Geschichtspolitik und neuer Nationalismus im gegenwärtigen Europa

Geschichtspolitik und neuer Nationalismus im gegenwärtigen Europa

Organisatoren
Frank Bösch, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam; Marianne Zepp, Heinrich-Böll-Stiftung Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.10.2017 - 11.10.2017
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Von
Jakob Saß, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Aktueller kann eine Tagung zur Geschichtspolitik kaum ausfallen. Einige Wochen nach den Ausschreitungen in Charlottesville in den USA und den Wahlerfolgen der AfD in der Bundestagswahl sowie im Vorfeld der Wahlen in Tschechien und Österreich, wo die Prognosen rechtspopulistische Erfolge versprachen, veranstalteten die Heinrich-Böll-Stiftung und das Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) das Symposium “Geschichtspolitik und neuer Nationalismus im gegenwärtigen Europa”. Historikerinnen und Historiker aus verschiedenen Ländern diskutierten mit deutschen Expertinnen und Experten für die Regionen vergleichend aktuelle Geschichtspolitiken und insbesondere den Einfluss nationalistischer Regierungen und rechtspopulistischer Bewegungen auf die Geschichtskultur. Der Blick reichte dabei von Polen bis zur Türkei und von den USA bis Belarus und Russland. Dass rund 200 Teilnehmer/innen erschienen, belegt das breite Interesse an diesen Fragen.

Die Veranstaltung in der Berliner Böll-Stiftung eröffneten MARIANNE ZEPP (Berlin) und FRANK BÖSCH (Potsdam). Beide riefen zu einer sachlichen, differenzierten und ergebnisoffenen Diskussion darüber auf, inwieweit sich der geschichtspolitische Diskurs in einzelnen Ländern Europas und darüber hinaus verändert. Wie Bösch einleitend betonte, sei die Geschichtspolitik für Rechtspopulisten so bedeutend, da sie damit ihre Politik legitimierten und abweichende Meinungen als Ideologie abstempeln würden. Auch außenpolitisch spiele ihre Geschichtspolitik eine immer wichtigere Rolle, da diese international provoziere und nach innen mobilisiere, wie jüngst die polnische Reparationsforderungen zeigten. Die Einschränkung von Museen, Archiven und Bildungseinrichtungen ziele auf eine Begrenzung der Meinungsfreiheit und Demokratie. Da jede Demokratie unterschiedliche Bewertungen von Geschichte benötige, stehe im Vordergrund die Frage, wie und welche Deutungen politisch durchgesetzt würden und inwieweit dies akzeptiert werde.

Das erste Panel widmete sich der Geschichtspolitik in Polen. PAWEŁ MACHCEWICZ (Berlin), der im Frühjahr 2017 von der rechtskonservativen PiS-Regierung als Direktor des „Museums des Zweiten Weltkrieges“ in Danzig entlassen wurde, eröffnete mit einer Analyse der aktuellen Lage in Polen. Das von ihm aufgebaute Museum, das die Rechte als Geschenk von Donald Tusk an Angela Merkel denunziere, würde nun umgebaut, da es zu wenig patriotisch sei und die “polnische Wahrheit” nicht verteidige. Da Gerichte dies zunächst verhindert hätten, sei auch die aktuelle Justizreform mit diesem geschichtspolitischen Eingriff begründet worden. Dies kontextualisierte er mit zahlreichen weiteren Veränderungen, wie der neuen Ehrung der „verfemten Soldaten“, die nach 1945 im Untergrund nun gegen die Kommunisten gekämpft hätten, oder auch der Denunzierung von Lech Wałęsa, die die Demokratie in den 1990er-Jahren insgesamt treffen solle. Daran anschließend machte FLORIAN PETERS (Berlin) ein neues „Lob der Kompromisslosigkeit“ in Polen aus, das auch den runden Tisch denunziere. Zugleich betonte er am Beispiel des Danziger „Solidarność-Museums“, dass das liberale Narrativ an Überzeugungskraft verloren hätte: Drinnen würden die Gewerkschafter als Helden gefeiert, draußen zeige sich dagegen der reale Niedergang der Danziger Werften seit den 1990er-Jahren. KRZYSZTOF RUCHNIEWICZ (Breslau) verdeutlichte den Wandel am Beispiel des animierten Geschichtskurzfilms „The Unconquered“1, bei dem in vier Minuten die Geschichte Polens von 1939 bis 1989 mit viel Pathos auf einen heroischen und letztlich erfolgreichen Freiheitskampf reduziert werde und die Einbettung Polens in Europa verschwinde. Seit 2000 habe eine affirmative Sicht reüssiert, besonders seit der Jedwabne-Debatte. Zugleich mahnte er auch bei den Deutschen mehr Sensibilität an: So werde in deutschen Schulbüchern von „polnischen Konzentrationslagern“ gesprochen und die deutsche Besatzung Polens kaum thematisiert, was der PiS-Regierung Munition für Vorwürfe gäbe. Die Opposition greife hingegen kaum auf die Forschung zurück, um etwas entgegenzusetzen, so Ruchniewicz‘ größter Kritikpunkt.

