Das Robert Koch-Institut im Nationalsozialismus. Eine wissenschaftshistorische Bestandsaufnahme

Das Robert Koch-Institut im Nationalsozialismus. Eine wissenschaftshistorische Bestandsaufnahme

Organisatoren
Marion Hulverscheidt; Anja Laukötter; Annette Hinz-Wessels; Robert-Koch-Institut; Berliner Institut für Geschichte der Medizin (Charité Berlin)
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.01.2007 - 20.01.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Christoph Kopke, Moses Mendelssohn Zentrum fuer europäisch-jüdische Studien - Universität Potsdam; Florian Schmaltz, Historisches Seminar der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main

Am 19. und 20. Januar 2007 fand im Berliner Robert Koch-Institut der Workshop „Das Robert Koch-Institut im Nationalsozialismus“ statt. Der Workshop war Teil des seit Mai 2006 laufenden gleichnamigen zweijährigen Forschungsprojektes, das am Berliner Institut für Geschichte der Medizin (Charité Berlin) unter der Leitung von Professor Dr. Volker Hess angesiedelt ist. Der Workshop wurde von den Mitarbeiterinnen des Projekts - Dr. Marion Hulverscheidt, Dr. Anja Laukötter und Dr. Annette Hinz-Wessels – organisiert.

Das vom Robert Koch-Institut (RKI) initiierte und finanzierte Projekt beabsichtigt, „das wissenschaftliche, politische und wissenschaftspolitische Handeln“ des Robert Koch-Instituts während des Nationalsozialismus „so vollständig wie möglich, rückhaltlos und ohne institutionelle Befangenheit“ zu erforschen. Dazu wurde unter Leitung von Volker Hess und Prof. Dr. Rüdiger vom Bruch (Humboldt Universität Berlin) eine „Historische Kommission zur Aufarbeitung der Geschichte des Robert Koch-Instituts im Nationalsozialismus“ eingerichtet, die das Projekt als beratender Beirat begleiten soll. Mit Prof. Christian Bonah (Strasbourg), Prof. Dr. Peter Kröner (Münster), Prof. Dr. Christoph Gradmann (Oslo), Dr. Andrew Mendelsohn (London), Prof. Dr. Carola Sachse (Wien), und Prof. Dr. Paul Weindling (Oxford) sind weitere international renommierte Wissenschafts- und Medizinhistoriker im Beirat vertreten. Der Kommission gehörte auch der im vergangenen Jahr verstorbene Berliner Medizinhistoriker Prof. Dr. Dr. Rolf Winau an.

Nach der Begrüßung durch Volker Hess und einem Grußwort des RKI-Präsidenten Reinhard Kurth, der seinen persönlichen Zugang zum Thema erläuterte und das Interesse seiner Institution an einer rückhaltlosen Aufklärung auch möglicher Verstrickungen in NS-Medizinverbrechen und die völlige Unabhängigkeit des Projektes betonte, stellten Christoph Gradmann und Volker Hess die Entstehungsgeschichte des Projektes vor. Die Tagung gliederte sich in vier Sektionen mit jeweils drei Referaten und einem Kommentar.

Die erste Sektion eröffnete Axel Hüntelmann (Berlin). Er beleuchtete die „interpersonellen und interinstitutionellen Verbindungen“ zwischen dem RKI-Vorläufer „Institut für Infektionskrankheiten“ und dem Reichsgesundheitsamt vor 1935, die er unter Anwendung des foucaultschen Konzeptes der „Biopolitik“ als Teil eines „biopolitischen Netzwerkes“ identifizierte. Dieses umfasste unter anderem mit dem preußischen Institut für experimentelle Therapie, der Kaiser-Wilhelm-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen oder den zahlreichen staatlichen Hygiene-Instituten noch weitere Institutionen. „Die Biopolitik umfasst alle die Optimierung und Verbesserung des Lebens einer Bevölkerung betreffenden und beeinflussenden Prozesse und indirekten Techniken des Regierens: die Beeinflussung der Fruchtbarkeit und der Reproduktion einer Bevölkerung, Angelegenheiten der Hygiene, des Alterns, der Gesundheit und die Verhinderung von Krankheit sowie die Stärkung des individuellen und des Gesellschaftskörpers,“ fasste Hüntelmann die gemeinsame Aufgabenstellung all dieser Einrichtungen zusammen. Hüntelmann zeigte auf, wie eng die inhaltlichen Verbindungen und gerade der personelle Austausch – über einzelne Karrierewege veranschaulicht – zwischen den einzelnen Institutionen bestanden haben.

Hüntelmann verdeutlichte, wie das Reichsgesundheitsamt (RGA) und das Institut für Infektionskrankheiten beide „integrativer Bestandteil einer Biomacht“ waren, wobei das RGA „nahezu alle Bereiche der öffentlichen Gesundheitspflege abdeckte“, während der Schwerpunkt des Instituts für Infektionskrankheiten auf der Seuchenbekämpfung und -prävention lag. Trotz einer gewissen Arbeitsteilung zwischen dem RGA, das eher den Bereich „gesundheitliche Volksaufklärung“ betrieb, während das Institut für Infektionskrankheiten sich stärker der hygienischen Grundlagenforschung widmete, gelte für die Experten beider Institutionen, dass sie aufgrund ihres Einflusses auf die Gesundheitspolitik als Teil einer „indirekten Regierung“ aufzufassen seien.
Abschließend widmete sich Hüntelmann der 1935 erfolgten organisatorischen Fusion der vorgestellten Institute durch die Unterstellung des preußischen Instituts für Infektionskrankheiten – nunmehr Robert-Koch-Institut – unter das Dach des RGA.

