Politikerinnen in der Weimarer Republik – mehr als eine Spurensuche?

Politikerinnen in der Weimarer Republik – mehr als eine Spurensuche?

Organisatoren
Archiv der Sozialen Demokratie (AdsD) der Friedrich-Ebert-Stiftung; in Kooperation mit der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien (KGParl) und dem Archiv der Deutschen Frauenbewegung (AddF)
Ort
digital
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.11.2021 - 12.11.2021
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Von
Sophie Frühwald, Marburg / Augustana-Hochschule Neuendettelsau

100 Jahre nach den ersten Wahlen nach Einführung des Frauenwahlrechts und in Erinnerung an die ersten weiblichen Abgeordneten der Weimarer Republik wurde 2018/2019 der Fokus der historischen Forschung stärker auf ihre Biografien und politische Praxis gerichtet. Gleichzeitig war zu beobachten, dass die Frauen- und Geschlechtergeschichte in diesem Bereich bisher vielfach an der Oberfläche und damit bei den auf nationaler Ebene besonders herausstechenden Parlamentarierinnen verweilt. Diese Feststellungen bildeten den Anstoß für diesen Workshop, wie die drei Organisatorinnen der Tagung, BARBARA VON HINDENBURG (Berlin), ANJA KRUKE (Bonn) und KERSTIN WOLFF (Kassel), in ihrer Einführung berichteten. Oftmals würden immer die gleichen Personen in den Blick genommen, lang geprägte Sichtweisen beibehalten und Archivbestände übersehen. Doch welche Rolle hatten Frauen darüber hinaus im politischen System und damit der Demokratiegeschichte der jungen Republik inne? Wie blickten sie selbst auf ihre Handlungsspielräume, wie nutzten sie sie? Und wie wurde ihre Beteiligung von den Männern, von der Öffentlichkeit wahrgenommen, wie gingen sie damit um? Diesen und vielen weiteren Fragen war die Tagung gewidmet.

Die unterschiedlichen Beiträge fokussierten verschiedene politische Räume und Ebenen, in denen Frauen in der Weimarer Republik Politik (mit)gestalteten. Ausgehend von bestimmten Ebenen und Regionen, anhand einzelner Lebensläufe und mit Blick auf unterschiedliche Verbandsstrukturen und Netzwerke entwickelten die Referierenden ein breites Bild auf die parlamentarischen – aber auch darüberhinausgehenden – politischen Aktivitäten von Politikerinnen zwischen 1918 und 1933. Ziel war es dabei sowohl einen Überblick über den Forschungsstand zu gewinnen als auch Desiderate und noch zu bergende Quellenschätze ans Licht zu bringen.

HELKE DREIER (Kassel) begann im Panel „Werkstattberichte“ mit einem Überblick zu Kommunalpolitikerinnen in Hessen, denen sich ein aktuelles Forschungsprojekt des Archivs der Deutschen Frauenbewegung (AddF) anhand reichhaltiger Quellen widmet. Erste Ergebnisse verweisen auf eine kleine Zahl gewählter Kommunalpolitikerinnen, insbesondere im städtischen Kontext, über deren parlamentarische Arbeit kaum etwas zu erfahren ist. Viele von ihnen stammen aus dem Kontext der Frauenverbands- und Wohlfahrtsarbeit.

Daran anschließend stellte LUTZ VOGEL (Marburg) anschaulich anhand des digitalen Archivs für hessische Parlamentarismusgeschichte (parlamente.hessen.de) das Wirken einzelner Frauen im Hessen-Nassauischen Provinziallandtag dar, die sich insbesondere Fragen der Fürsorge, Bildung und Sittlichkeit zuwandten.

SUSANNE ABECK und UTA C. SCHMIDT (Essen) betteten ihre Ergebnisse zu den Parlamentarierinnen im Ruhrgebiet in die Kommunal- und Regionalgeschichte ein. Konfliktlinien anhand konfessioneller Strömungen und politischer Linien wurden durch Frauenbeteiligung auf der politischen Bühne eher verstärkt als befriedet, so das Ergebnis ihrer Zusammenstellung.

