Körper

Organisatoren
Arbeitskreis Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit; Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Fachbereich Geschichte
Ort
Stuttgart
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.10.2021 - 30.10.2021
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Von
Maximilian Diemer, Ludwig-Maximilians-Universität, München / Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne, Paris; Lara Luica Graab, Universität der Bundeswehr, München / École des hautes études en sciences sociales, Paris

Die Veranstalter:innen der 26. Tagung des Arbeitskreises Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit – Antje Flüchter (Bielefeld), Andrea Griesebner (Wien), Michaela Hohkamp (Hannover), Monika Mommertz (Basel), Claudia Opitz-Belakhal (Basel), Sophie Ruppel (Basel) und Johannes Kuber (Rottenburg-Stuttgart) – hatten elf Referent:innen eingeladen, die zu theoretischen Grundlagen der Körpergeschichte, theologischen Debatten über die Androgynität Christi, religiösen Moralvorstellungen und Kleiderordnungen, Praktiken zur Selbstoptimierung, Körperwahrnehmung und deren Veränderung im Alter sowie zur Relation von Körper und Herrschaft und über das neue Forschungsfeld der DisAbility Studies vortrugen. Dabei wurde deutlich, dass der Fokus auf den Körper eine Reihe neuer Erkenntnisse liefern kann, insbesondere was die Handlungsspielräume der Menschen und deren Grenzen in der Frühen Neuzeit betrifft. Der Körper, das arbeiteten die Vortragenden heraus, steht immer in einem Spannungsfeld von gesellschaftlichen Erwartungen und individuellen Handlungsmöglichkeiten.

Zum Auftakt der Tagung gab MAREN LORENZ (Bochum) einen historischen Abriss der Körpergeschichte mit ihren vielfältigen Bewegungen und Theorien von den 1980er-Jahren bis heute. In ihrem Abendvortrag spannte sie einen Bogen von den Anfängen in Feminismus, Geschlechtergeschichte und französischem Poststrukturalismus über den linguistic turn hin zu aktuellen Forschungsansätzen wie den Postcolonial oder DisAbility Studies. Deutlich wurde, dass die Körpergeschichte stark von Theorien aus Literaturwissenschaft, Soziologie und Philosophie beeinflusst ist. Die aktuelle Körpergeschichte konzentriert sich insbesondere auf die Identitätsbildung des Individuums bei gleichzeitiger Kollektivierung alter und neuer Zugehörigkeiten. Das konzeptionelle Problem, das sich durch alle Strömungen und Perspektiven zieht, ist die Frage nach dem autonomen Subjekt (agency), das dem in der und durch die Theorie geformten gesellschaftlichen Subjekt (Foucault und Butler) entgegensteht. Abschließend gab Lorenz den Denkimpuls, sich über die eigenen Erwartungen an die Körpergeschichte klarzuwerden, insbesondere über das Erkenntnisinteresse dieser Herangehensweise.

Im ersten Panel sprach ANSELM SCHUBERT (Erlangen) über Aspekte eines Forschungsprojekts, das eine Gendergeschichte Christi von der Antike bis heute zum Ziel hat. Die in der akademischen Theologie lange als schlichtes Faktum angesehene Männlichkeit Jesu problematisierte er anhand von mehreren Beispielen: Ab 1500 gab es im Katholizismus vermehrt Frauen (Chiara Bugni, Lucia Brocadelli), die als weibliche Inkarnation Christi verstanden wurden. Eine fluide Geschlechtlichkeit Christi zeigt sich nicht nur in Theorien der Androgynität, wie sie Jakob Böhme (1575–1624) vertrat, sondern auch in Zuschreibungen der Weiblichkeit als Attribut seiner Person, die einzelne Denker wie Guillaume Postell (1510–1581), aber auch religiöse Splittergruppen wie die Shaker vornahmen. Schubert wies darauf hin, dass die Unterscheidung von sex und gender in diesem spezifischen Fall keinen Sinn habe, da es nicht um Christus als historische Person, sondern als normative Vorstellung von Männlichkeit gehe: Der traditionell betonten Ungeschlechtlichkeit Christi wurde eine prononcierte Geschlechtlichkeit gegenübergestellt. Die Tatsache, dass Modelle einer Androgynität Christi ausschließlich in der Frühen Neuzeit entwickelt wurden, versuchte Schubert als Kritik an der Entwicklung des Zwei-Geschlecht-Modells zu interpretieren.