Nicht minder umkämpft ist die Geschichtspolitik derzeit in Ungarn, die das zweite Panel behandelte. ANDREA PETO (Budapest), deren Central European University gerade kurz vor der Schließung steht, sprach von einem Kampf um Hegemonie und einer “Anti-Gender-Mobilisierung“. Sie machte einen Revisionismus aus, der „significance-driven“, „evidence-driven“ und „value-driven“ sei. Auch ÉVA KOVÁCS (Wien) stellte die rechtspopulistische Vereinnahmung des „Trianon-Museums“ und die zahlreichen Trianon-Denkmäler in den Mittelpunkt ihrer Argumentation, die an die Aufteilung Ungarns 1920 erinnern. Andere Museen, wie das Holocaust-Dokumentationszentrum, seien zwar gebaut worden, würden aber offiziell nicht für Schulbesuche empfohlen oder stünden wie das „Haus der Schicksale“ seit langem leer. JOACHIM VON PUTTKAMER (Jena) analysierte die geschichtspolitischen Verschiebungen anhand der vielzitierten Rede des ungarischen Ministerpräsident Viktor Orbán im Juni 2017, die den ungarischen Reichsverweser und späteren Hitler-Verbündeten Miklós Horthy als „Ausnahmestaatsmann“ würdigte. Sie erwähnte nicht den „weißen Terror“, sondern sprach für die 1920er-Jahre von einer „Zeit der Prüfungen“ und „organischen Erneuerungen“, die wie die heutige Situation in der EU auch eine Zeit der Bedrohungen gewesen sei. Statt ein „Orban-Bashing“ zu betreiben, seien solche genauen Deutungen nötig.

Eine vergleichende Perspektive nahm dagegen das dritte Panel ein, das die Türkei, Belarus und Russland fokussierte. KRISTIANE JANEKE (Berlin) sah die Geschichtspolitik in Belarus problematisch, da es kein politisch gewolltes bzw. gesellschaftlich gefördertes Diskussionsklima gäbe und die freie Forschung erschwert werde. Die Erinnerungskultur stehe zwischen sowjetischen Narrativen einerseits und einer “Entsowjetisierung” und “Weißrussifizierung” andererseits. Unter dem autoritär regierende Präsident Aljaksandr Lukaschenka würden weiterhin Opfergruppen wie Juden und Zwangsarbeiter im staatlichen Geschichtsbild ignoriert und diskriminiert und das neue „Museum des Großen Vaterländischen Krieges“ sei beispielsweise weiterhin an den sowjetischen Duktus angelehnt. Zugleich greife es durchaus bisherige Tabubereiche auf. Auch der Holocaust werde nun offiziell thematisiert und ein Gedenken an die eigenen Opfer des Afghanistaneinmarsches an den Zweiten Weltkrieg angebunden. Russland selbst inszeniere sich hingegen als das bessere Europa, so MISCHA GABOWITSCH (Potsdam). Die staatliche Geschichtspolitik stehe im Zeichen eines “panhistorischen Militarismus” und vermittle die “ununterbrochene tausendjährige Geschichte militärischer Siege bis heute”. Öffentlichkeitswirksame kritische Stimmen gäbe es dennoch, so Gabowitsch, vor allem im akademischen Bereich. Eine kritische Öffentlichkeit existiere auch in der Türkei noch, werde aber von den deutschen Medien übersehen, sagte der türkischstämmige Schriftsteller ZAFER ŞENOCAK (Berlin). Er war für die verhinderte Historikerin DILEK GÜVEN (Berlin) eingesprungen. Im Rampenlicht, so Şenocak, stehe vielmehr die Geschichtspolitik, mit der die Erdoğan-Regierung zwar noch die historisch gewachsene Westbindung des ehemaligen “Westberlins des Orients” unterstreicht, aber auch immer wieder mit den zwei anderen Grundpfeilern provoziert: Verhinderung eines Kurdenstaats und Leugnung des Genozids an den Armeniern. Zur Stärkung des Nationalstolzes fördere die AKP-Regierung vor allem die öffentliche und mediale Popularisierung des osmanischen Sultans Mehmet II., des Eroberers Konstantinopels.

