger griechischer Synoden handelt. Stüber unterteilte die Überlieferung mit ihren acht erhaltenen Handschriften in zwei Gruppen, vier frühere und drei spätere Handschriften. Die Überlieferungen aus Freising und Würzburg wurden von ihm als Tradenten einer jüngeren Rezension betrachtet, in der zusätzlicher Text zur ursprünglichen Version des CCAR hinzugefügt worden sei. Diese Ergänzung sollte die Position des Papstes in der sogenannten Apiarius-Kontroverse des 5. Jahrhunderts zwischen dem Papsttum und afrikanischen Bischöfen unterstützen. Bei den Handschriften aus Freising und Würzburg handele es sich um die einzigen Überlieferungen eines Nachtrags des Konzils von Serdica. Sie seien von päpstlicher Seite vorsätzlich dem Konzil von Nicäa zugeordnet worden, um ihre Autorität zu erhöhen.
Über die Handschrift Lat. 2718 der Pariser Nationalbibliothek referierte OSAMU KANO (Nagoya). Der Codex enthält zentrale Texte aus der Regierungszeit Kaiser Ludwigs des Frommen, welche zu großen Teilen in Tironischen Noten geschrieben sind. Er zeichnet sich durch seine unregelmäßige Gestalt aufgrund der Verwendung von Pergamentresten von unterschiedlichem Format aus. Die Handschrift wurde bisher als für das Martinskloster in Tours bestimmt angesehen, da einige der enthaltenen Dokumente in Form von Briefen und Urkunden einen direkten Bezug zu diesem Ort aufweisen. Kano regte in seinem Vortrag an, dass die Handschrift durchaus auch für den karolingischen Hof selbst gedacht gewesen sein könne und nicht für den Privatgebrauch eines einzelnen Mönches in Tours, wie es Sarah Patt 2016 vorschlug. Kanos Argumentation stützte sich auf zwei wesentliche Punkte: Erstens betonte er, dass der Redaktor der Handschrift ein Mitglied der königlichen Kanzlei gewesen sein müsse. Zweitens verwies er auf die inhaltliche Ausrichtung vieler Texte auf das Thema der Gerechtigkeit, ein zentrales Anliegen der karolingischen Herrscher. Ein Beispiel hierfür sind die in der Handschrift enthaltenen und nur hier sowie in einer eng verwandten Handschrift überlieferten Capitula de iustitiis faciendis (820–823), die konkrete Maßnahmen zur Durchsetzung von Gerechtigkeit beschreiben.
BRITTA MISCHKE (Köln) beschäftigte sich mit der Handschrift Gotha, FB, Memb. I 84 als Teil der Überlieferungsgeschichte des sogenannten Liber legum des Lupus. Der Originaltext des Liber legum ist heute verloren, doch existieren zwei bedeutende Kopien: der in Mainz geschriebene Gotha-Codex und ein weiterer in Modena (Modena, Biblioteca Capitolare, O. I. 2). Mischke konzentrierte sich auf die Überlieferung im Gothaer Codex. Sie argumentierte gegen die Annahme, dass es sich dabei um eine nordalpine Version des Liber legum handelt. Stattdessen wurde vorgeschlagen, dass der Handschrift zwei italienische Vorlagen zu Grunde liegen: Eine Handschrift des italienischen Liber legum und eine in Italien um Kapitularien Lothars und Ludwigs II. erweiterte Fassung der Kapitulariensammlung des Ansegis, welche auch in einer nur fragmentarisch erhaltenen Schwesterhandschrift (München, Bayerische Staatsbibliothek, Clm. 29555/1) überliefert ist. Mischke vermutete, dass diese Vorlagen durch den Mainzer Erzbischof Willigis nach Mainz gelangt sein könnten, welcher zahlreiche Verbindungen nach Italien pflegte und selbst mehrmals die Alpen überquerte.
Einen hybriden Vortrag widmeten JENNIFER DAVIS (Washington) und BEATRICE KITZINGER (Princeton) der Wandalgarius-Handschrift von 793 (Sankt Gallen, Stiftsbibliothek, 731), die Bild und Text integriert. Bei dem Text der Handschrift handelt es sich um eine Version der Lex Romana Visigothorum, die der Schreiber mit einem Fokus auf die für seine Zeit noch relevanten Teile der Lex zusammenkürzte. Durch die Kombination von Recht und Bild adaptierte er ein römisches Recht der Vergangenheit in einem Kompendium mit gegenwärtigerem Ansatz. Dabei sei der Schreiber wohl wählerisch, nicht jedoch systematisch vorgegangen, da sich weder im Text noch in der Bildsprache ein konsistentes Muster fände, so Davis und Kitzinger. Dem entspräche auch die Idee der beiden Vortragenden, dass es verschiedene Vorlagen für die Handschrift gegeben haben könnte. Die Gestaltung der Handschrift spiele mit der Hervorhebung von Namen sowie der Verwendung von Figuren und Tieren. Besonders hoben Davis und Kitzinger eine zweifach auftretende Figur hervor, die in römischer Pose steht, aber nicht-römische Kleidung trägt und beim zweiten Auftauchen eine Münze mit Monogramm in der Hand hält – ein Zeichen herrscherlicher Präsenz. Dies habe verdeutlichen sollen: Das Werk werde zwar mit einem Herrscher assoziiert, nicht jedoch mit einem bestimmten. Zudem zeige sich die Allianz von Recht und siegreichen Menschen, was auf eine nördlichere, nicht-römische Idee von Autorität verweise. Insgesamt werde ersichtlich, wie Bilder die Argumente des Schreibers untermalten, zugleich aber mit Erwartungen spielten – gewissermaßen ein „mix and match of time and authority“ – sodass die gemeinsame Analyse von Bild und Text für das Verständnis der Handschrift unabdingbar sei.