Ausgehend von der Korrespondenz mit ihrem Ehemann skizzierten JUTTA ROITSCH und DIETER WESP (Frankfurt am Main) den politischen Alltag der sozialdemokratischen Abgeordneten Johanna Tesch im Weimarer Nationalparlament. Besonderes Augenmerk legten sie auf das Rollenverständnis als Frau und die (Zusammen)Arbeit der Frauen im politischen Betrieb.

MARC BARTUSCHKA (Jena) widmete sich der regionalen Ebene mit ihrem politischen Personal und zeigte anschaulich, wie groß der Bedarf einer ausführlichen Auseinandersetzung mit diesem Bereich ist. In einem Bereich, in dem Frauen die absolute Ausnahme bildeten, soll anhand von Biogrammen in den nächsten Jahren eine große Lücke gefüllt werden.

Mit einem stärkeren Fokus auf Biografien führte SUSANNE RAPPE-WEBER (Witzenhausen) Katharina Hertwig als eine Protagonistin der bürgerlichen Frauenbewegung zwischen Pfadfinderinnen, verschiedenen Parlamenten und dem Engagement für eine „deutschnationale Volksgemeinschaft“ u.a. anhand von Redeprotokollen aus dem Preußischen Landtag ein. Sie zeigte eindrücklich, wie ihr Lebensweg dadurch bestimmt war, sich als Frau die im Krieg erarbeiten Handlungsfelder nicht wieder nehmen zu lassen.

SUSAN ZIMMERMANN (Wien) nahm mit Gertrud Hanna eine Gewerkschafterin und Parlamentarierin in den Blick, die national wie international für eine frauen- und klassenpolitisch motivierte Reform der gewerblichen Arbeit eintrat und sich so eindeutig auch von engagierten Frauen anderer Stellung abgrenzte. Am Beispiel der 1925 in Berlin stattfindenden Deutschen Heimarbeits-Ausstellung zeichnete sie das Bild einer komplexen Konstruktion eines multiplen politischen Handlungsfeldes.

Mit einem Fokus auf die Wohlfahrtspflege eröffnete SABINE HERING (Potsdam) den Abschnitt zu Grundsätzlichem und ging dabei ausführlich auf die Entwicklungen im Bereich der Freien Wohlfahrtspflege ein. Am Beispiel des Bundes deutscher Frauenvereine (BdF) in seinem Bemühen um einen Spitzenverbandsstatus wies sie nach, wie die Zugänge für Frauen systematisch erschwert bis unmöglich gemacht wurden und erhellte dabei auch die Vorgeschichte des heutigen „Paritätischen“.

LEONIE KEMPER (Münster) begann mit der Veränderung der rechtlichen Situation von Frauen durch das Wahlrecht und beschrieb, wie anhand der neuen Gesetzgebung insbesondere bei den bürgerlichen Frauen eine hohe Erwartung an eine Neuausrichtung parlamentarischer Arbeit mit weiblicher Prägung entstand. In einem zweiten juristisch geprägten Beitrag wandte sich MARION RÖWEKAMP (Mexiko City) der sogenannten „Zölibatsklausel“ zu, die verheiratete Frauen von der Beschäftigung im öffentlichen Dienst ausschloss. Entlang der Entwicklung dieser erst abgeschafften und dann wieder eingeführten Klausel diskutierte sie die Frage nach der rechtlichen Aushöhlung der Verfassung, ihrer Bedeutung in der Weimarer Republik und der spannungsvollen Rolle von Frauenbewegung(en) in dieser Diskussion, die zentral die Rolle der Frau in und außerhalb der Familie thematisierte.

Im Rahmen der Abendveranstaltung „Frau Ministerialrat hat jetzt Twitter“ diskutierten die drei Twitterstorians LAURA BAUMGARTEN (@frauabgeordnete), BIANCA WALTHER (@frauenvondamals) und JASMIN LÖRCHNER (@herstorypod) über die Chancen und Herausforderungen, die ihre Arbeit auf Social Media und mit Podcasts bieten. Alle drei zeigten eindrücklich, wie wissenschaftlich aufbereiteter Content im Bereich Frauengeschichte außerhalb akademischer Kontexte in der Breite funktionieren kann und so Aufmerksamkeit und Bewusstsein für diese Themen schafft.