In Kontrast zu diesen Ländern steht die postsozialistische Entwicklung in Estland und Tschechien. Wie EVA-CLARITA PETTAI (Jena) erläuterte, hätten neue Denkmäler, Gedenkstätten und andere Einrichtungen in den letzten Jahren den gesellschaftlichen Konsens über die estnische Opferrolle während der deutschen Besatzung und unter der Sowjetherrschaft gefestigt. Angesichts des sich nähernden 100. Jahrestages der Unabhängigkeit 2018 werde allerdings auch umgedacht. Das “Okkupationsmuseum” in Tallinn wolle etwa das Opfernarrativ zu einem “Narrativ des ewigen Kampfes um die Freiheit” umschreiben, was wiederum Opferverbände kritisieren. In Tschechien würde man sich eine konstruktive Kontroverse zur Geschichtspolitik geradezu wünschen, führte JAKUB JAREŠ (Prag) aus. Andrej Babiš, “Unternehmerpopulist” und bis vor kurzem noch tschechischer Vizepremier, genieße große Unterstützung in der Gesellschaft – trotz des Verdachts auf Steuerbetrug, der Beeinflussung von Medien sowie der Kollaboration mit der tschechoslowakischen Staatssicherheit zu Sowjetzeiten. Babiš sei ein Pragmatiker, seine Geschichtspolitik daher zielgerichtet, aber auch unberechenbar. Etwa zwei Wochen nach der Konferenz wurde seine Partei „Aktion unzufriedener Bürger” bei der Parlamentswahl tatsächlich stärkste Kraft.

Das letzte Panel behandelte vergleichend rechtspopulistische Geschichtspolitiken im Westen. FRANK BÖSCH (Potsdam) analysierte die geschichtspolitischen Äußerungen der AfD und ihr nahestehender Organe wie der Jungen Freiheit. Ihre Positionen ähnelten denen der CDU/CSU in den 1980er-Jahren, etwa bei der Preisung der großen tausendjährigen deutschen Geschichte, die statt der „zwölf dunklen Jahren“ des Nationalsozialismus im Vordergrund stehen solle. Die AfD wende sich gegen einen Kult um die Opfer des Nationalsozialismus, konstruiere aber selbst permanent deutsche Opferrollen mit Blick auf den Zweiten Weltkrieg. Die DDR werde dagegen kaum noch in der Jungen Freiheit angeprangert, da viele AfD-Wähler diese nicht nur negativ bewerten würden. Dennoch zeigte sich Bösch optimistisch, da die pluralistische deutsche Geschichtskultur derartige Provokationen bereits früher ausgehalten habe. In Österreich seien die verpasste kritische Auseinandersetzung mit der NS-Zeit bis zur Mitte der 1980er-Jahre sowie soziale Probleme der Nährboden für den “Österreichpatriotismus”, so HEIDEMARIE UHL (Wien). Die FPÖ-Wahlerfolge sowie die Etablierung der Identitären Bewegung seien möglich, weil es kaum starke linke bzw. liberale Gegenstimmen gäbe. Ähnlich wie Österreich hinken auch die USA mit der Aufarbeitung ihrer Geschichte hinterher, sagte ANDREAS ENGES (München). Indem sich Geschichtswissenschaft und Gesellschaft lange und intensiv mit dem Holocaust beschäftigt hätten, konnte die USA eigene rassistische Verbrechen übergehen. Für die Geschichtspolitik habe Präsident Trump noch keine große Rolle gespielt. Ob er mit seinen geplanten Budgetkürzungen für Forschung und Kunst überhaupt durch den Kongress kommt, bleibe ohnehin fraglich. Wie bei anderen Staaten zeige sich auch hier eine eigenständige Entwicklung von unten, etwa beim Sturz der Südstaaten-Denkmäler.