Auch GRIGORII BORISOV (Köln) befasste sich mit dem Codex von Wandalgarius, allerdings aus einer paläografischen Perspektive. Borisov argumentierte dafür, dass Wandalgarius ein burgundischer Adeliger mit römischen Vorfahren gewesen sei, was durch sein Rechtswissen und besonders deutlich an seinem aufwändigen Subskriptionszeichen ersichtlich sei. Außerdem sei eine Präzisierung der Lokalisierung notwendig, anstelle der bisherigen Verortung im Raum zwischen Besançon und St. Maurice sei die Handschrift zwischen St. Claude und St. Maurice entstanden, was unter anderem daran erkennbar sei, dass ein Fragment aus St. Claude dem Schriftbild von Wandalgarius sehr stark ähnele. Borisov ging davon aus, dass der Codex der Repräsentation diente, was an der Illustration des im selben Jahr erstmals überlieferten königlichen Monogramms in der auch von Kitzinger und Davis beschriebenen Münze sichtbar sei. Die im Kolophon der Handschrift angegebene, sehr kurze Entstehungszeit vom 30. Oktober bis zum 1. November desselben Jahres hielt Borisov für möglich, da die durchschnittliche Dauer zum Verfassen einer Seite bei 32,5 Minuten liege. Hierfür zog er die Rekonstruktion des Kalligraphen Timothy O’Neill heran, der für ein im Durchschnitt pro Seite fünf Zeilen kürzeres Werk 30 Minuten pro Seite benötigte.
KARL UBL (Köln) fasste die Ergebnisse der Tagung einordnend zusammen. So spiegele jede Handschrift zeitgenössische Interessen wider, die Verbindung zwischen Bild und Text spiele eine zunehmend gewichtigere Rolle, wohingegen die Trennung zwischen kirchlichem und weltlichem Recht vermehrt hinfällig werde. Allen Vorträgen gemein sei der Fokus auf einer Handschrift, wobei die Kontextualisierung von und die Verbindungen zwischen den Handschriften von großer Relevanz sei. Dafür brauche es, so postulierte Ubl, vermehrt kritische Editionen, welche die Vielfalt und Varianz sowie die Abhängigkeiten der Handschriften abbilden, um zu verstehen, wie einzelne Texte im Frankenreich verbreitet wurden.
Konferenzübersicht
Stefan Esders (Berlin): Introduction. Towards a Typology of Early Medieval Law Manuscripts
Session 1: The Usefulness of Ancient Texts
François Bougard (Paris): Isidore of Seville: the Toolbox of Early Medieval Legal Manuscripts
Luca Loschiavo (Teramo): The Medieval Life of the Collatio legum Mosaicarum et Romanarum. Around the Possible (and Targeted) Sending of Roman Law Texts from Rome towards the Frankish Kingdom
Session 2: Legal Pluralism
Shigeto Kikuchi (Tokio): King, Law, and Ordeal: Paris, BnF, Ms. Lat. 4628 as a Lawbook
Helmut Reimitz (Princeton): Patterns of Legal Pluralism: Histories of Law in Paris, BnF, Lat. 10758
Session 3: Canon Law Manuscripts
Rosamond McKitterick (Cambridge): Einsiedeln Stiftsbibliothek MS 191 and its Implications
Till Stüber (Berlin): From Carthage to Bavaria. Observations on the Canonical Mss. of Freising (Munich, Clm 6243) and Würzburg (M. p. th. f. 146)
Session 4: Exceptional Compilations
Osamu Kano (Nagoya): Tours or the Royal Court? On the Origin of the Manuscript Paris, BnF, Lat. 2718
Britta Mischke (Köln): Lupus’ Liber legum in the Mainz Legal Compendium Gotha Memb. I. 84
Session 5: A Case Study from Different Angles: St. Gall 731
Beatrice Kitzinger (Princeton) / Jennifer Davis (Washington): Integrating Text and Image: A Case Study of the Wandalgarius Codex
Grigorii Borisov (Köln): Revisiting the Law Book of Uuandalgarius: A Paleographer’s Point of View
Karl Ubl (Köln): Conclusion and Final Discussion