Dies geschah einerseits im Rahmen der Verreichlichung Preußens im Nationalsozialismus, wobei auf entsprechende Planungen aus der Weimarer Republik zurückgegriffen wurde, und war andererseits Teil der nationalsozialistischen Umstrukturierung und Vereinheitlichung des Gesundheitswesens.

Der Wiener Medizinhistoriker Michael Hubenstorf widmete sich in seinem Vortrag der Personalpolitik und den personellen Veränderungen am RKI nach 1933. Hubenstorf wandte sich zunächst der Geschichte der Bakteriologie in der Zwischenkriegszeit zu, die er als weitgehend „dunkle Periode“ charakterisierte. Feierte die Bakteriologie mit der Entdeckung verschiedener Erreger im 19. Jahrhundert und wiederum seit Mitte des 20. Jahrhunderts durch erfolgreiche Antibiotika, der Virologie und der Bakteriengenetik zahlreiche Erfolge, so „stieß […] das Thema der (meist antisemitisch motivierten) Vertreibung aus der deutschen Bakteriologie auf kein gesteigertes Interesse“, so dass die „apologetische Geschichtsschreibung“ des RKI „umstandslos geglaubt und weiter tradiert“ wurde.

Hubenstorf veranschaulichte, wie groß der personelle Austausch nach 1933 war. 18 von 28 wissenschaftlichen Mitarbeitern wurden entlassen oder gingen in den Ruhestand, davon galten immerhin 12 nach NS-Definition als „jüdisch“. Der personelle Wechsel ging mit dem Abbruch bestimmter Forschungsprojekte einher, ein inhaltlicher Bruch, der „bis heute in den Selbstdarstellungen des RKI nicht adäquat reflektiert“ werde. Viele der Entlassenen emigrierten in der Folgezeit, wo sie in unterschiedlichsten Formen im Gesundheitswesen wirkten oder wissenschaftlich weiter arbeiten konnten. Die meisten jüdischen Wissenschaftler waren erst nach 1919 an das Institut gekommen. Die im Vergleich zu ähnlichen Institutionen ungewöhnliche Personalpolitik sei Ausdruck der inneren Liberalität des Hauses gewesen, die der von 1919 bis 1933 wirkende Institutsdirektor Ferdinand Neufeld entscheidend geprägt habe. Neufeld war als Mennonit selbst Angehöriger einer religiös-gesellschaftlichen Minderheit, die sich traditionell nicht an Politik beteiligt und als pazifistisch gilt. Mit Walter Levinthal war gar ein führender Repräsentant des politischen Pazifismus der Weimarer Republik wissenschaftlicher Assistent am Institut. Eine personelle Besetzung, die an staatlichen preußischen Einrichtungen vergleichbarer Art mindestens unüblich war.

Auch Annette Hinz-Wessels (Berlin) widmete sich im letzten Vortrag der ersten Sektion dem personellen Austausch und dem damit verbundenen organisatorischen Umbau am RKI nach 1933. Zwischen 1933 und 1937 ist für das Robert Koch-Institut eine fast vollständige Neubesetzung der Führungsebene (Direktor und Abteilungsleiter) zu verzeichnen.

Hinz-Wessels hielt es für „voreilig, von einem planmäßigen Umbau des Instituts im Zuge der nationalsozialistischen Machtübernahme zu sprechen oder, wie Michael Hubenstorf, von einer Entmachtung der zwischen 1905 und 1925 ernannten Gruppe der Abteilungsleiter mit Hilfe von Pensionierungen und Versetzungen“. Einzelne Pensionierungen seien tatsächlich regulär aus Altersgründen erfolgt, andere Personalentscheidungen hätten aus fachlichen Gründen schon länger im Raum gestanden. Sie wollte vielmehr zunächst der Frage nachgehen, „inwieweit der Personalaustausch auf nationalsozialistischer Einflussnahme beruhte, bzw. welche eigenständige Personalpolitik das Robert Koch-Institut im Hinblick auf sein Führungspersonal betrieb.“ Hinz-Wessels nahm die personellen Neubesetzungen zunächst im Zusammenhang mit der Unterstellung des Instituts unter das RGA in den Blick. Bei den Neubesetzungen der Abteilungsleiterposten wären die Entscheidungen für die jeweiligen Bewerber „vorrangig aufgrund der wissenschaftlichen Qualifikation der Bewerber“ gefallen, wobei diese zusätzlich eine gefestigte nationalsozialistische Einstellung vorzuweisen hatten.

