Christliche Willkommenskultur? Die Integration von Migranten als Handlungsfeld christlicher Akteure in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Christliche Willkommenskultur? Die Integration von Migranten als Handlungsfeld christlicher Akteure in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Organisatoren
DFG-Forschergruppe 1765 „Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik Deutschland 1949-1989“ (München, Göttingen, Erfurt) / Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte, München Bericht von: Luise Poschmann, Historisches Seminar, Universität Erfurt
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.11.2018 - 30.11.2018
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Von
Luise Poschmann, Geschichtswissenschaften, Universität Göttingen / Universität Erfurt

Seit dem Sommer 2015 ist der Gedanke einer „christlichen Willkommenskultur“ präsent in den Debatten über Flucht, Asyl und Integration in Deutschland. Obwohl eine solche „Willkommenskultur“ der Christinnen und Christen zumeist als Tatsache dargestellt wird, bleibt zugleich doch unklar, was genau darunter zu verstehen ist. Bewusst hatte daher auch die Tagung ein Fragezeichen hinter diesen Ausdruck im Titel gesetzt.1 Sie betrachtete die „christliche Willkommenskultur“ aus zeithistorischer Perspektive und erörterte, ob sich in Bezug auf die Aufnahme und Integration von Zuwanderinnen und Zuwanderern überhaupt übergreifende Denk- und Handlungsmuster christlicher Akteurinnen und Akteure generalisieren lassen.

Für den in der aktuellen Flüchtlingssituation oft bemühten historischen Vergleich zeigte sich die Historikerin CLAUDIA LEPP (München) in ihrer Tagungseinführung prinzipiell offen, gab jedoch zu bedenken, dass die jeweils differierenden strukturellen Voraussetzungen und Rahmenbedingungen berücksichtigt werden müssten. Im Rahmen der Tagung beschränkte sich die Suche nach Kontinuitäten und Brüchen, Unterschieden und Gemeinsamkeiten auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Motive christlicher Akteurinnen und Akteure wurden dabei ebenso beleuchtet wie ihre Handlungsfelder und strukturellen Rahmenbedingungen.

Die Tagung gliederte sich in drei Sektionen und wurde durch einen Abendvortrag sowie durch je einen Kommentar aus Sicht einer Historikerin und aus Sicht eines Zeitzeugen ergänzt. In der ersten Sektion behandelten die Referentinnen und Referenten die Integration der Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg.

Die Historiker FELIX TEUCHERT (Stuttgart) und MARKUS STADTRECHER (Augsburg) betrachteten beide die Aufnahme der Ostvertriebenen in Westdeutschland durch die beiden christlichen Großkonfessionen. Teuchert fokussierte dabei die protestantische Positionierung im Zusammenhang mit dem Lastenausgleichsgesetz.2 Seinen Schwerpunkt legte er auf die Offenlegung von Netzwerken, die sich einerseits durch formale Mitgliedschaften, andererseits durch informelle Beziehungen, etwa zu leitenden Ministerialbeamten, ergaben. Die besondere Rolle „mehrfachengagierter“ Akteure aus protestantischem und politischem Kontext zeigte er anhand des Sozialpolitikers Johannes Kunze (CDU) auf.

Markus Stadtrecher lenkte den Blick von der großen politischen Bühne ins Bistum Augsburg. Staatliche Einrichtungen zogen dort nach dem Zweiten Weltkrieg die katholische Kirche mit ihren noch intakten Organisationsstrukturen zur Bewältigung der Flüchtlingsaufnahme heran. Gleichzeitig konnte die Kirche ihre Leistungsfähigkeit in dieser besonderen Lage unter Beweis stellen. Allerdings musste sich die katholische Kirche aber auch der Situation stellen, die sich durch die veränderte konfessionelle Landschaft ergab: Schwindende Grenzen zwischen den Konfessionen und ein rasanter Rückgang rein katholischer Gemeinden veränderten die Identität und Position der Kirche in der Gesellschaft nachhaltig.

