Kulturelle Aneignungs- und Bewahrungsprozesse und deren mediale Resonanzen am Beispiel von "Kochwissen"

Kulturelle Aneignungs- und Bewahrungsprozesse und deren mediale Resonanzen am Beispiel von "Kochwissen"

Organisatoren
Institut für Buchwissenschaft, Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Stabsbereich „Digital Memory Studies“, Department für Kunst- und Kulturwissenschaften, Donau-Universität Krems
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.11.2018 - 20.11.2018
Url der Konferenzwebsite
Von
Edith Blaschitz, Department für Kunst- und Kulturwissenschaften, Donau-Universität Krems; Christoph Bläsi, Mainzer Buchwissenschaft, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Der interdisziplinäre Workshop diente der Weiterentwicklung des Projektes „Kulturelle Aneignungs- und Bewahrungsprozesse und deren mediale Resonanzen am Beispiel von ‚Kochwissen‘“ und dem Aufbau eines Forschungskonsortiums in diesem Forschungsfeld. Die gerade zum Abschluss kommende und von der Universität Mainz geförderte Pilotphase des Projektes von Christoph Bläsi (Buchwissenschaft, Johannes Gutenberg-Universität Mainz) und Edith Blaschitz (Digital Memory Studies, Department für Kunst- und Kulturwissenschaften, Donau-Universität Krems) untersucht in einem „Mixed Methods“-Ansatz, der computergestützte und klassische geisteswissenschaftliche Methoden verbindet, Aneignungsprozesse von "fremdem" Essen in deutschsprachigen Kochbüchern im Zeitraum von 1950 bis 1980. Unterstützt werden die Projektpartner – auch auf dem jetzt vor ihnen liegenden Weg in Richtung Drittmittelförderung – von mainzed, dem Mainzer Zentrum für Digitalität in den Geistes- und Kulturwissenschaften.

Da sich das Projekt im Schnittbereich mehrerer Disziplinen – Kulturwissenschaften, Buchwissenschaft, Medienwissenschaften, (historische) Food Studies und Digital Humanities – befindet, wurden für den Workshop Expertinnen und Experten aus den betreffenden Disziplinen versammelt, um aus unterschiedlichen Perspektiven das Forschungsfeld insgesamt beziehungsweise für das Hauptprojekt auf der Basis der Erfahrungen des Pilotprojektes geeignete Forschungszugänge und -methoden zu diskutieren.

MARGARETHA SCHWEIGER-WILHELM (Amerikahaus München) umriss in ihrem Vortrag sowohl die Etablierung der Nahrungsforschung in der europäischen Ethnologie als auch aktuelle Diskurse in den Food Studies. Nahrung wird in diesem Forschungsfeld interdisziplinär in sehr unterschiedlichen Dimensionen untersucht: Genannt wurden etwa politische, regionale, gesundheitliche oder ethische Aspekte sowie Fragen der Produktion und Nachhaltigkeit. In der kulturellen Dimension werden Essen und Trinken als kulturelles System begriffen und untersucht. Methodisch kommen dabei historische Quellenarbeit, quantitative und qualitative Methoden wie Fragebögen, Leitfrageninterviews oder teilnehmende Beobachtung zur Anwendung.

JÖRG WIESEL und NICOLAJ VAN DER MEULEN (beide Hochschule für Gestaltung und Kunst Nordwestschweiz [FHNW], Basel) erörterten mit ihrem Beitrag die künstlerische Beforschung von kulturellen Codes und Essen. Wiesel und van der Meulen verwiesen insbesondere auf den Begriff des „Terroirs“, der – ausgehend von der Verwendung in der Weinwirtschaft – geeignet scheint, sich kulturwissenschaftlich mit dem Konstrukt „echter Regionalität“ auseinanderzusetzen. Besonders im Zuge von (politisch instrumentalisierten) Regionalisierungen, das heißt der Rückkehr zu Regionen, die es nicht mehr gibt, wird mit regional verankerten Konzepten wie „Terroir“ argumentiert – wenngleich das damit verbundene Wissen tatsächlich oft auf Transferleistungen aufbaut. Als Beispiel für nur vermeintlich regionale Originalität können Engadiner Zuckerbäcker dienen, die ab dem 17. Jahrhundert Konditoren-Wissen von Venedig in die Schweiz brachten, und dieses über migratorische Bewegungen als originäres Schweizer Regionalwissen festigten.

JENS RUCHATZ (Philipps-Universität Marburg) stellte in seinem medienwissenschaftlichen Beitrag zunächst fest, dass Kochbücher bisher kaum Gegenstand medienwissenschaftlicher Forschung sind. Grundsätzlich seien drei Typen von Kochbüchern identifizierbar: Kochrezepte in Rezeptsammlungen, thematisch orientierte Kochliteratur unter Verwendung von Bildelementen sowie narrativen Teiltexten und Kochschulen. Mit der Entwicklung der Fotografie wurden Kochbücher zunehmend bildzentriert. Gesellschaftliche Transformationen bringen auch eine Ausdifferenzierung der Verwendung von Kochbüchern mit sich: Sie sind nicht mehr nur Kochanleitungen, sondern werden als kulturelle Objekte mit Relevanz abseits der Frage, ob daraus gekocht wurde, wie fiktionale Textsorten gelesen (Orte der Imagination, Verbindung von Küche und Reisen). „Fremdheit“ sei im Kochbuch grundsätzlich positiv konnotiert, wobei sie sich nicht immer über den Text erschließt (zum Beispiel vermitteln manchmal erst die Bilder Exotik). Das „Fremde“ sei auch nicht immer klar definiert – ist es das Nicht-Gewohnte, das Exotische, das „Andere“?