Die zweite Sektion eröffnete Anne Cottebrune (Heidelberg) mit ihrem Vortrag über „Blutgruppen und Rassendifferenzierung. Serologische Untersuchungen im Umfeld des RKI“. Ihre Forschungsarbeit basiert wesentlich auf der Auswertung der entsprechenden Förderakten der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG). Cottebrune zeigte zunächst den wissenschaftshistorischen Hintergrund und die Relevanz der Blutgruppenforschung seit Beginn des 20. Jahrhunderts auf. So war der Versuch, mittels der Blutgruppendiagnostik Rückschlüsse auf die „Rassezugehörigkeit“ bzw. auf bestimmte anthropologische Merkmale schließen zu können, schon Ende der 1920er-Jahre gescheitert. Cottebrune führte hier den Mitarbeiter des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, Max Berliner an, der 1928 betonte, dass „niemals die Zugehörigkeit eines Individuums zu irgendeiner Bevölkerung durch den Blutgruppennachweis bestimmt werden kann“. Dennoch wurden entsprechende Untersuchungen in der NS-Zeit wieder aufgenommen. Methodisch nutzte man die Präzipetinreaktion. Mit dieser in der Impfforschung erkannten spezifischen Antigen-Antikörperreaktion hatten Zoologen und Anthropologen zuvor bereits Untersuchungen u.a. über die Verwandtschaft von Menschenaffen und Menschen durchgeführt, diese Methode also zur Bestätigung der Abstammungslehre benutzt. Im Fokus ihres Vortrages standen dann die entsprechenden Untersuchungen Werner Fischers. Fischer, zunächst als Abteilungsleiter am Institut für experimentelle Krebsforschung in Heidelberg tätig, wechselte 1938 nach Berlin, wo er die Leitung der serologischen Abteilung am Robert-Koch-Institut in Berlin übernahm. Offenbar auf Anregung seines vormaligen Heidelberger Vorgesetzten, dem Tropen- und Rassenhygieniker Ernst Rodenwaldt, befasste sich Fischer mit der „Frage des Nachweises einer serologischen Differenzierung der menschlichen Rassen“. Fischer, der seine Forschungen u.a. an „Zigeunern“ im KZ Sachsenhausen ausführte, inspirierte weitere Forscher, wie Karl G. Horneck, Assistent am rassenbiologischen Institut der Universität Königsberg. Horneck führte Menschenversuche an schwarzen Kriegsgefangenen durch, da er „Rasseunterschiede“ zwischen Weißen und Schwarzen serologisch beweisen wollte. In denselben Kontext gehören entsprechende Untersuchungen Ottmar von Verschuers, der an Blutseren forschte, die ihm sein Assistent Josef Mengele aus dem KZ Auschwitz zukommen ließ. Zusammenfassend bilanzierte Cottebrune: „Obwohl Immunisierungsversuche zum Zweck des Nachweises einer serologischen Rassendifferenzierung im Nationalsozialismus vereinzelt blieben, können sie keineswegs als ein Randphänomen betrachtet werden. Diese Immunisierungsversuche waren das Produkt einer längeren Auseinandersetzung mit dem Ideal einer serologischen Rassendifferenzierung, welches bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts die serologisch-bakteriologische Fachgemeinschaft zu mobilisieren begonnen hatte. Vor allem bekräftigen sie erneut die These der Überschreitung ethischer Grenzen durch leitende Wissenschaftler aus Eliteforschungsinstitutionen und ihren Beitrag an verbrecherischer Forschung.“ Die Unterlagen über Fischers Untersuchungen oder Hornecks Forschungen und ihre entsprechende Korrespondenz, so Cottebrune abschließend, fehlen allerdings im Archiv des RKI. Überliefert geblieben sind nur „unbedenkliche Unterlagen zu den Forschungen Fischers zur Vererbungsweise der Blutgruppen beim Kaninchen.“

Die Praxis verbrecherischer Menschenversuche stand auch im Mittelpunkt des Beitrages von Marion Hulverscheidt (Berlin/Heidelberg). Hulverscheidt schilderte „die Beteiligung von Mitarbeitern des RKI an Menschenversuchen auf dem Gebiet der Tropenmedizin“. Im Zentrum ihres Vortrages standen die beiden bekannten „Protagonisten der Schlafkrankheitsforschung und der Malariaforschung“ Claus Schilling und Gerhard Rose. Schilling war von 1905 bis 1936 Leiter der Tropenmedizinischen Abteilung des RKI, Rose sein Nachfolger.

Obgleich Menschenversuche bereits lange immanenter Teil der Geschichte der Tropenmedizin waren, stelle sich die Frage, so Hulverscheidt, warum die beiden Wissenschaftler sich zu einem bestimmten Zeitpunkt dazu entschieden, in Konzentrationslagern an Menschen zu experimentieren. Ausgangspunkt war die in Heil- und Pflegeanstalten zeitweise genutzte sog. „Malariatherapie“, mit der unheilbar kranke Syphilitiker im Zustand der progressiven Paralyse therapiert wurden. Die Malariatherapie erfreute sich eines mehrfachen Interesses: „Die Anstaltspsychiatrie hatte mit der Malariatherapie der progressiven Paralyse endlich eine Heilmethode für die bis dahin so aussichtslos dahinsiechenden und Betten belegenden Paralytiker an der Hand. Und die deutschen Tropenmediziner, durch die Versailler Verträge und den darin festgeschriebenen Verlust der Kolonien, konnten die Malariakur-Patienten als Probanden für ihre Malariaforschung nutzen,“ so Hulverscheidt.

