"Les trentes glorieuses" - Wirtschaftlicher Boom, Fortschrittsoptimismus und gesellschaftlicher Aufbruch 1950-1975

"Les trentes glorieuses" - Wirtschaftlicher Boom, Fortschrittsoptimismus und gesellschaftlicher Aufbruch 1950-1975

Organisatoren
Dr. Hervé Joly (LARHRA ­ Laboratoire de recherche historique Rhône-Alpes, Lyon); PD Dr. Jörg Requate, Universiät Bielefeld im Auftrag des Arbeitskreises deutsch-französischer Sozialhistoriker
Ort
Bielefeld
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.05.2005 - 28.05.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Philipp Zessin, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Universität Bielefeld

Zum 11. Deutsch-Französischen Sozialhistorikertreffen luden Jörg Requate (Universität Bielefeld) und Hervé Joly (Laboratoire de recherche historique Rhône-Alpes, Universität Lyon 2) ins Internationale Begegnungszentrum der Universität Bielefeld ein. Mitbeteiligt an der Ausrichtung des Treffens waren das Maison des sciences de l'homme und das Centre de recherche historique, beide in Paris beheimatet. Im Mittelpunkt standen die "Trente Glorieuses", also die 30 "glorreichen" Nachkriegsjahre, die Frankreich und anderen westlichen Industriestaaten Wohlstand, Bildung und Stabilität in einem bis dahin ungekannten Ausmaß brachten. Der Begriff geht auf den französischen Wirtschaftswissenschaftler Jean Fourastié zurück, dessen 1979 unter dem gleichnamigen Titel erschienenes Buch die sozioökonomischen Umwälzungen Frankreichs seit Ende des Zweiten Weltkriegs unter die Lupe nahm und die französische Wahrnehmung von den Nachkriegsjahrzehnten nachhaltig prägte. Die beiden Veranstalter machten das Erkenntnisinteresse der Tagung einleitend deutlich, indem sie den Aspekt der Periodisierung fokussierten: Ist der Begriff der "Trente Glorieuses" überhaupt heuristisch brauchbar, und wenn ja, auch auf Deutschland und andere westliche Industriestaaten anwendbar? Welche Analysekategorien liegen der auf den französischen Wirtschaftswissenschaftler Jean Fourastié zurückgehenden Periodisierung der "Trente Glorieuses" zugrunde? Inwieweit und unter welchen Prämissen stellen 1945 und 1975 überhaupt Brüche oder Zäsuren dar?

Die Tagung widmete sich in unterschiedlichen Sektionen den Themenschwerpunkten Wirtschafts- und Sozialpolitik, Immigration und Gesellschaftlicher Wandel in der Zeit der "Trente Glorieuses". Andrea Rehling (Tübingen) und Stéphane Bieganski (Grenoble/Genf) setzten sich in ihren Vorträgen mit dem Wechselverhältnis zwischen Staat und Wirtschaft auseinander. Während Rehling für die Bundesrepublik der 60er Jahre trotz "Westernisierung" und Einzug einer nicht zuletzt wirtschaftswissenschaftlichen Politikberatung eine Wiederkehr korporatistischer Arrangements, so die Konzertierte Aktion 1966/67, feststellte, betonte Bieganski in seinem Vortrag zur französischen Industriepolitik die Bedeutung der wirtschaftspolitischen "Planification". De Gaulles Rückkehr an die Macht 1958 sowie die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft ein Jahr zuvor hätten zu einer Blüte des "Etat planificateur" geführt, was den "gigantisme industriel", also die staatlich betriebene Gründung international wettbewerbsfähiger Großkonzerne in wirtschaftlichen Schlüsselsektoren (wie Schwerindustrie oder der Informatik), erst ermöglicht hätte. Trotz gewisser Vorbehalte des Plenums, das die "Planungseuphorie" für überbewertet hielt und die Ausblendung der Klein- und mittelständischen Betriebe, der Bauern und Handwerker als maßgebliche Akteure des Wirtschaftsprozesses beklagte, konnte Bieganski die Plausibilität der "langen 60er Jahre" als Blütezeit des staatlichen Interventionismus in Frankreich untermauern.

Die Vorträge zur Sozialpolitik während der Zeit der "Trente Glorieuses" hatten eine klare Stoßrichtung: Es ging ihnen nicht darum, die "Trente Glorieuses" als eine sozialpolitische Erfolgsgeschichte zu skizzieren, sondern die Zeit auch hinsichtlich ihrer Fehlentwicklungen zu beleuchten, die teilweise bis heute wirksam seien. Winfried Süss (München), der den westdeutschen Wohlfahrtsstaat der 60er und 70er Jahre in den Blick nahm, und Tim Schanetzky (Frankfurt a. M.), der die Entwicklung der wissenschaftlichen Politikberatung vorstellte, plädierten beide für das Konzept der "langen 60er Jahre": In diesem Jahrzehnt bis hinein in die 70er Jahre habe es im Zuge der "Planungseuphorie" eine ungehemmte Expansion des Sozialstaates vor allem zugunsten von Rentnern und Arbeitnehmern gegeben; gleichzeitig sei es in Form der einsetzenden wissenschaftlichen Politikberatung zu einem tiefgreifenden Wandel in Bezug auf den Entstehungsprozess politischer Entscheidungen gekommen. Die "langen 60er Jahre" endeten 1974/75: Der Sozialstaat stieß an seine finanziellen Grenzen, die "Machbarkeit der Konjunktur" sowie die "Geltung wissenschaftlicher Expertise" wurden zunehmend in Frage gestellt.