MALTE WITTMAACK (Bielefeld) stellte Ergebnisse seiner Forschungen vor, die im Rahmen des SFB-Projektes „Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern“ entstanden sind. Wie Kleidung als tertium des Vergleichens dienen kann, wann ein Körper zum comparatum werden kann und welche Rolle die Religion in diesem Prozess einnimmt, waren die zentralen Fragen, die der Referent mit Fallbeispielen wie einem Reisebericht von Reinhold Lubenau (1587–1589) beantwortete. Der Vergleich von unterschiedlicher Kleidung in frühneuzeitlichen Reisetagebüchern diente den Reisenden dazu, den Daheimgebliebenen unbekannte Kulturen näherzubringen und gleichzeitig Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen oder Handlungsräume von Männern und Frauen darzustellen. Der „körperliche Leib“ diente Wittmaack als analytischer Begriff, mit dem die Diskurse über Leib und Körper und somit von haptischen und optischen Wahrnehmungsmustern vereint werden können. Der körperliche Leib wurde als Ausdruck von (Religions-)Zugehörigkeit verstanden und war daher in soziale Positionierungsprozesse eingebunden. Der Referent zeigte zudem, dass die historische Untersuchung von Vergleichspraktiken besonders produktiv ist, um die dynamische Verflochtenheit der Kategorien „Körper“ und „Religion“ aufzuzeigen.

ANTJE FLÜCHTER (Bielefeld), deren Forschungen ebenfalls im SFB „Praktiken des Vergleichens. Die Welt ordnen und verändern“ angesiedelt sind, beschäftigte sich mit der Verschiebung von Differenzkategorien in Bezug auf Körper von der Vormoderne bis zur Moderne. Zunächst wies sie darauf hin, dass Rassismus eine Essentialisierung der Differenz zugrunde liegt, die Gruppenzugehörigkeiten zementiert und zum Schicksal macht. Das Vergleichen von Körpern ist eine Praktik, die instrumentalisiert wird, um Identitäten und Alteritäten zu konstruieren, die beispielsweise zur Errichtung westlicher Überlegenheitsdiskurse dienten. Dabei sind die Tertia nicht natürlich, sondern bewusst ausgewählt, was die Referentin u.a. an Reisebeschreibungen um 1700 von Charles Dellon, Abraham Rogerius und Friedrich Ratzels biologisierender und rassifizierter Einordnung deutlich machte. Anschließend kontrastierte sie Ratzel und Rogerius mit dem physiognomischen Konzept Giovanni della Portas, einer ganz anderen Art, Menschen über Körperlichkeit zu ordnen. Auf die Geschlechtergeschichte bezogen zeigte Flüchter abschließend, dass Kategorien wie „Rasse“, „soziale Herkunft“ und „Geschlecht“ zusammengedacht werden müssen, auch wenn sie je nach untersuchtem Autor unterschiedliche Vorränge haben.

Im zweiten Panel über Selbstzeugnisse widmete sich SELINA BENTSCH (Basel) den Körperbeschreibungen in den Tagebüchern der aus dem Basler Großbürgertum stammenden Anna Maria Preiswerk-Iselin (1758–1840). Altersbedingt nicht mehr in der Lage, weitere Kinder zu bekommen, versuchte Iselin ihrer vermeintlichen gesellschaftlichen Bedeutungslosigkeit entgegenzuwirken, indem sie plante zu lehren und eine Schule zu gründen, deren Eröffnung ihr jedoch verwehrt blieb. Bentsch zeigte an diesem Beispiel, wie Geschlecht und Alter die Handlungsspielräume von Frauen einschränken konnten. Gleichzeitig wurde durch Iselins Beschreibungen ihres alternden Körpers ihre Vorstellung über Seele-Körper-Beziehungen sichtbar, die mit Selbstverbesserungspraktiken verbunden waren. Die Referentin wies außerdem darauf hin, dass das Tagebuch Schlüsse auf die medizinischen Praktiken sowie die frühneuzeitliche Arzt-Patienten-Beziehung zulässt.