ANDREA RAPP (Technische Universität Darmstadt) spannte den Bogen von dem bis zu diesem Zeitpunkt des Workshops meist im Fokus stehenden kulturhistorischen Modell, das mit Kontexten verschiedener Art arbeitet, zu einem philologisch-linguistischen Modell. Ein solches ist für eine Bearbeitung durch Computer deswegen offensichtlich besonders geeignet, weil es an der greifbaren sprachlichen Oberfläche ansetzt, etwa wenn in einem Kochbuchtext gesagt wird, etwas „kommt aus“ einer bestimmten Region. Für eine weitere Bearbeitung – und insbesondere auch für eine mögliche Nachnutzung durch andere ForscherInnen – muss der Kochbuchtext entsprechend einem aus der Forschungsfrage entwickelten Modell (und mit Hilfe geeigneter Mark-Ups, für die genannten Zwecke idealerweise gemäß TEI) annotiert werden. Ausgehend von der sprachlichen Oberfläche und mit Hilfe zahlreicher existierender Referenz-Datenbestände, kann dies ein gutes Stück weit maschinell erfolgen; in Fällen, in denen das aber nicht direkt möglich ist, ist eigenes, „händisches“ Annotieren erforderlich. Die Zwischenergebnisse und Ergebnisse dieser Annotations-Prozesse müssen – als Forschungsdaten, die sie sind – die Anforderungen des geplanten und vorstellbaren, aber auch anderer potenzieller Gebrauchsarten erfüllen können (wenn das Copyright das zulässt), das heißt findable, accessible, interoperable und reusable sein (dafür gibt es erprobte Vorgehensweisen sowie Infrastrukturangebote).

ROMAN KLINGER (Universität Stuttgart) stellte das computerlinguistisch-computerphilologische Feld des Opinion Minings beziehungsweise der Sentiment Analysis vor – mit dem Ziel, dass eine mögliche Übertragung auf die Anforderungen des Projektes überprüft werden kann. Bei diesen Verfahren wird automatisiert aus Texten die Einstellung von Personen gegenüber Sachverhalten gewonnen; ein typischer Anwendungsfall ist die Auswertung von Produktbewertungen in Online-Shops. Ein state-of-the-art-Vorgehen ist es, die einzelnen Worte entlang geeignet zu wählender Dimensionen in vieldimensionale Vektoren umzuwandeln und für den ganzen Text oder Textabschnitte die Bereiche in dem Raum zu untersuchen, in denen „Sentiment“ (typischerweise nur in den Dimensionen positiv / negativ / neutral) ausgedrückt wird. Diese Festlegung ist nicht ganz einfach, da es vollständige Korpora relevanter Worte zum Ausdruck von Einstellungen nicht gibt. Noch einen Schritt weiter geht die Emotion Analysis, bei der versucht wird, aus Texten entlang bestehender psychologischer Modelle (zum Beispiel mit fünf zentralen Emotionen) automatisiert Emotionen zu identifizieren. Auf der Basis von bestehenden Erkenntnissen den typischen Emotionsverlauf von Vertretern betreffend, kann so beispielsweise versucht werden, das Genre eines literarischen Textes automatisiert zu bestimmen; ein Störfaktor ist dabei, dass an derselben Stelle verschiedene Personen verschiedene Emotionen ausdrücken können. Klinger könnte sich vorstellen, dass so identifizierte Emotionen auch die Identifikation von „Fremdem“ in Kochbüchern unterstützen könnten.

Die den Vorträgen folgenden multiperspektivischen Diskussionen der Expertinnen und Experten erwiesen sich als überaus fruchtbar für die weitere Exploration des Forschungsfeldes und den anstehenden Drittmittelantrag. So wurde immer wieder betont, dass für die computergestützte Datenanalyse zwar die Entwicklung von Markern für „Fremdheit“ notwendig erscheine, dieser Begriff aber schwer operationalisierbar sei, da es sich bei den konstruierten regionalen/nationalen Räumen, die „Eigenes“ und „Fremdes“ definieren, um soziale Konstrukte handelt. Hier kann – das hatte sich schon in der Schlussphase des Pilotprojektes abgezeichnet – stattdessen die Frage nach Transfers produktiver sein. Für die (auch computergestützte) Analyse von Kochbüchern eignen sich – auch das eine Bestärkung im Rahmen der Diskussionen – nicht nur Textdaten, sondern auch Bilder, die Typografie, das Layout und strukturell-formale Aspekte (etwa die Tatsache ausführlicherer Beschreibungen von „fremden“ Rezepten, Häufigkeiten). Selbstverständlich muss systematisch auch Kontext- und Hintergrundwissen einbezogen werden, so etwa über referenzierbare zeitgenössische Quellen. Eine Bedeutungshypothese kann aber auch so identifizierbaren Bezügen wieder erst mit Hilfe von Close Reading und hermeneutischen Analysen zugewiesen werden. Auf einer pragmatischeren Ebene wurde darauf hingewiesen, dass für die Frage der Gestaltung des Kochbücher-Korpus für das Hauptprojekt angesichts des noch nicht sehr weit zurückliegenden Untersuchungszeitraumes urheberrechtliche Beschränkungen zu einem frühen Zeitpunkt in Betracht gezogen werden müssen.

Konferenzübersicht:

Margaretha Schweiger-Wilhelm (München): Aktuelle Diskurse in den historischen Food Studies

Jörg Wiesel / Nicolaj van der Meulen (beide Basel): Essen und Regionalisierung

Jens Ruchatz (Marburg): Kochbücher und andere Kochmedien

Andrea Rapp (Darmstadt): Mark-Up: Best Practices

Roman Klinger (Stuttgart): Sentiment Analysis, Sprachtechnologie-Anwendungen zu Rezepten