Auch Schilling forschte zunächst an Anstaltsinsassen, seit 1938 auch in italienischen Heil- und Pflegeanstalten. Tierversuche lehnte Schilling ab. Seit 1942 forschte der über Siebzigjährige im KZ Dachau. Hulverscheidt macht ein ganzes Bündel von Ursachen dafür aus: „Schilling benötigte nicht nur Menschen, menschliche Körper, er benötigte auskunftsfähige Menschen, die imstande waren, über ihre Krankengeschichte Auskunft zu geben, die sich selbst bewußt waren. […] Die Kriegssituation führte dazu, dass den Menschenexperimenten in der Wissenschaft hohe Priorität eingeräumt wurde, weil sich von Forschungen im Stadium des Menschenexperiments […] ein schnellerer Gewinn, ein besserer Fortschritt für die aktuellen medizinischen und wissenschaftlichen Probleme versprochen wurde. Die SS stellte mit den Insassen von Konzentrationslagern Menschenmaterial zur Verfügung, um Forschungsfragen mithilfe des Menschenversuchs zu beantworten.“ Für seine Versuche wurde Schilling nach Kriegsende in Dachau verurteilt und hingerichtet.

Gerhard Rose forschte mit dem gefährlichen Erreger Malaria tropica u.a. an Kriegsgefangenen. Er infizierte Insassen von Heil- und Pflegeanstalten mit der Malaria tropica, um die Wirksamkeit neuer Antimalariamitteln auszutesten, aber auch um den von ihm gezüchteten Erregerstamm am Leben zu erhalten. Für diese Versuche wurde der Wissenschaftler, der in Nürnberg vor Gericht stand, beim Ärzteprozess nicht angeklagt.

Die dritte Sektion eröffnete Thomas Werther (Marburg) mit einem Vortrag unter dem Titel: „Fleckfieberforschung. Verbindungen zwischen IG Farben und RKI“. In seinem zusammenfassenden Überblick schilderte Werther Organisation und Praxis der wichtigsten Institutionen, die während des Zweiten Weltkrieges Impfstoffe gegen Fleckfieber entwickelten und produzierten, darunter das RKI in Berlin, das Institut für Experimentelle Therapie in Frankfurt am Main und das Institut für Tropenmedizin in Hamburg. Später kamen im besetzten Polen das Institut für Fleckfieberforschung des Oberkommandos des Heeres (OKH) in Krakau und das Staatliche Hygiene-Institut in Warschau hinzu. Neben diesen staatlichen Einrichtungen existierte mit der IG Farbenindustrie ein großindustrieller Massenproduzent.

Weder über die Höhe der Dosierung noch über die Verträglichkeit und noch weniger über die Wirksamkeit der nach unterschiedlichen Verfahren hergestellten Impfstoffe existierten gesicherte Erkenntnisse. Immer wieder wurde die fehlende Erprobung am Menschen beklagt.

In den besetzten Ostgebieten wurde die Seuchenpolitik Teil der Okkupationspolitik. Fleckfieberepidemien in Folge der besatzungspolitischen Maßnahmen wurden in den Ghettos, Kriegsgefangenenlagern und Konzentrationslagern „mit der Vernichtung der Infizierten“ bekämpft. Zugleich wurde die Fleckfieberforschung zum Schutz der deutschen Soldaten, „Volksdeutschen“, Umsiedler und Mitarbeiter der Besatzungsbehörden intensiviert. Nach Werther instrumentalisierten Politik, Militär, Wissenschaft und IG Farben seit Ende 1941 den SS-Apparat, „um die Voraussetzungen in den Konzentrationslagern für vergleichende Menschenversuche zu schaffen“, die kurz darauf im Konzentrationslager Buchenwald begannen. Im Mai 1942 werteten Mitarbeiter der Marburger IG-Behring-Werke die Ergebnisse der Buchenwalder Versuche aus. Auch vom RKI gelieferte Impfstoffe wurden, im Rahmen der menschenverachtenden, verbrecherischen Versuche in Buchenwald getestet.

Anschließend wandte sich Thomas Beddies (Berlin) den Bestrebungen zur „Einführung einer obligatorischen Tuberkuloseschutzimpfung im Dritten Reich“ zu. Nach der Entdeckung des Erregers der Tuberkulose durch Robert Koch im Jahre 1882 konzentrierte sich die Forschung darauf, der Ausbreitung der Krankheit durch Immunisierung zu begegnen. Trotz der bekannten Probleme mit Lebendimpfstoffen blieb die Forschung auch nach 1933 auf die Entwicklung abgeschwächter Lebendimpfstoffe fokussiert. Die in Frankreich von Calmette und Guérin entwickelte „BCG“-Impfung stieß in Deutschland überwiegend auf Ablehnung und konnte sich nicht auf breiter Basis durchsetzen. Aufgrund der Erwartung, TBC würde unter den Kriegsbedingungen verstärkt auftreten, wurde die Suche nach Impfstoffen intensiviert. „Reichsgesundheitsführer” Leonardo Conti interessierte sich für den „Durchseuchungsgrad” der Bevölkerung. In der Forschungsdiskussion wurden neben der Wirksamkeit und den Risiken der BCG-Impfung inkl. deren Alternativen auch die Frage von Reihenuntersuchungen und die Erfassung von Bevölkerungsgruppen mit erhöhtem Infektionsrisiko erörtert. Das RKI war in der erstmals im September 1942 einberufenen Sitzung der Arbeitsgruppe Impfung des Reichs-Tuberkuloseausschusses durch Lothar Lange vertreten, der für eine Schutzimpfung noch nicht infizierter Personen plädierte. Wie Beddies ausführte, waren auch Wissenschaftler das RKI über die teilweise tödlich verlaufenden Humanexperimente zur Erprobung der BCG und anderer Impfungen an Kindern und Säuglingen in Wien, Berlin und Kaufbeuren informiert und schufen im Rahmen der Impfstoffbeschaffung und -kontrolle Voraussetzungen zu deren Durchführung. Der erst im Januar 1945 veröffentlichte Runderlass zur Tuberkulose-Schutzimpfung, der deren freiwillige Anwendung bei bestimmten Personengruppen erlaubte, dürfte in der Endphase des Krieges keine durchschlagende Wirkung mehr entfaltet haben.

