Regions of Imperial Russia: Identities, Representations, Meanings

Regions of Imperial Russia: Identities, Representations, Meanings

Organisatoren
Ekaterina Boltunova / Willard Sunderland, Higher School of Economics, Moskau
Ort
Moskau
Land
Russian Federation
Vom - Bis
21.10.2019 - 24.10.2019
Url der Konferenzwebsite
Von
Daria Sambuk, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Seit dem imperial turn in der Forschung zur Geschichte Russlands stehen die Bestandteile des russischen Imperiums im Zentrum des historiographischen Interesses. Dabei befassen sich die Historiker schon allein aus Gründen der Praktikabilität meist mit territorialen Einheiten, deren Definition sich nach den geographischen oder administrativen Grenzen richtet. Auf einer beeindruckenden Vielfalt an Regionalstudien aufbauend, möchte das an der Moskauer Higher School of Economics im April 2019 gegründete Laboratorium „Russia’s Regions in Historical Perspective“ unter der Leitung von Ekaterina Boltunova (Moskau) und Willard Sunderland (Cincinnati / Moskau) einen neuen Fokus auf die Geschichte der Regionen des Russländischen Reiches und der Sowjetunion legen. Das Anliegen ist zweierlei: Zum einen soll die Konstruktion regionaler Identifikationen und die Selbstverortung der Regionen im Gesamtimperium erforscht werden; zum anderen sollen horizontale Beziehungen zwischen den Regionen ins Blickfeld rücken, um ein Gegengewicht zum binären Verhältnis zwischen Zentrum und Peripherie zu bilden. Die erste Tagung des Laboratoriums befasste sich mit Identitäten, Repräsentationen und Vorstellungen von Regionen im Russländischen Reich. Der folgende Bericht soll einen Eindruck von den wichtigsten Schneisen vermitteln, die die Tagung in das weite Forschungsfeld geschlagen hat. Der Umfang der Konferenz und die Vielfalt der präsentierten Fallstudien machen es leider unmöglich, alle Vorträge im Rahmen des Berichts angemessen zu würdigen.

In seinem Eröffnungsvortrag schlug WILLARD SUNDERLAND (Cincinnati / Moskau) vor, sich von der geographischen Konzeption zu lösen und die Region nicht als einen klar eingegrenzten Ort, sondern eher als einen Beziehungsknoten zu denken. Erstens suggeriere die Geographie eine innere Kohärenz und eine gewisse Permanenz der Region als Gebilde, zweitens lasse sie der menschlichen Agency bei der Konstruktion von Regionen nicht genügend Raum. Aus Sunderlands Sicht seien vielmehr das Verhältnis der Menschen zu anderen Regionen, ihre räumlichen Konzeptionen und damit zusammenhängende Identifikationen entscheidend für das Verständnis von Region. Regionen seien somit keine festen Entitäten, sondern sich wandelnde Konstrukte. Gerade im russischen Fall deute allein schon die begriffliche Vielfalt zur Bezeichnung der Region auf überaus unterschiedliche Konzeptionsmuster. Der Geographie kommt in Sunderlands Überlegungen stattdessen eine andere Rolle zu, nämlich bei der Verankerung einer Region an einem bestimmten geographischen Punkt: einer Stadt (Podmoskov’e), einem Gebirge (Zakavkaz’e), einem Gewässer (Priamurskij kraj) oder auch einer Grenze (pogranič’e).