Für die Sozialpolitik in Frankreich war dagegen - wie Bruno Valat (Toulouse) referierte - 1945 mit der Einführung der Sozialversicherung ein tiefer Einschnitt. Sie bedeutete für "diejenigen, die ihren Lebensunterhalt nicht durch Arbeit bestreiten können" eine Art Demokratisierung der sozialen Sicherheit. Ähnlich wie in Deutschland erfuhr auch in Frankreich die "Sécurité Sociale" im Zuge der Verwissenschaftlichung der Sozialpolitik Ende der 60er Jahre eine Ausweitung sowohl quantitativ als auch auf neue Bezugsgruppen. Dadurch wurde jedoch der besondere Charakter der französischen Sozialversicherung ausgehöhlt, deren Kassen von den Gewerkschaften verwaltet wurden und die auf den beitragzahlenden Arbeitnehmer zugeschnitten war: Die Beitragszahlungen galten nun nicht mehr als "salaires indirects", wie noch in der direkten Nachkriegszeit, sondern als ungeliebte "prélèvements obligatoires".

Bezüglich der Stadtentwicklungspolitik während der "Trente Glorieuses" in Frankreich konnte Marie-Clotilde Meillerand (Lyon 2) am Beispiel von Lyon zeigen, wie sehr die rapide Urbanisierung Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre vom französischen Staat gerade in sozialer Hinsicht als zu regulierendes Phänomen aufgefasst wurde: Eine Vielzahl von Planungsbehörden (DATAR; CIAT etc.)1 kümmerte sich in Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Einrichtungen (INSEE)2 um das "aménagement du territoire urbain", in erster Linie den sozialen Wohnungsbau. Die städtische Planungseuphorie ließ Mitte der 70er Jahre stark nach: Einerseits war der Regulierungsbedarf aufgrund der zurückgehenden Wachstumsraten der französischen Städte nicht mehr so hoch, andererseits entpuppten sich Planungsentscheidungen als Fehler (Entstehung sozialer Brennpunkte in Stadtvierteln mit einem hohen Anteil an sozialem Wohnungsbau).

Die Vorträge des Themenschwerpunkts Immigration befassten sich mit dem Verhältnis zwischen Einwanderung, der industriellen und freiberuflichen Arbeitswelt sowie der staatlichen Einwanderungspolitik im Deutschland und Frankreich der Nachkriegszeit. Ähnlich wie der Themenschwerpunkt Sozialpolitik blickten die vortragenden Referentinnen in erster Linie auf die themenspezifischen Kehrseiten der Nachkriegsjahrzehnte: Die zu großen Teilen aus muslimischen Ländern stammenden Zuwanderer partizipierten nicht in gleichem Maße an den Steigerungen der Löhne, des Lebensstandards und des Bildungsniveaus wie die einheimische Bevölkerung; sie stellten in den Augen vieler Politiker und eines Großteils der Öffentlichkeit eine unqualifizierte und billige Arbeitskraftreserve dar, die es zum Wohle des jeweiligen Gastgeberlandes zu mobilisieren galt. Karen Schönwalder (Berlin) konnte darlegen, dass letztlich die Angst der politischen Akteure vor steigenden Integrationskosten und Konflikten zwischen Zuwanderern und einheimischer Bevölkerung im Zuge der Konjunkturkrise zum Anwerbestopp ausländischer Arbeitskräfte in der Bundesrepublik 1973 führte. Laure Pitti (Paris 8) ging in ihrem Vortrag zu den algerischen Renaultarbeitern auf die bemerkenswerte historiographische Leerstelle ein, die in Bezug auf die Verknüpfung von "histoire de l'immigration" und "histoire du travail" nach wie vor besteht. Ihr mikrohistorischer Ansatz, bei dem sie die individuelle Laufbahn von etwa 1.000 algerischen Renaultarbeitern nachverfolgt hat, konnte zeigen, wie hoch die Korrelation zwischen ethnischer Herkunft und dem Status als Hilfs- bzw. angelernter Arbeiter unabhängig von Alter, Qualifikation und Dauer der Betriebszugehörigkeit in der Zeit der "Trente Glorieuses" war. Dalila Berbagui (Lyon) relativierte mit ihrer mikrohistorischen Studie zu den "Cafés et hôtels garnis "nord-africains" dans le département du Rhône" die Bedeutung der "Trente Glorieuses" im Hinblick auf die staatliche Haltung gegenüber den maghrebinischen Einwanderern: Hier stellte vielmehr der Algerienkrieg eine wichtige Zäsur dar; Cafés und Hotels gerieten als Orte algerisch-nationalistischer Agitation ins Visier der Polizei, wodurch eine Phase des gesellschaftlichen Misstrauens gegenüber den nordafrikanischen Kleinunternehmern eingeleitet wurde. Den drei Referentinnen dieser Sektion war gemein, dass sie ihr Augenmerk eher auf Randgruppen der "Trente Glorieuses" richteten, an denen die Wohlstandsentwicklung zwar nicht vorbeigegangen, ihnen jedoch nur marginal zugute gekommen ist. In der anschließenden Diskussion wurde auf die Notwendigkeit hingewiesen, die "histoire de l'immigration" nicht nur als Verlustgeschichte und gewissermaßen als Fremdkörper innerhalb der Trente Glorieuses zu deuten, sondern auch die Erfolge und "stratégies d'adaptation" vieler Einwanderer zu beleuchten.