In der Abschlussdiskussion fassten FRANK BÖSCH und MARIANNE ZEPP einige Ergebnisse zusammen. Der aktuelle geschichtspolitische Wandel zeige sich in vielen Ländern seit Mitte der 2000er-Jahre und sei eine Reaktion auf liberale Geschichtsbilder. Nicht nur der Staat setzte Impulse, sondern viele kamen auch von unten aus der Gesellschaft. Entsprechend sei es in vielen Ländern auch zu erfolgreichen Gegenreaktionen zur rechtspopulistischen Geschichtspolitik gekommen. Kulturelle und religiöse Traditionen, wie etwa die Rolle des Antisemitismus in Ungarn und Österreich, seien stärker zu berücksichtigen. Die starke Geschichtspolitik in Ostmitteleuropa stehe dabei durchaus auch in der Tradition des Sozialismus, der sich stark von oben historisch legitimierte.

Insgesamt überzeugte die Tagung durch ihre nüchternen und differenzierten Stimmen. Eine konkrete Agenda stand am Ende der Tagung nicht zur Debatte, wenngleich sie mit dem Appell endete, die populistische Geschichtspolitik stärker öffentlich zu thematisieren und zu intervenieren, damit Einrichtungen wie das Danziger Museum nicht geschlossen würden. Die eineinhalb tägige Veranstaltung hat dafür aber eine solide Grundlage geschaffen. Sie verdeutlichte die Notwendigkeit für die Geschichtswissenschaft, als kritische Instanz öffentlich wirksam zu sein bzw. Material für die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichtspolitik zu liefern.

Konferenzübersicht:

Begrüßung und Einführung
Frank Bösch (ZZF Potsdam)
Marianne Zepp (Heinrich-Böll-Stiftung Berlin)

Sektion I - Patriotische Kampfzone: Geschichtspolitik in Polen
Moderation: Magdalena Saryusz-Wolska (DHI Warschau)

Paweł Machcewicz (ehem. Direktor des Museums des Zweiten Weltkriegs, Danzig; derzeit Wissenschaftskolleg Berlin)
Florian Peters (Institut für Zeitgeschichte, Berlin)
Krzysztof Ruchniewicz (Universität Breslau, Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien)

Sektion 2 - Heldenverehrung und Repression: Geschichtspolitik in Ungarn
Moderation: Eszter Kiss (ZZF Potsdam)

Andrea Peto (Central European University Budapest)
Éva Kovács (Wiener Wiesenthal Institut für Holocaust-Studien)
Joachim von Puttkamer (Imre Kertész Kolleg Jena)

Sektion 3 - Alt-neue Nationalismen
Moderation: Sergey Lagodinsky (Heinrich-Böll-Stiftung Berlin)

Zafer Şenocak (Berlin): Türkei
Kristiane Janeke (Agentur Tradicia History Service, Berlin): Weißrussland
Mischa Gabowitsch (Einstein Forum, Potsdam): Russland

Sektion 4 - Autoritäre Traditionen und Neuanfänge
Moderation: Eva van de Rakt (Heinrich-Böll-Stiftung Prag)

Eva-Clarita Pettai (Imre Kertész Kolleg Jena): Estland
Jakub Jareš (Karls-Universität Prag): Tschechien

Sektion 5 - Geschichtspolitiken im Zeichen des westlichen Populismus
Moderation: Marianne Zepp (Heinrich-Böll-Stiftung Berlin)

Frank Bösch (ZZF Potsdam): Bundesrepublik
Heidemarie Uhl (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien): Österreich Dr. Andreas Etges (Ludwig-Maximilians-Universität München): USA

Abschlussdiskussion
Frank Bösch (ZZF Potsdam)
Marianne Zepp (Heinrich-Böll-Stiftung Berlin)

Anmerkung:
1 Die Unbesiegbaren, http://theunconquered-movie.com/index.html (14.11.2017).