Angesichts der großen Heterogenität der Regionalkonzepte plädierte SUSAN SMITH-PETER (New York) für eine vergleichende Perspektive sowohl innerhalb des Russländischen Reiches als auch auf europäischer Ebene und für eine Typologisierung der Regionen etwa in Großregionen wie Sibirien oder Gouvernements und Kreise. Regionale Identitäten ließen sich seit den 1820er-Jahren feststellen, wobei die Romantik einen entscheidenden Einfluss auf die Konstruktion der Region als eine Einheit mit einer eigenen Kultur und Geschichte ausgeübt habe. Diese kulturellen Besonderheiten hätten in der politischen Diskussion wiederum als Argument gedient, um nach einer stärkeren Repräsentation der Regionen auf der Reichsebene zu verlangen. Im Gegensatz zu vergleichbaren Phänomenen im westlichen Europa seien regionale Identitäten im Russländischen Reich zu einem großen Teil von nichtadeligen Akteuren geformt worden. Ihre Bewegungen blieben von den Regionalentwürfen des Adels weitgehend getrennt. Während Smith-Peter davon ausging, dass die von der Regierung im 18. Jahrhundert geschaffenen territorialen Einheiten zunächst keine Verankerung im Selbstverständnis der lokalen Bevölkerung hatten, fragte OL’GA GLAGOLEVA (Toronto) nach den Identifikationsmustern der Adeligen, die sich an der Gesetzgebenden Kommission der Jahre 1767-1774 beteiligten. Dabei könne man entgegen der verbreiteten Forschungsmeinung bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts anhand der unterschiedlichen Tätigkeitsbereiche der Adeligen zwischen einem Hauptstadtadel und einer Provinznobilität differenzieren. Einen Einblick in die Konstruktion regionaler Identitäten bei Leibeigenen gab EROFEJ MORJAKOV (Moskau), indem er bäuerliche Petitionen aus elf Gouvernements analysierte, die im Jahr 1797 an Paul I. adressiert wurden. Dabei kämen nicht nur Bezüge zu einer kleinen territorialen Einheit, in der sich der Alltag der Bittsteller abspielte, zum Vorschein. In vielen Fällen seien auch Vorstellungen von historischen Großregionen artikuliert worden, die teilweise auf die Zeit vor der Einführung der Leibeigenschaft für die jeweilige Bauerngruppe zurückgingen.

Doch Regionen seien nicht ausschließlich auf lokaler Ebene konstruiert worden, so der Tenor des ersten Panels, das sich mit Begriffen, Kategorien und Chronologien beschäftigte. Auch zentralstaatliche Institutionen und Akteure hätten ihre eigenen Konzeptionen entwickelt, die sich bei weitem nicht in der Ziehung administrativer Grenzen erschöpften. Wissenschaftler hätten dabei einen wichtigen Anteil an der Formulierung von Regionalentwürfen gehabt. So suchten etwa Naturforscher und Statistiker im Dienste der Freien Ökonomischen Gesellschaft und des Staatsdomänenministeriums das Imperium in natürliche Regionen einzuteilen, so MARINA LOSKUTOVA (St. Petersburg). Historiker fochten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Streit über die Bedeutung zentralstaatlicher und regionaler Dynamiken in der Geschichte Russlands aus, wie VLADISLAV BOJARČENKOV (Rjazan’) schilderte. Die imperiale Macht wiederum passte die administrative Raumteilung den jeweils aktuellen Erfordernissen der Herrschaftssicherung und -ausübung an. Wie lange diese politischen Strukturen bestanden, hing dabei nicht zuletzt von Personen ab, die zur Ausübung bestimmter Funktionen bestimmt wurden – etwa im Falle der Kaukasischen Statthalterschaft, die laut AMIRAN URUŠADZE (Rostov am Don) auf Michail Voroncov zugeschnitten gewesen sei und dem bestehenden Territorialprinzip in der Verwaltung des Imperiums widersprochen habe.

Die Teilnehmer der Tagung lieferten zahlreiche Belege für die Wandelbarkeit der Konstruktion Region. VALERIJ BADMAEV (Ėlista) demonstrierte, wie eng vom Buddhismus und vom Islam dominierte Regionen mit anderen Zentren als der russisch-imperialen Metropole verbunden waren. Die eher lose kulturelle Bindung zum Zentrum des Russländischen Reiches stellte eine besondere Herausforderung für den erstarkenden russischen Nationalismus dar. Die sogenannte Russifizierungspolitik habe dabei die Position nichtrussischer Territorien innerhalb des Imperiums umgedeutet, so KARSTEN BRÜGGEMANN (Tallinn). So seien die Ostseegouvernements in dem seit den 1860er-Jahren dominierenden slawophil-nationalen Diskurs zu einem Bestandteil der sogenannten Großrussischen Ebene umdefiniert worden. Das Problem der Legitimierung der russischen Herrschaft über ein nichtrussisches Territorium habe dadurch gelöst werden sollen, dass man die Region zu einem russischen Territorium umkodierte. Indem die imperialen Eliten sich bemühten, dem nationalen Prinzip innerhalb des imperialen Rahmens Geltung zu verschaffen, marginalisierten sie die Rolle der deutsch-baltischen Bevölkerung in der Region.