Das Referat von Alexander Neumann (Freiburg i.Br.) über “Das RKI und die Militärärztliche Akademie” musste krankheitsbedingt in absentia vorgetragen werden. Anhand epidemiologischer Daten zeigte Neumann, dass die Fleckfieberbekämpfung im Zweiten Weltkrieg erst nach dem Überfall auf die UdSSR zu einem gravierenden Problem wurde. Verzeichnete die Heeressanitätsstatisitik 1939 nur einen Fall, und im darauffolgenden Jahr 31 Fälle, so stieg die Zahl der an Fleckfieber erkrankten Wehrmachtssoldaten 1941 schlagartig auf 30.000-45.000 Fälle an, wobei eine Letalität zwischen 13-16,5 Prozent zu verzeichnen war. Die Sondergruppe für Seuchenbekämpfung wechselte daraufhin 1941 von der Ruhr- zur Fleckfieberforschung über. Anschließend gab Neumann einen Überblick über die zivilen und militärischen wissenschaftlichen Zentren und Produktionsstätten auf dem Gebiet der Fleckfieberforschung. Die Produktion von Fleckfieberseren für die Wehrmacht übernahm das bereits im Oktober 1939 in Krakau eingerichtete Institut für Fleckfieber- und Virusforschung des OKH unter der Leitung von Hermann Eyer. Den zivilen Bedarf sollten das Staatliche Institut für experimentelle Therapie in Frankfurt am Main und das RKI in Berlin sowie das Staatliche Institut für Hygiene in Warschau decken. Weiter umstritten blieb jedoch, welcher Wirkstoff und welche Herstellungsmethode (Impfstoff aus Läusedärmen nach Weigl; Impfstoff aus Eidottern oder Kaninchenlungen) am verträglichsten und effektivsten seien, wie Neumann an Hand der offenen fachlichen Diskussion im Rahmen des intensiven Tagungswesens während des Zweiten Weltkrieges aufzeigte. Er bestätigte damit auch den Befund Werthers. Trotz mehr oder weniger offen ausgetragener Konkurrenzkämpfe zwischen der Wehrmacht, den Behringwerken und der SS, die allein ein exklusives Zugriffsrecht auf Häftlinge als Versuchspersonen besaß, konstatierte Neumann jedoch einen regen wissenschaftlichen Informationsaustausch und eine enge Kooperation zwischen zivilen und militärischen Dienststellen. Trotz seiner zweifellos “wichtigen Rolle als wissenschaftliche Autorität” sei die “praktische Bedeutung” des RKI, laut Neumann, jedoch “schwer einzuschätzen”.

Sabine Schleiermacher (Berlin) zeigte in ihrem Vortrag “Heinz Zeiss’ Verbindungen zum RKI”, dass die Seuchenbekämpfung und Seuchenmedizin theoretische Grundlagen zur Legitimation der nationalsozialistischen Umsiedlungs- und Vernichtungspolitik in den besetzten Ostgebieten lieferten. Dazu skizzierte sie die Biographie und akademische Luftbahn von Zeiss, der nach seinem Medizinstudium zunächst am Institut für Tropenmedizin in Hamburg als Assistent arbeitete. In den 1920er-Jahren war Zeiss am Aufbau des Bakteriologischen Zentral-Laboratoriums in Moskau und an der Entwicklung der Gesundheitsstatistik, in der Impfproduktion und an Impfkampagnen in Russland beteiligt. Zugleich war Zeiss im kulturpolitischen Auftrag des Auswärtigen Amtes in Russland tätig. Nach Spionagevorwürfen musste er Russland 1932 verlassen und wurde mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes zum Regierungsrat des Reichsgesundheitsamtes ernannt. Zeiss trat bereits im Dezember 1931 der NSDAP bei und pflegte enge Kontakte zur Heeressanitätsinspektion. 1937 erhielt er eine Professur und wurde Leiter des Instituts für Hygiene der Berliner Universität. In der Geomedizin sah Zeiss eine interdisziplinäre Verbindung von Bevölkerungswissenschaft und Medizin, die Faktoren wie Wetter, Boden, Klima und das Auftreten von Infektionskrankheiten miteinander korrelierte und kartographisch veranschaulichte. Als ideologischer Eckpfeiler sollte die Geomedizin dem imperialistischen Expansionsprogramm des NS-Regimes eine naturwissenschaftliche Grundlage für Geopolitik liefern und den Aufbau deutscher Siedlungsprojekte im Osten durch die Abwehr von Seuchengefahr unterstützen. Die in der Weimarer Republik noch nicht ausformulierte Konzeption der Geomedizin erhielt im Nationalsozialismus in der engen Verbindung von Forschung und Politik eine neue Qualität. Von der Heeressanitätsinspektion wurde Zeiss 1942 beauftragt, einen Seuchenatlas, in dem das Expansions- und Kriegsgebiet im Osten geomedizinisch skizziert wurde, herauszugeben. Aufgrund ihrer Archivstudien kam Schleiermacher zu dem Schluss, dass bemerkenswerter Weise zwischen dem RKI und Zeiss keine Beziehung bestand. Abgesehen von einigen Korrespondenzen mit dem Leiter des RKI, Eugen Gildenmeister, agierte Zeiss vorwiegend in Gegnerschaft zum RKI. So wies Schleiermacher auf gutachterliche Äußerungen von Zeiss gegen die Berufung des RKI-Mitarbeiters Max Gundel zum a.o. Professor am Berliner Institut für Hygiene hin. In einem aggressiv antisemitischen Gutachten vertrat Zeiss die Auffassung, die Bakteriologie sei in eine Sackgasse geraten und Gunde betriebe „jüdisch-talmudische“ Bakteriologie.

