HT 2018: Spaltungsphänomene im europäischen Judentum

HT 2018: Spaltungsphänomene im europäischen Judentum

Organisatoren
Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2018 - 28.09.2018
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Von
Amelie Sagasser, Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg / Mareike Hartmann, Historisches Seminar, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Die epochenübergreifend angelegte Sektion versammelte vier Referent/innen, die sich mit verschiedenen Phänomenen von Spaltungstendenzen innerhalb des europäischen Judentums befassten. Stellvertretend für die „Gesellschaft zur Erforschung der Geschichte der Juden“1 bot EVA HAVERKAMP-ROTT (München) eine Einführung in die Thematik. Sie verdeutlichte darin den angestrebten Perspektivenwechsel: von der falschen und dennoch sogar unter Historikern verbreiteten Ansicht, die jüdische Religion sei schon immer „monolithisch geschlossen“ gewesen, zur Betrachtung der innerjüdischen Spaltungen. Aus unterschiedlichen Perspektiven und mit Blick auf verschiedene Themen diskutierten die Referent/innen dabei Spaltungsphänomene innerhalb der jüdischen Gesellschaft. Eine Trennung von Innenansicht und Blick von außen auf das Judentum hoben sie dabei auf. Zugleich untersuchten sie die zunächst „innerjüdisch“ scheinenden Gegebenheiten im Kontext der christlichen Umwelt und betteten die Ereignisse auf diese Art in die allgemeine Geschichte ein.

Anhand mehrerer Beispiele aus der spätmittelalterlichen Steiermark untersuchte MARTHA KEIL (Wien/St. Pölten) Spaltungs- und Konfliktpotenziale für jüdische Gemeinden, die von Steuerzahlungen an die christlichen Obrigkeiten ausgingen. Diese Abgaben begründeten die jüdische Existenzberechtigung. Deutlich machte Keil, dass die jüdischen Gemeinden sowohl nach innen als auch von außen als gespalten wahrgenommen werden konnten. Anlass für Diskussionen habe vor allem die Besteuerungshöhe, die sich am deklarierten Vermögen orientierte, geboten. In diesem Zusammenhang ist die Aufforderung überliefert, jegliches verheimlichtes Vermögen den Steuereintreibern anzuzeigen – Denunziationen unliebsamer Konkurrenten hätten zu großer Unruhe in der Gemeinde geführt. Zudem wäre es vor allem zwischen reichen jüdischen Geldhändlern und ihren weniger vermögenden Gemeindemitgliedern zu Spannungen bei den Steuerzahlungen gekommen, die wiederum zu Abspaltungen hätten führen können. Hintergrund war die Frage, wer in welcher Höhe die Steuerlast zu tragen hatte. Neben diesen von jüdischer Seite aus betriebenen Spaltungen beschreiben andere Quellen eine von der Obrigkeit erzwungene: Vier wohlhabende Juden wurden nach ihrem Umzug von einer zu einer anderen Gemeinde verpflichtet, weiterhin in ihrer alten Gemeinde Steuern zu zahlen, wodurch Konflikte mit der neuen Gemeinde entstanden seien. Die Quellen zur Besteuerung liefern darüber hinaus zahlreiche Informationen über die finanzielle Schichtung der jüdischen Gemeinde sowie jüdisch-christliche Geschäftsnetzwerke.

CHRISTOPH CLUSE (Trier) sprach über Spaltungen innerhalb von Gemeinden und Synagogen im Spätmittelalter. Im Fokus seines Vortrags stand die Wechselbeziehung zwischen jüdischer Rechtsautonomie und dem Eingriff der nichtjüdischen Umwelt auf eigentlich rein innerjüdische Auseinandersetzungen. Cluse untersuchte vier innerjüdische Konflikte, die in den Gemeinden Mainz (zwischen 1266 und 1282), Köln sowie Goslar und Hameln (jeweils Anfang 14. Jahrhundert) entstanden waren. Die im Mittelpunkt stehenden Quellen zeugten von innergemeindlichen Auseinandersetzungen, die nicht mehr von jüdischen Schiedsgerichten und rabbinischen Autoritäten beigelegt werden konnten. Solche schwerwiegenden Konflikte hatten zur Folge, dass die nichtjüdischen Gerichte und Herrschaftsträger von den jüdischen Gemeinden zur Schlichtung herangezogen wurden. Hierbei hätten sie nicht selten eigene Interessen verfolgt. Anhand dieser Beispiele ging Cluse der Frage nach, ob dieses Eingreifen als Schwächung der jüdischen Gemeindeautonomie oder eher als Ausdruck von Bewältigungs- und Anpassungspotenzialen in Resilienzprozessen zu verstehen sei. Dabei ging es vorwiegend um das Verhältnis zwischen der Gemeinde als Ganze und einzelnen mächtigen Persönlichkeiten unter den Juden. Cluse vertrat die These, dass die hohe Mobilität und Migration unter den Juden in den genannten Beispielen die Wahrscheinlichkeit für Konflikte erhöht habe. Nicht allein unterschiedliche Interessen, vor allem hinsichtlich der Steuerfragen, sondern auch verschiedene Erfahrungen, Gebräuche sowie religiöse Auffassungen prägten die internen Auseinandersetzungen. In Goslar beispielsweise wurden die Juden 1331 vom Rat gebeten, zu entscheiden, ob sie eine neue Synagoge für alle haben oder sich auf zwei Synagogen aufteilen möchten. Die jüdische Gemeinde entschied sich für die Aufteilung. Daraus lasse sich schließen, dass die Gemeinde entweder zu groß geworden oder zerrüttet gewesen war. Auf letzteres lasse der Umstand schließen, dass der Rat mit Nachdruck erklärte, dass alle künftigen Streitigkeiten nur noch vor ihm ausgetragen werden sollten.