Dass die Zuwanderung aus Sicht der Kirchen aber auch explizit als Chance verstanden werden konnte, zeigten der Kirchenhistoriker RUDOLF LEEB (Wien) und die Historikerin ROMANA FOJTOVÁ (Prag) mit Blick auf Österreich beziehungsweise die Tschechoslowakei auf. In Österreich, das von vielen Flüchtlingen eigentlich nur als „Wartesaal“ auf der weiteren Reise nach Deutschland gesehen wurde, drängte die minoritäre evangelische Kirche auf einen Verbleib der Zuzügler. Die evangelischen Migranten sorgten letztlich dafür, dass Kriegsverluste und Kirchenaustritte in der NS-Zeit kompensiert werden konnten; zudem entstanden Gemeinden in Gebieten, in denen nun erstmals der Protestantismus in der Öffentlichkeit präsent war. Der Vortrag von Romana Fojtová, der sich mit der Wiederansiedlung von Wolhynien-Tschechen und den im polnischen Zelow lebenden Tschechen in Grenzregionen der Tschechoslowakei nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigte, brachte neben der neuen Dimension einer Debatte über Exil und Heimkehr auch den Aspekt des bevölkerungspolitischen Interesses eines Staates mit ein.

Die zweite Sektion ließ die unmittelbare Nachkriegszeit in Europa hinter sich und rückte die Aufnahme von Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten seit Mitte der 1950er-Jahre in den Mittelpunkt. Wie Claudia Lepp erläuterte, eröffnete die kirchliche, soziale und kulturelle Betreuung der „Gastarbeiter“ in der Bundesrepublik ein bedeutendes neues Handlungsfeld für die Kirchen. In Bezug auf die Diakonie hob sie die zunehmende Institutionalisierung und Professionalisierung der evangelischen Ausländerarbeit hervor, während sie den akademischen Diskurs der evangelischen Theologie als äußerst zurückhaltend beschrieb. Große Impulse für die gesellschaftliche Bewusstseinsbildung in Bezug auf Zuwanderung und Integration gingen dem Vortrag zufolge vom gemeinsamen Vorgehen der beiden großen christlichen Kirchen seit den 1970er-Jahren aus. Der „Tag des ausländischen Mitbürgers“ (ab 1975) und die These einer „multikulturellen Gesellschaft“3 verdeutlichten dies beispielhaft.

Die beiden Historiker UWE KAMINSKY (Bochum) und NORBERT FRIEDRICH (Kaiserswerth) widmeten sich über einen diakoniegeschichtlichen Zugang dem Thema der praktischen Dimension der sozialen Arbeit mit Zugewanderten in der Bundesrepublik. Während Kaminsky die diakonische und seelsorgerische Betreuung griechischer „Gastarbeiter“ und ihrer Familien darlegte, rückte Norbert Friedrich die Anwerbung koreanischer Krankenschwestern für diakonische Krankenhäuser in den Kontext struktureller Veränderungen innerhalb der evangelischen Krankenpflege durch den Rückgang an Diakonissen.

Zum Abschluss dieser Sektion legte DAVID RÜSCHENSCHMIDT (Münster) den Fokus auf die neuen religiösen Herausforderungen, die sich durch die Migration von Menschen mit muslimischem Hintergrund ergaben. Er erläuterte, wie sich auf lokaler Ebene christlich-muslimische Dialoginitiativen in Nordrhein-Westfalen gründeten und welche Funktion sie für die Integration der Migranten hatten. Hohe Bedeutung maß er dabei vor allem der religiösen und kulturellen Anerkennung der Muslime durch eine verstärkte Sichtbarkeit im öffentlichen Raum zu. Deutlich wurde aber auch, dass oftmals weniger die Institutionalisierung der Begegnungskonstellationen als vielmehr einzelne Persönlichkeiten ausschlaggebend für das erfolgreiche Wirken der Initiativen waren.

Die dritte Sektion rückte mit der Aufnahme und Integration von ausländischen Flüchtlingen die Asylfrage in den Mittelpunkt, die auch heute oftmals den Diskurs über die „christliche Willkommenskultur“ bestimmt.