Die Konstruktion von Regionen verlief gleichzeitig auf mehreren Ebenen. Wirtschaftliche und juristische, soziale und militärische Logiken produzierten eine Vielfalt von Entwürfen, die teilweise miteinander konkurrierten. Dabei konnten die einzelnen Entwürfe auch in sich inkonsistent sein, wie etwa im Fall Sibiriens. Hier mischten sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Raumkonzeptionen wie der Ferne Osten und das Amur-Gebiet mit hinein. NATALIJA RODIGINA (Novosibirsk) betonte, dass die Konzeptionen je nach Kommunikationskontext variierten. Ein und derselbe geographische Ort konnte gleichzeitig Bestandteil unterschiedlicher Regionalkonzepte sein, etwa im Falle Murmans, wie JULIJA LAJUS (St. Petersburg) ausführte.

Während die meisten Beiträge sich auf die Konstruktion einer Region konzentrierten, fragte EKATERINA BOLTUNOVA (Moskau) nach der Repräsentation mehrerer Regionen und ihrer Selbstverortung im imperialen Ganzen. Der Leichenzug des 1825 verstorbenen Alexanders I. von Taganrog nach St. Petersburg stellte die Beamten und lokalen Eliten der betroffenen Territorien vor die präzedenzlose Aufgabe, eine angemessene symbolische Darstellung der jeweiligen Region und der imperialen Macht zu erfinden. Debatten über Hierarchien der einzelnen Reichsbestandteile betrafen nicht nur die Zusammensetzung der Prozessionen, sondern erstreckten sich bis zur Grabinschrift.

Dass der Fokus auf die Region ein fruchtbares Forschungsfeld eröffnet, zeigte die Abschlussdiskussion, in der mehr Fragen aufgeworfen wurden als zu Beginn der Tagung. Inwieweit ist eine Typologisierung der Regionen sinnvoll? Wo fehlt es in der Forschung zur Region an Theoriebildung, die sie auch methodisch vom kraevedenie abheben würde? Inwieweit stellen nicht nur die Randgebiete des Imperiums eine besondere Art von Region dar, sondern auch das imperiale Zentrum? Lässt sich das in den Quellen begründete Problem der Elitenperspektive ausgleichen? Appelle zu einer Stärkung der komparativen Herangehensweise, die andere Imperien einbezieht; zum Blick auf die andere Seite der Reichsgrenzen, der eine Verankerung der Regionen in anderen kulturellen und wirtschaftlichen Zusammenhängen erhellen könnte; zur Hinwendung zur Region als Mythos und zahlreiche andere Hinweise auf Forschungsdesiderate lassen spannende Forschungsergebnisse erwarten.

Konferenzübersicht:

Panel 1: Regions of Imperial Russia: Terms, Categories, Chronologies
Moderation: Ekaterina Boltunova (Moskau)

Willard Sunderland (Cincinnati / Moskau): The Trouble with Regions: What, When, How, Why?

Susan Smith-Peter (New York): Regions and Regionalism in Russia: A Comparative Look

Marina Loskutova (St. Petersburg): Climate and the Regionalization of the Russian Empire: The Contributions of the Ministry of State Domains, 1837-1855

Vladislav Bojarčenkov (Rjazan’): “Russian History is In Essence [...] a History of Regions“: Provincialism, Nationality, and Colonization in the Federalist Discourse of the Great Reform Era

Panel 2: Images and Representations (Part I)
Moderation: Paul Werth (Las Vegas)

Karsten Brüggemann (Tallinn): The Invention of the Russian Pribaltiiskii Krai: Challenges and Consequences

Valerii Badmaev (Ėlista): The Kalmyk Steppe: „Russia’s Very Own East”

Panel 3: The Borderland: A Special Sort of Region?
Moderation: Yury Akimov (Moskau / St. Petersburg)

Julija Lajus (St. Petersburg): Murman: From „Coast“ to Oblast’: Spatial Transformation and Colonization in the Russian North, 1868-1920

Il’ja Solomešč (Petrozavodsk): „A Blessed Land...Well, Let Them All Go to Hell“: Anti-Finnish Discourses in the Russian Empire During World War I

Elena Kosovan (Moskau): The Towns of the Steppe Frontier as Capitals of an Independent State – the Case of Kazakhstan