VITUS HUBER (Genf) beschäftigte sich in einem praxeologischen Ansatz mit Praktiken der Selbstbeobachtung und -optimierung durch Schreiben und gab zunächst einen Abriss der profanen und religiösen Appelle zur Selbstprüfung bis zur frühneuzeitlichen Autoobservation aus ästhetischen wie wissenschaftlichen Gründen. Anschließend präsentierte der Referent seine Untersuchung einer geplanten, anhaltenden und systematischen Selbstbeobachtung, verstanden als Selbstüberwachung, am Fallbeispiel des „Journal de mes actions“ (1746–1748/1771–1789) der Henriette Stettler (Herport). Diese Quelle, mehr einem compte personnel als einem journal intime ähnelnd, zeichnet sich durch die normative Dominanz des Vaters im Text aus und enthält deshalb weniger Passagen klassischer Introspektion als vielmehr solche der Reflexion eigenen Fehlverhaltens. Dieses als Frömmigkeitspraxis deutbare demütige Zeugnisablegen durchzog die Bände als Basso continuo und ging im Sinn einer Foucault’sche Disziplinierungstechnologie des Selbst mit der Affirmation geschlechterspezifischer Verhaltenserwartungen einher. So ermöglichte das „Journal“ einen Einblick in die Wechselwirkung von antizipierter Fremd- und Selbstbeobachtung. Die reflektierten Körpererfahrungen waren auch gekennzeichnet durch die frappante Nichtbenennung von Sexualität in Gedanken oder Tat. Während Huber in der Quelle einen typischen Fall des Tagebuchschreibens der Frühen Neuzeit sah, erkannte er dessen Besonderheit vor allem darin, dass Henriette Stettler ihre Fehler in ungewöhnlicher Weise als Strichlisten quantifizierte.

Das Panel schlossen CAROL NATER CARTIER (Baden/CH) und CORINA BASTIAN (Freiburg i. Br.) mit einem Vortrag zu der von ihnen konzipierten und im Historischen Museum Baden gezeigten Ausstellung „Badekult. Von der Kur zum Lifestyle“ ab. Dabei führten sie durch den Prozess von der Idee, das Badeerlebnis aus der Perspektive der Körper-Mensch-Beziehung zu erzählen, bis zu deren Umsetzung. Anhand von fünf Kernaussagen wurde die Ausstellung strukturiert und auf die musealen Räumlichkeiten aufgeteilt. Im ersten Raum „Garderobe“ wurde der Körper als Statussymbol in seinem Wandel betrachtet. Der anschließende „Nacktraum“ eröffnete das Geheimnis des Körpers in der Dimension der historischen Bedingtheit gesellschaftlicher Normen von Scham. Der „Therapieraum“ thematisierte den Körper als Maschine, insbesondere mit Blick auf verschiedene medizinhistorische Ansätze zu seiner Reparaturfähigkeit. Des ökonomischen Aspekts des Geschäfts mit dem Körper nahm sich das „Heilbad“ an, das im Spiegel der Badener Lokalgeschichte gesundheitliche Heilsversprechen im Zeitverlauf problematisierte. Der abschließende „Ruheraum“ widmete sich dem Körper als Ausdruck der Seele in meditativer Weise. Nater Cartier und Bastian wiesen abschließend auf museumspädagogische Herausforderungen hin, wie etwa die Übersetzungsleistung der Ideen in gegenständliche Formen oder die Schwierigkeit, einem historische Linearität erwartenden Publikum eine konzeptstrukturierte Raumgestaltung von Beginn an verständlich zu machen.

Das dritte Panel zum Thema „Disability“ wurde von CHRISTINA SCHRÖDER (Bochum) mit einem Vortrag zu Schwangerschaften und Sukzessionen im Fürstentum Nassau-Siegen im 18. Jahrhundert eröffnet. Als Versuch, der Kulturgeschichte des Politischen eine dezidiert körpergeschichtliche Dimension hinzuzufügen, stellte sie einen Ansatz für eine Strategiegeschichte der Schwangerschaft vor. Da Fürstinnen aus der Unsicherheitssituation eines Schwangerschaftsverdachtes bzw. der Performanz einer angenommenen Schwangerschaft ihren machtpolitischen Handlungsspielraum im Sukzessionskontext ausweiten konnten, stand die Frage nach der Nutzung dieser Möglichkeit im Vordergrund. Die Doppelfallstudie der protestantischen Fürstinnenwitwe Sophie zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein 1734 und der katholischen Fürstinnenwitwe Ernestine Leopoldina von Hohenlohe-Bartenstein 1735 der beiden Nassau-Siegen wurde möglich durch ideale mikrohistorische Untersuchungsbedingungen. Die Multiperspektivität des Schwangerschaftserlebens und der -strategie dieser intersektionalen (schwangere und verwitwete Fürstinnen) Fallbeispiele nutzte Schröder zu einer umfassenden Untersuchung verschiedener gegenderter Zuschreibungspraktiken – seien sie medizinisch, politisch oder konfessionell – und Instrumentalisierungsstrategien.