Paul Weindling (Oxford) verglich in seinem Vortrag über “Fleckfieberforschung am RKI im Spannungsfeld medizinischer und militärischer Forschungsinteressen” die Lebensläufe des Präsidenten des RKI, Eugen Gildenmeister und seines Stellvertreters Gerhard Rose. Weindling unterstrich, dass beide trotz ideologischer Affinitäten auf sehr unterschiedliche Weise in der Fleckfieberforschung tätig waren und an einer Reihe von wissenschaftlichen Arbeitstagungen zur Fleckfieberbekämpfung in den Jahren 1940-1944 teilnahmen. Während Gildenmeister sich auf die Entwicklung und Produktion von Fleckfieberseren konzentrierte, war Rose bemerkenswerter Weise am Einsatz von DDT zur Bekämpfung der die Infektion übertragenden Läuse orientiert. Gemeinsam mit dem Leiter des SS-Hygiene-Instituts der Waffen-SS, Joachim Mrugowsky, unterhielt Rose seit 1942 Kontakte zu dem Schweizer Chemieunternehmen Geigy, das DDT produzierte. Nach Einschätzung von Weindling müsse die historische Forschung zur Geschichte der Fleckfieberbekämpfung im Zweiten Weltkrieg noch genauer die Impfstoffproduktion untersuchen. Ferner regte Weindling an, aufgrund der im Nürnberger Ärzteprozess erhobenen Fälschungsvorwürfe gegen das in Nürnberg als Beweisdokument eingeführte Tagebuch des Buchenwalder KZ-Arztes Ding-Schuler, diese Quelle genauer zu prüfen.

Die einzelnen Tagungsblöcke wurden durch die Kommentare von Johannes Vossen, Hans Walter Schmuhl und Jean-Paul Gaudillière zusammengefasst und mit Bezug auf offene Forschungsfragen und weitere Perspektiven sinnvoll kommentiert.

In ihrem Resümée der Tagung ging Carola Sachse (Wien) auf drei Punkte ein, die ihrer Einschätzung nach für die weitere Arbeit des Forschungsprojekts von herausragender Bedeutung seien: 1. Die Problematik der institutionsgeschichtlichen Entwicklung und Personalpolitik des RKI, 2. Teilnahme von Wissenschaftlern des RKI an verbrecherischen Menschenversuchen im NS-Regime und 3. Eine Bestimmung wesentlicher Desiderate der Forschung. Als Resultat der in der ersten Sektion diskutierten Frage, ob das RKI als Institution oder Organisation aufzufassen sei, hielt Sachse fest, dass sich institutionsgeschichtlich drei Phasen des RKI erkennen ließen: Erstens eine Gründungsphase, die bis über den Ersten Weltkrieg hinausreichte und durch relativ homogene wissenschaftliche Karrieremuster von Bakteriologen gekennzeichnet sei, das als Institution und zur Netzwerkbildung in ihrer wissenschaftlichen Laufbahn relevant war. Zugleich sei diese Gründung auch als das “heroische Zeitalter der Bakteriologie” und Robert Kochs interpretierbar, in der sich das RKI und die Disziplin der Bakteriologie etablierten. Hieran schloss sich in den 1920er-Jahren eine zweite Periode an, die Hubenstorf als liberale Phase beschrieben hat. Diese sei durch eine Öffnung des RKI für jüdische Nachwuchswissenschaftler geprägt gewesen, wobei jedoch einschränkend festgestellt werden müsse, dass für Frauen als Wissenschaftlerinnen nur geringe Chancen bestanden, im RKI Karriere zu machen. Mit der Etablierung des NS-Regimes habe dann eine dritte Periode begonnen, die einerseits durch die Herausdrängung der jüdischen Wissenschaftler aus dem RKI gekennzeichnet sei. Andererseits sei es im Hinblick auf die Leitungsfunktionen bei den nicht-jüdischen Wissenschaftlern eher zu einem kontingenten Personalwechsel gekommen, der aus der Besetzung von Schlüsselfunktionen durch vier Vertreter der sogenannten Kriegsjugendgeneration resultierte. Die weitere historische Forschung, so Sachse, müsse nun klären, welche Bedeutung diese Veränderungen für das RKI hatten. Hierbei unterschied sie zwischen der inneren und äußeren institutionellen Entwicklung des RKI. Hinsichtlich der inneren Entwicklung sei zu untersuchen, ob der Personalwechsel zu einer Veränderung der Forschungsfelder oder gar zu Paradigmenwechseln führte und inwiefern sich diese ggf. den genannten drei Perioden zuordnen ließen. In diesem Zusammenhang sei zu untersuchen, ob sich ein Bedeutungsverlust oder -gewinn einzelner Abteilungen des RKI in Zuge dieser Veränderungen feststellen ließe. Über eine detaillierte Untersuchung der Innenansichten des RKI könne ferner ein Zugang zu der Frage liegen, was das RKI als Institution ausgezeichnet habe. Sachse warf die Frage auf, ob sich eine Änderung der wissenschaftlichen Arbeitspraktiken und -organisation (Hierarchien, Teamstrukturen) auch im Hinblick auf die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung im RKI in den verschiedenen Perioden beobachten ließe.