Panel 4: Images and Representations (Part II)
Moderation: Catherine Pickering-Antonova (New York)

Ol’ga Glagoleva (Toronto): The Provinces as a Centre: Studying the Formation of Local Identities based on the Provincial Nobility’s Participation in the 1767-1774 Legislative Commission

Ekaterina Boltunova (Moskau): Territory and its Meanings in the Funeral Procession of Alexander I (1825-1826)

Ekaterina Tumanik (Novosibirsk): The Geography and Landscape of the Trans-Baikal and the Amur Region in the Mid-19th Century as Reflected in the “Painting Book“ of G.S. Bil’dziukievich

Panel 5: The Economic Point of View
Moderation: Marina Loskutova (St. Petersburg)

Catherine Pickering-Antonova (New York): There Was No Proto-Industrialization: How Regions are the Key to Understanding Russian Economic Development

Vladimir Škerin (Ekaterinburg): The Mining Town of Ekaterinburg: The Free Labor Capital That Wasn’t

Panel 6: Peoples and Dialects
Moderation: Willard Sunderland (Cincinnati / Moskau)

Ivan Golovnev (St. Petersburg): The Kamchadal Scholar from the Land of Volcanoes: Prokopii Novgrablenov and his Images of Kamchatka in the early 1900s

Mark Soderstrom (Aurora [Ill.]): “A Country Born of Manifold Embryos“: Region and Empire in Petr Slovtsov’s Historical Survey of Siberia

Mira Bergel’son / Andrei Kibrik / Marina Raskladkina (Moskau): The Old Residents of Siberia and Alaska: Language in Historical Context

Natalija Suvorova (Omsk): Siberia and Pomor’e as Colonized Borderlands in the Discourse of Late Imperial and Early Soviet Specialists

Panel 7: Regional Governance (Part I): Law and Justice
Moderation: Natalija Suvorova (Omsk)

Ivan Popp (Ekaterinburg): Volost’ Justice: An Institution for the Preservation of the Legal, Ethnic, and Social Diversities of the Russian Empire

Evgenij Krest’jannikov (Tjumen’): Space vs. Empire: Geography and the Pathways of Judicial Power in Late Imperial Siberia

Panel 8: Images and Representations (Part III)
Moderation: Julija Lajus (St. Petersburg)

Natalija Rodigina / Natal’ja Matachanova (Novosibirsk): “Priamur’e is Not Siberia“: Discourses of Distinction between Siberia and the Far East in the Social Imagination and the Reports of the Governors-General in the Second Half of the 19th Century

Aleksej Volvenko (Taganrog): How a „Land“ [zemlia] Became a “Region” [oblast’]: On the History of the Renaming the Land of the Don Cossacks in 1870; Thoughts and Meanings

Maksim Zajcev (Saratov): From Griboedov’s „Sticks“ to „the Capital of the Volga“: The Evolution of Saratov in the 19th Century

Panel 9: Regional Governance (Part II): Territory and Administration
Moderation: Sören Urbansky (Washington)

Michail Druzin (St. Petersburg): Perm Province as a Destination for Officials on Assignment in the Late 19th and Early 20th Centuries: Points of Attraction and Aversion

Amiran Urušadze (Rostov am Don): The Unexpected Viceroyalty of the Caucasus: The Emperor, the Ministers, and the Viceroys and the Struggle for Russia’s Future on the Southern Frontier

Young Scholars’ Conference

Session1
Moderation: Ekaterina Boltunova (Moskau)

Erofej Morjakov (Moskau): Petitions to the Monarch and Serfs’ Representations of the Region in 1797

Ksenija Barabanova (Surgut): Epidemic Riots in the 1830s: Regional Particularisms and Imperial Commonalities

Session 2
Moderator: Paul Werth (Las Vegas)

Ismail Biyashev (Chicago): Nation? Region? Province? The Curious Case of the Uranhai and the Siberian Regionalists

Aleksandr Družkin (Saratov): The Land of the Khoper River (Prikhoper’e) as a Case of Local Identity within Russian Regional Space: Geographic and Historical Factors

Roman Evtechov (Moskau): “We Won’t Survive Without Little Women“: Prostitution in the Trans-Baikal in the Second Half of the 19th and Beginning of the 20th Centuries


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Deutsch
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