Das letzte Panel endete mit dem Vortrag von JULIA GEBKE (Wien) und JULIA HEINEMANN (Wien), die das kulturelle Modell von Beeinträchtigung aus den Disability Studies als allein anwendbar auf historische Fragestellungen begriffen. Die beiden großen Hürden einer Adaption auf den frühneuzeitlichen Quellenbestand liegen im fehlenden Sammelbegriff sowie im Mangel an Gruppen von Menschen mit Beeinträchtigung, die sich als solche beschrieben haben. DisAbility muss für die Vormoderne stets auch als Ability verstanden werden, was zu einer fluiden Kategorisierung und einer ambiguen Terminologie verpflichtet. Anhand zweier Fallbeispiele, den Invaliden in der Habsburgermonarchie (Heinemann) und den Melancholikern (Gebke) wurde das Konzept von DisAbility History erprobt. Erstere waren durch ein eingrenzbares Quellenkorpus sowie den administrativen Rahmen ihrer Versorgung mittels semantisch-lexikalischer Analysen greifbarer, wenn auch der „Würdigkeitsanspruch“ mit einer Vielzahl an Merkmalen verknüpft werden konnte. Die Melancholiker waren dagegen noch flexibleren Grenzen von Dis- und Ability ausgesetzt, wie die Fallstudie zu Kaiserin Maria von Spanien und der politischen Instrumentalisierung ihres Leidens deutlich machte. Die vorgestellte Formenvielfalt machte die Bedeutung des intersektionalen Ansatzes offenbar. Während DisAbility von der Körpergeschichte den Körper als historisierbaren Analysegegenstand übernehmen sollte, halten es die Referentinnen für geboten, in der Körpergeschichte selbst kritischer mit den Intersektionalitäten von Ability und DisAbility umzugehen, sowie gerade den Grenzbereichen von Kategorisierungen mehr Aufmerksamkeit zu widmen. DisAbility wird aber vor allem für die Verdeutlichung historischen Wandels nutzbar werden, weniger als operationalisierbares Analysekonzept in der Quellenarbeit – so die Bemerkung von Malte Wittmaack in der Diskussion –, gilt es für die Frühe Neuzeit dort doch vorrangig, andere Referenzkategorien zu beachten.

Die Abschlussdiskussion förderte drei Ergebnisfelder zutage: Zunächst hatten alle Beiträge deutlich gemacht, wie wichtig die Beachtung von Intersektionalitäten und das Abbilden dieser relationalen Kategorienvielfalt für das Verständnis vormoderner Gesellschaften ist. Zweitens bemerkte Michaela Hohkamp die herausragende Rolle der Religion bzw. Konfession als Erklärungsfaktor in den Vorträgen und erinnerte an die Notwendigkeit, diese Dimension für die Frühe Neuzeit stets mitzudenken. Zuletzt verwies Antje Flüchter auf den bisher in der Geschlechtergeschichte noch nicht ausreichend beachteten ontological turn, dessen vielversprechendes Innovationspotential auf der nächsten Tagung des Arbeitskreises aufgenommen werden soll, die vom 27. bis 29. Oktober 2022 zum Thema „Natürlich-Übernatürlich. Natur und Geschlechtsbegriff“ stattfinden soll.

Konferenzübersicht:

Abendvortrag

Maren Lorenz (Universität Bochum): Körpergeschichte revisited. Neuere Entwicklungen und Herausforderungen

Panel I: Körper/Religion und Geschlecht

Anselm Schubert (Universität Erlangen): Christus als Androgyn. Ein Problem der frühneuzeitlichen Geschlechtergeschichte

Malte Wittmaack (Universität Bielefeld): „In den Heusern aber halten sich die Frauen uber die Massen stadtlich wie Furstinnen“. Kleidung und Geschlecht in der europäischen Wahrnehmung der Bevölkerung des Osmanischen Reiches (1553–1610)

Antje Flüchter (Universität Bielefeld): Den Körper vergleichen? Frühneuzeitliche Wahrnehmungen Indiens zwischen Religion, „Rasse“ und Geschlecht

Panel II: Selbstzeugnisse

Selina Bentsch (Universität Basel): Das Alter(n) aus weiblicher Sicht. Körpererfahrungen der Anna Maria Preiswer-Iselin (1758–1840)

Vitus Huber (Universität Genf): Körper und self-monitoring in der Frühen Neuzeit

Carol Nater Cartier (Historisches Museum Baden, CH) und Corina Bastian (Freiburg i. Br.): Badekult. Von der Kur zum Lifestyle

Panel III: Disability

Christina Schröder (Universität Bochum): Körper der Witwe. Unsichere Schwangerschaften und Sukzessionen im Fürstentum Nassau-Siegen im 18. Jahrhundert

Julia Gebke (Universität Wien) und Julia Heinemann (Universität Wien): DisAbility History und Frühe Neuzeit. Potentiale und Hindernisse für die Körpergeschichte