Mit Blick auf die Außenverankerung des RKI als Institution forderte Sachse, genauer zu analysieren, welche Kooperationen und Konkurrenzen im nationalen und internationalen Kontext für das RKI bestimmend gewesen seien. Eine wichtige Frage sei ferner, ob der militärische Entstehungskontext des RKI strukturell zu einer dauerhaften Einbindung in militärische Forschungskontexte geführt habe. Wie habe sich das RKI im lokalen Umfeld Berlins positioniert, um die sozialen, politischen und kulturellen Ressourcen als biopolitische Institution zu nutzen?

Hinsichtlich der Problematik verbrecherischer Menschenversuche von Wissenschaftlern des RKI wies Sachse zunächst darauf hin, dass in der Diskussion bislang vier Infektionskrankheiten (Fleckfieber, TBC, Pocken und Malaria) bekannt seien, bei denen die Humanversuche am RKI genauer zu untersuchen wären. Bei der Frage nach dem Weg von der Normalforschung zur Beteiligung an verbrecherischen Menschenversuchen sei deren Ermöglichung durch vier Faktorenbündel mitbestimmt:

1. Den Krieg, der die Forderung nach einer beschleunigten Ergebnisproduktion und eine Militarisierung der Forschungspraktiken in Gang setzte.

2. Diskursive Faktoren, wie den Wiederaufstieg des Rassenparadigmas (nach vorübergehender Zurückdrängung durch evolutionsbiologische Fragestellungen) in der Serologie. Ferner eine nachhaltige Veränderung des Menschenbildes, in dessen Verlauf sich die Orientierung auf die Gesundheit des Individuums zunehmend abwandte und auf den “Volkskörper” richtete. Diese Entwicklung sei mit der Umcodierung des Opferbegriffs verbunden gewesen. Dieser heroisierte den Wissenschaftler, der sein Leben und seinen Körper im Selbstversuch der Forschung zur Verfügung stellte, um „Volkskörper“, Krieg oder Volksgesundheit zu fördern.

3. Eine spezifische Konstellation verfügbarer Ressourcen unter den Kriegsbedingungen. Diese waren durch den Überfluss an finanziellen Forschungsmitteln, den Mangel an Versuchstieren und den ungehinderten Zugriff auf Menschen für Humanversuche durch den NS-Staat gekennzeichnet.

4. Eine Verschiebung der fluktuierenden Grenzen zwischen Wissenschaft und Politik innerhalb des Nationalsozialismus.

Sachse empfahl, die vier Forschungsfelder (Fleckfieber, TBC, Pocken und Malaria), bei denen RKI-Wissenschaftler in Humanversuche involviert waren, systematisch daraufhin zu untersuchen, welche Bedeutung hierbei die genannten Faktorenbündel spielten. Darauf aufbauend könnte dann in einem Vergleich herausgearbeitet werden, ob sich unterschiedliche oder typische Wege in die verbrecherischen Humanversuche feststellen ließen. Dadurch könne das Forschungsprojekt über die Geschichte des RKI einen Beitrag zum besseren Verständnis leisten, wie es zu verbrecherischen Menschenversuchen im Nationalsozialismus kam.

Abschließend warf Sachse die Fragen auf, inwiefern Wissenschaftler des RKI während des NS-Regimes Beiträge zur Geomedizin und Raumforschung lieferten und weshalb bestimmte Modernisierungstendenzen der Hygienebewegung in der Weimarer Republik und im Bereich der Geomedizin im RKI nicht aufgegriffen wurden. Dies seien Forschungsdesiderate, die es zu bearbeiten gelte. Auf internationaler Ebene wäre ein Vergleich der Forschungsinhalte und Arbeitspraktiken des RKI mit dem Institute Pasteur in Paris wünschenswert. Zuletzt appellierte Sachse noch an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Forschungsprojekts, den Blick auf die Opfer der Menschenversuche zu lenken. Ihre Wahrnehmung in der historischen Forschung und ihre Beschreibung (als Gruppen oder Individuen) und ihre namentliche Identifizierung seien von wesentlicher Bedeutung. Die Erinnerung an die Opfer gehöre zu einem verantwortlichen Umgang mit der Geschichte des RKI. Die noch zu leistende Forschung würde es dann ermöglichen, die Erinnerung an die Opfer in Form eines Gedenkbuches oder einer Gedenktafel wachzuhalten.

Vor allem die Menschenversuche standen im Zentrum der Abschlussdiskussion. Als Projektleiter sprach sich Volker Hess angesichts der zeitlich begrenzten Projektfinanzierung für zwei Jahre gegen eine einseitige Fokussierung auf die Menschenversuche aus, da er eine Beschreibung des RKI als Institution, die als Dienstleistungs- und als Servicebetrieb funktionierte, für notwendig halte. Er gab zu bedenken, dass die an Menschenversuchen beteiligten Abteilungen des RKI nun einen Teil der an dem Institut vorhandenen Abteilungen repräsentieren, es aber wichtig sei, das Gesamtinstitut nicht aus dem Auge zu verlieren.