Der Historiker JONATHAN SPANOS (München) brachte die Frage nach der Anerkennung politischer Flüchtlinge zunächst in den Zusammenhang mit der Aufnahme von Menschen aus der sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR. Bevor er sich den 1980er- und frühen 1990er-Jahren widmete, ging er auf die besondere Lage chilenischer Asylsuchender in den 1970er-Jahren ein, die aus einer nichtkommunistischen Diktatur flohen. Er verdeutlichte, dass die Haltung der evangelischen Kirche zu politischen Flüchtlingen nur oberflächlich in einem kontinuierlichen Prozess hin zu mehr Aufnahmebereitschaft verlief, faktisch aber stets auch von Gegenbewegungen und Aushandlungsprozessen um den Begriff der politischen Flucht geprägt war.

Die Beschäftigung mit Chile vertiefte der Theologe DANIEL LENSKI (Bensheim), indem er über das Leben und Wirken des früheren Auslandspfarrers Helmut Frenz sprach. Dieser zeitgenössisch umstrittene Menschenrechtsaktivist engagierte sich nach dem Putsch in Chile persönlich für die Aufnahme politisch Verfolgter in der Bundesrepublik und wurde 1976 erster Generalsekretär der bundesdeutschen Sektion von Amnesty International. Wie JONATHAN PÄRLI (Fribourg) aufzeigte, war die Lage in Chile auch Impulsgeber für die Asylbewegung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Schweiz. Sein Vortrag befasste sich mit der besonderen Aktionsform der Tischgemeinschaft, des „Banquet républicain“. Diese Treffen standen im Kontext von Protesten gegen das Asylrecht in der Eidgenossenschaft, machten auf die Praxis der Behörden aufmerksam und unterstützten die Kirchenasylbewegung.

Den deutlichsten Gegenwartsbezug stellte ARNULF VON SCHELIHA (Münster) in seinem Abendvortrag aus theologischer Perspektive her. Der systematische Theologe ging auf Migration und Integration als Thema der protestantischen Sozialethik ein und widmete sich nach einem Überblick über die Situation nach dem Zweiten Weltkrieg ausführlich den letzten 30 Jahren in der Bundesrepublik. Für die Zeit seit 2015 beobachtete er einen bisher nicht gekannten „starken Gegenwind“ gegenüber der Evangelische Kirche Deutschland aufgrund ihrer Haltung zur „Willkommenskultur“. Zudem zeigte er Ansätze einer aktuellen sozialethischen Debatte auf, die sich unter anderem im Spannungsfeld zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik befinde.

Zum Abschluss kommentierten der Zeitzeuge JÜRGEN MICKSCH (Darmstadt) und die Historikerin CHRISTIANE KULLER (Erfurt) die Tagung und machten auf die vielfältigen Perspektiven der Vorträge und auf lohnenswerte weitere Themen aufmerksam. Jürgen Micksch, der erhellende persönliche Einblicke in Prozesse gab, die den Historikerinnen und Historikern nur aus Akten vertraut sind, warb dafür, auch andere Religionsgemeinschaften mit in die Betrachtung einzubeziehen. Wie integrierten sich Juden, orthodoxe Christen oder Aleviten sowohl religiös als auch kulturell? Welche Kooperationen gab es seitens der großen christlichen Kirchen? Christiane Kuller stellte die Frage zur Diskussion, was die Zeitgenossen jenseits normativer Konzepte tatsächlich unter Integration verstanden. Eine Antwort darauf gäbe Aufschlüsse über die veränderliche Wahrnehmung von Fremdheitsbildern und Fremdheitskonstruktionen innerhalb räumlicher und zeitlicher Grenzen.

Es gelang der interdisziplinär und international zusammengesetzten Tagung, die Vielfalt der Forschungsthemen rund um eine „christliche Willkommenskultur“ aus zeithistorischer und teils auch aktueller Perspektive aufzufächern und ihre verschiedenen Dimensionen anhand der gewählten Sektionsschwerpunkte aufzuzeigen. Innerhalb der Sektionen hielten sich Vorträge, die einen weiteren Bogen spannten mit detaillierteren „Tiefenbohrungen“ die Waage, so dass das jeweilige Feld auf der Makro- und Mikroebene beleuchtet wurde. Mit ihrem Blick auf die Rolle der Christinnen und Christen sowie kirchlicher Institutionen leisteten sie einen Beitrag zur derzeit äußerst regen multidisziplinären Migrations- und Fluchtforschung.