Für die Neuzeit untersuchte CARSTEN WILKE (Budapest), wie im 19. Jahrhundert, im Rahmen der Reformdebatte zwischen Orthodoxie und Reform, historische Modelle verwendet und interpretiert wurden. Die Aufspaltung des modernen Judentums in eine progressive, eine orthodoxe und eine vermittelnde Richtung habe sich in einer Epoche vollzogen, die intensiv nach historischen Erklärungen und Präzedenzfällen für die eigenen Erfahrungen suchte. Die Kontrahenten in den religiösen Auseinandersetzungen haben daher ausgiebige polemische Vergleiche mit vormodernen innerjüdischen Spannungen und Spaltungen gezogen. In einer Langzeitperspektive, die von Spinoza bis zur deutschen und ungarischen Gemeindespaltung reicht, beleuchtete Wilke, wie sich die jüdische Moderne in den Parteikämpfen der Vergangenheit gespiegelt hat. Er zeigte auf, dass bis etwa 1860 eine historisierende Einheitsrhetorik vorherrschte, die auf der Delegitimierung des Gegners beruhte, während man sich in späterer Zeit mit einem Modell pluralistischer Koexistenz zufrieden gegeben habe, das mitunter die stimulierenden Wirkungen der Polemik hervorhob. Wilke konnte nachweisen, dass die Modellfälle historischer Spaltungen, wie beispielsweise die Untreue der Hellenisten oder Rivalität der antiken Religionsparteien, zu verschiedenen Zeitpunkten mit ganz unterschiedlichen Aussageabsichten im Diskurs Verwendung fanden. Dabei haben Verfechter einer jüdischen Pluralisierung in der eigenen Geschichte kein tragfähiges Modell gefunden und beinahe zwangsläufig bei der christlichen Konfessionalisierung Maß nehmen müssen. In diesem Kontext sei Luthers Reformation höchst unterschiedlich interpretiert worden. Der Einfluss, den Luther auf das konfessionelle Miteinander im Judentum hatte, sei erst später mit der immer weiter fortschreitenden religiösen und politischen Differenzierung greifbar geworden.

Den Abschluss der Sektion bildete ein Vortrag von JOHANNES HEIL (Heidelberg) zur zionistischen Kritik an der Wissenschaft des Judentums bis zu der Gründung der gleichnamigen Akademie 1919. Das Interesse an einer wissenschaftlichen Erforschung des Judentums habe bis um 1900 verbindend auf die unterschiedlichen kulturellen und religiösen Strömungen innerhalb des deutschsprachigen Judentums gewirkt. Da die deutschen Universitäten eine Einrichtung entsprechender Lehrstühle ablehnten, sei eine Art akademischer Subkultur entstanden, mit allerdings eindeutig typisch deutsch-bürgerlichen Formen. Dies sei in der Vorkriegszeit einer der Hauptkritikpunkte der Zionisten an der Wissenschaft des Judentums gewesen. So kritisierte Martin Buber die „Deutschtümelei“ der jüdischen Bildungseinrichtungen. Es entbrannte in der Folgezeit eine Art innerjüdischer Historikerstreit – Zionismus und bürgerliches Judentum standen sich unversöhnlich gegenüber. Heil stellte verschiedene Akteure und ihre, teilweise höchst polemisch vorgetragenen, Positionen zur Thematik vor. Sowohl die inhaltliche Ausrichtung der jüdischen Wissenschaft als auch die Frage nach dem Ort einer jüdischen Hochschule führten zu zahlreichen Diskussionen. Sollte die Geschichte des jüdischen Volkes wissenschaftlich aufgearbeitet werden oder sollte der Fokus vielmehr auf zeitgenössischen Themen, wie Fragen nach Assimilation oder einem jüdischen Nationalstaat liegen?

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Eva Haverkamp-Rott (München)

Moderation: Andreas Brämer (Hamburg)

Martha Keil (Wien/St. Pölten): Spaltungstendenzen durch Steuerverfahren in jüdischen Gemeinden der spätmittelalterlichen Steiermark

Christoph Cluse (Trier): Zerrüttete Gemeinden und gespaltene Synagogen im spätmittelalterlichen Aschkenas

Carsten Wilke (Budapest): Die Bedeutung historischer Erinnerung im modernen jüdischen Richtungsstreit

Johannes Heil (Heidelberg): Die Wissenschaft des Judentums und ihre zionistischen Kritiker von 1919

Anmerkung:
1https://gegj.de/ (11.11.2018).


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