Gegen eine solche Fokussierung, die die Humanversuche vernachlässige, wandten sich sowohl Carola Sachse als auch Peter Kröner. Angesichts der Tatsache, dass es sich bei dem RKI um ein relativ kleines Institut gehandelt habe, das trotzdem in starken Maße in Menschenversuche involviert war, müsse dies, nach Auffassung von Kröner, auch im Projekt als historischer Befund in angemessener Weise berücksichtigt werden.

Annette Hinz wies darauf hin, dass zahlreiche Abteilungsleiter in die Menschenversuche involviert gewesen seien und neben den vier genannten Infektionskrankheiten offenbar auch Versuche über die Pest in Dachau durchgeführt worden seien, die unbedingt einer genaueren Untersuchung bedürften.

Michael Hubenstorf verteidigte seine These vom liberalen Charakter des RKI während der Weimarer Republik, trotz des Einwandes der begrenzten Aufstiegschancen von Frauen, die vornehmlich in der Kinderheilkunde tätig gewesen seien. Die These würde auch dadurch gestützt, dass sich während der Weimarer Republik keinerlei militärische Prägung des Instituts feststellen lasse. Weiterer Untersuchung bedürfe die Frage, wie das Selbstverständnis der vertriebenen WissenschaftlerInnen im Exil als Community wirkte und inwiefern das RKI eine Vorbildfunktion für ausländische Institute besaß. Auch die Frage, wie sich die Beziehungen zu den Instituten in Kopenhagen, den USA, Großbritannien und Israel nach 1945 entwickelten, bedürfe weiterer Studien.

Paul Weindling regte an, sich mit den Biographien der zur Emigration gezwungenen Forscher des RKI zu beschäftigen, die von Hilfsorganisationen, wie der Society for the Protection of Science unterstützt wurden. Diese historische Frage habe angesichts der Problematik, wie Wissenschaftler, die heute Flüchtlinge sind, unterstützt werden, durchaus eine aktuelle Dimension. Die Untersuchung der Menschenversuche sei auch deswegen wichtig, weil sie eine kritische Perspektive erlaube. Weindling bezeichnete es als eine “Mindestanforderung”, den Versuch zu unternehmen, die Opfer der Menschenversuche namentlich zu identifizieren, was mithilfe der inzwischen existierenden Datenbanken, wie etwa bei der Stiftung Zukunft, Erinnerung und Verantwortung auch in vielen Fällen möglich sei.

Hans Walter Schmuhl plädierte auch aufgrund des öffentlichen Interesses an den Menschenversuchen im Nationalsozialismus dafür, diese im größeren Kontext zu behandeln und beispielsweise die Bedeutung der Malariaforschung im Gesamtprogramm der Abteilung und im Gesamtprogramm des RKI zu verorten. Hierbei sei von der Annahme auszugehen, dass die Versuche in einen konzeptionellen Kontext eingebunden waren und in den Normalbetrieb integriert waren, wie die historisch untersuchten Fälle verbrecherischer Menschenversuche am Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung, die Versuche von Karin Magnussen über Eiweißkörper und die Unterdruckversuche von Nachtsheim gezeigt hätten. Bezüglich der Fleckfieberforschung wies Schmuhl darauf hin, dass zwischen Forschung, Produktion und der Impfstoffprüfung zu unterscheiden sei. Das RKI sei in der Forschung eines unter vielen Instituten gewesen, habe bei den Tests offenbar keine wesentliche Rolle gespielt und sei bei der Impfstoffproduktion nur von marginaler Bedeutung gewesen. Hinsichtlich der Präventionsstrategien habe es dagegen in einem gefährlichen Kontext der “Entwesung” und Seuchenbekämpfung mit tödlichen Folgen agiert.

In der weiteren Diskussion wurde deutlich, dass eine Reihe weiterer Fragen vertiefter Studien bedürfen. Neben der Frage, in welchem Spannungsverhältnis das Selbstverständnis der Bakteriologen als apolitische Wissenschaftler mit der biopolitischen Funktion dieser Disziplin stand, existieren vor allem hinsichtlich der Institutionsgeschichte zahlreiche offene Fragen:
Weshalb war das RKI, obwohl es sich um eine relativ kleine Institution handelte, überproportional in Fachgesellschaften repräsentiert? Entwickelten die Forscher des RKI eine wissenschaftliche Strategie? Welche Stellung besaß das RKI in der Landschaft hygienischer Schulen in Deutschland? Auf welche Weise wurde mit der Gründerfigur und dem Namensgeber Robert Koch als Propagandaressource im NS-Staat im Zusammenhang mit dessen 1943 begangenen 100-jährigen Geburtstag Öffentlichkeitsarbeit betrieben?

Angesichts der auf der Tagung vielfach erst angerissenen Probleme und Fragestellungen, sowie der Verknüpfung verschiedener Themen sowohl mit abgeschlossenen Forschungen als auch mit noch zu erbringenden Studien, lässt sich erahnen, welche Forschungsleistung von der Projektgruppe noch zu erbringen sein wird. Auf ihre Ergebnisse, das machte die Tagung in vielerlei Hinsicht deutlich, darf mit Spannung gewartet werden.


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