Der bewusste und vorab formulierte Fokus der Veranstalter lag auf dem Verhalten der christlichen Akteurinnen und Akteure der Aufnahmeländer, das facettenreich beschrieben und analysiert wurde – hinter dem allerdings gleichzeitig die Perspektive der Migrantinnen und Migranten zurückblieb. Zu fragen wäre in einem weiteren Schritt nun nach dem Blick des „Gegenübers“, nach gruppenspezifischen Erfahrungen zum Beispiel der Vertriebenen oder Arbeitsmigranten mit den verschiedenen Formen der „christlichen Willkommenskultur“, aber auch nach Unterschieden in Bezug auf Geschlecht oder Alter.

Konferenzübersicht:

Sektion 1: Die Integration der Vertriebenen

Felix Teuchert (Stuttgart): Der westdeutsche Protestantismus und die Integration der Vertriebenen nach 1945

Markus Stadtrecher (Augsburg): Die Rolle katholischer Netzwerke bei der Integration der Vertriebenen am Beispiel des Bistums Augsburg

Rudolf Leeb (Wien): Die Aufnahme der Vertriebenen als Herausforderung und Chance für die evangelische Kirche in Österreich

Romana Fojtová (Prag): The Involvement of the Evangelical Church in the Integration of the Volyn-Czechs and Zelow-Czechs in Czechoslovakia after 1945

Sektion 2: Die Integration von Arbeitsmigranten

Claudia Lepp (München): „Gastarbeiter werden Bürger”. Der Beitrag des Protestantismus zu Fragen der Integration von Arbeitsmigranten in der Bundesrepublik Deutschland

Uwe Kaminsky (Bochum): Die seelsorgerliche Betreuung der griechischen Arbeitsmigranten – Impuls oder Hemmnis im Integrationsprozess?

Norbert Friedrich (Kaiserswerth): Der Traum vom ‚besseren Leben’. Koreanische Krankenschwestern in diakonischen Krankenhäusern in Deutschland

David Rüschenschmidt (Münster): Der christlich-islamische Dialog im Integrationsgeschehen? Historische Perspektiven auf die 70er und 80er-Jahre.

Sektion 3: Die Aufnahme und Integration von ausländischen Flüchtlingen

Jonathan Spanos (München): Der westdeutsche Protestantismus in den Debatten um die Aufnahme und Anerkennung von politischen Flüchtlingen

Daniel Lenski (Bensheim): Helmut Frenz und die Aufnahme von chilenischen Flüchtlingen in Deutschland

Jonathan Pärli (Fribourg): Die ganze Welt zu Tisch. Christlicher Asylaktivismus in der Schweiz und den USA während der 1980er-Jahre

Abendvortrag
Arnulf von Scheliha (Münster): „Der Flüchtling ist […] eine Gabe Gottes an seine Kirche“ – Migration und Integration als Thema der protestantischen Sozialethik in Deutschland

Kommentare: Jürgen Micksch (Darmstadt) aus Sicht eines Zeitzeugen und Christiane Kuller (Erfurt) aus Sicht einer Historikerin

Anmerkungen:
1 Zum Veranstalter der Tagung, siehe: https://www.for1765.evtheol.uni-muenchen.de; https://www.kirchliche-zeitgeschichte.info/ (29.01.2019).
2 Ursprüngliche Fassung: Gesetz über den Lastenausgleich (Lastenausgleichsgesetz – LAG) vom 14. August 1952, BGBl I., S. 446-533.
3 In einer Stellungnahme im September 1980 erklärte der Ökumenische Vorbereitungsausschuss (ÖVA) für den Tag des ausländischen Mitbürgers: „Wir leben in der Bundesrepublik in einer multikulturellen Gesellschaft.“ Die These geht auf eine Formulierung des damaligen ÖVA-Vorsitzenden Jürgen Micksch zurück.