Schließlich wurde der gesellschaftliche Umbruch der 60er und 70er Jahre in den Blick genommen. Daniela Münkel (Hannover) verwies auf das Spannungsfeld zwischen "Ökonomie und Demokratie", in dem sich die bundesdeutschen Hochschulreformen der "langen 60er Jahre" befanden, während sich Jean-Philippe Legois (Paris 1) in seinem Beitrag mehr für die inneruniversitäre Demokratisierung in Frankreich interessierte. Auch hier wurde der Unterschied zwischen deutscher "Makrogeschichte" und französischer "Mikrogeschichte" deutlich: Münkel traf ihre Aussagen vor allem auf Grundlage von Regierungserklärungen, Empfehlungen wissenschaftlicher Kommissionen und soziologischen bzw. pädagogischen Diskursen, während Legois zur Untersuchung des Wandels inneruniversitärer Entscheidungsstrukturen Akteursgruppierungen "von der Basis" (Studentenkomitees etc.) heranzog. Münkel deutete die Hochschulreform in der BRD, die einerseits den Bedürfnissen der Wirtschaft nach hochqualifizierten Absolventen sowie andererseits den gesellschaftlichen Erwartungen nach Bildung für alle nachkam, als "Erfolgsgeschichte", wohingegen die Reform der französischen Universitätsstrukturen Legois zufolge zwar nun eine studentische Mitbestimmung gewährleistete, jedoch gleichzeitig die "transformation technocratique de l'université" gegen den erklärten Willen der Studierenden wesentlich vorantrieb.

Monika Müller (Freiburg) und Anne-Claire Rebreyend (Paris 7) befassten sich mit dem Wertewandel im Bereich der Sittlichkeit. Sowohl für Deutschland als auch für Frankreich konstatierten sie für die 60er Jahre einen tiefgreifenden Wandel hin zu einem liberaleren Umgang mit Sexualität: Müller zeigte dies am Beispiel der Sexualerziehung, die ab 1965 lautstark gefordert und 1971 fester Bestandteil der schulischen Lehrpläne aller westdeutschen Bundesländer wurde. In Frankreich wurde das Reden über Sexualität in den 60er Jahren nicht nur möglich, sondern für bestimmte Altersgruppen zur Norm. Die "libération des moeurs" habe also zu einer "libération des discours" bezüglich der Sexualität geführt.

Insgesamt fiel auf, wie groß die Wirkmächtigkeit des Fourastiéschen Konzepts der "Trente Glorieuses" für die französische Geschichtsschreibung ist. Die meisten französischen ReferentInnen setzten die "Trente Glorieuses" als gegebenen zeitlichen Rahmen voraus, wohingegen die deutsche Seite sehr viel mehr auf der Grundlage von Dekaden (wie den "lange 60er Jahren") argumentierte. Dennoch wurde auf französischer Seite die Geltung der "Trente Glorieuses" in den Bereichen Wirtschaftspolitik oder Immigration durchaus kritisch hinterfragt (so Bieganski, Berbagui und Joly). Ebenso verschieden war die methodische Herangehensweise der deutschen und der französischen Beiträge: Während Erstere mehrheitlich einen makrohistorischen Zugriff wählten, wiesen die Untersuchungen Letzterer zumeist einen mikrohistorischen Ansatz auf (Legois: "Histoire d'en bas"; Rebreyend: "le héros anonyme"). Mehrere Beiträge fokussierten explizit die Fehlentwicklungen der Nachkriegsjahrzehnte, gerade im Rahmen der Themenschwerpunkte Sozialpolitik und Immigration, und kamen so Requates Aufforderung nach, die "Trente Glorieuses" nicht zu "glorifizieren". Dennoch wiesen die zentralen Analysekategorien, die der Mehrzahl der Beiträge zugrunde lagen, nämlich Liberalisierung, Demokratisierung, Westernisierung und Verwissenschaftlichung, eindeutig positive Konnotationen auf und verfestigten trotz allem den Eindruck von einer "période heureuse".

Anmerkungen:
1 DATAR steht für "Délégation à l'aménagement du territoire et à l'action régionale" und CIAT für "Comité interministériel de l'aménagement du territoire".
2 INSEE ist die Abkürzung für "Institut National de la Statistique et des Etudes économiques", vergleichbar mit dem Statistischen Bundesamt in der Bundesrepublik.


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