Am zweiten Konferenztag fokussierte JULIA PAULUS (Münster) die Provinz als Raum, in dem Geschlechterordnungen die politische Partizipationskultur anders prägen als in der Metropole. Sie rekurrierte dabei u.a. auf Sittlichkeitsdiskurse sowie auf den Einfluss religiöser Frauenvereine, die über Gemeindestrukturen ihre integrierende Wirkung entfalteten.

Mit dem Schwerpunkt des Lokalen stellte THOMAS HÖPEL (Leipzig) die Arbeit von Frauen in der Leipziger Kommunalpolitik vor und zeigte anhand der Berichterstattung der Lokalpresse eindrücklich, wie der Spielraum der Frauen auf der politischen Bühne von vornherein eingeschränkt war und Politik – in Leipzig, aber auch darüber hinaus – männlich dominiert blieb. LISA NEUMANN (Freiburg) stellte die insgesamt 17 Abgeordneten des Badischen Landtags und ihre politische Praxis zwischen 1919 und 1933 vor. Der Frage nach dem Typus einer weiblichen Abgeordneten ging sie mit einer Kollektivbiographie nach, die u.a. politisches Engagement als kleinsten gemeinsamen Nenner aufführte und zeigte, dass viele der Frauen sich bereits vor ihrem Einzug kannten.

In einem Roundtable diskutierten HEIKE STANGE (Berlin), CLAUDIA VON GÉLIEU (Berlin) und JUDY SLIVI (Erfurt) über ihre Projekte unter den Perspektiven und Potenzialen einer „Demokratiegeschichte vor Ort“. Während Stange den Fokus auf die Kommunalpolitik legte und dabei beispielsweise später verfolgte Abgeordnete in Berlin und Brandenburg vorstellte, interessierte sich von Gélieu besonders für den Geschlechtervergleich politischer Paare und identifizierte die politische Partizipation von Frauen außerhalb der Parlamente als Desiderat. Slivi präsentierte ihre Ergebnisse zu Thüringer Kommunalpolitikerinnen auch mit Blick auf die politische Bildungsarbeit und konnte zeigen, wie oft das politische Engagement von Frauen durch vorherige Arbeit in Gremien wie dem Landeskirchenrat, Arbeiterräten und Gewerkschaften angestoßen wurde.

In der gemeinsamen Abschlussdiskussion der Teilnehmenden stand die Frage nach der nachhaltigen (digitalen) Bindung von Wissen, auch über unveröffentlichte Ergebnisse oder noch zu hebende Quellen, im Vordergrund. In der Hinwendung zur Zivilgesellschaft wurden Jubiläen und FrauenOrte als Elemente zur Sichtbarmachung der eigenen Ergebnisse hervorgehoben. Mit dem Appell, die Frauengeschichte stets als Querschnittsthema mitzudenken, endete eine fruchtbare Tagung, die an vielen Stellen einen ersten Blick auf noch kennenzulernende Bereiche ermöglichte.

Konferenzübersicht:

Einführung
Anja Kruke (AdsD, FES), Barbara von Hindenburg (KGParl), Kerstin Wolff (AddF)

Panel 1: Werkstattberichte
Moderation: Julia Paulus (Münster)

Helke Dreier (Kassel): Kommunalpolitikerinnen im Volksstaat Hessen während der Weimarer Republik

Lutz Vogel (Marburg): Frauen im „Honoratiorenparlament“: Weibliche Abgeordnete im Provinziallandtag Hessen-Nassau

Panel 2: Werkstattberichte II
Moderation: Julia Paulus

Uta C. Schmidt / Susanne Abeck (Essen): Politikerinnen in Weimar – endlich der Beginn einer Spurensuche! Erfahrungen mit Forschungen zum Frauenwahlrecht im Ruhrgebiet

Jutta Roitsch / Dieter Wesp (Frankfurt am Main): Johanna Teschs Briefe 1919 bis 1925. Erfahrungen einer sozialdemokratischen Abgeordneten im Alltag von Parlament und Partei

Marc Bartuschka (Jena): Projektvorstellung: Weimar in den Regionen – das politische Personal der Länder der Deutschen Republik

Panel 3: Biografisches
Moderation: Barbara von Hindenburg

Susanne Rappe-Weber (Witzenhausen): Frauenbewegtes Engagement für eine deutschnationale Volksgemeinschaft – Katharina Hertwig (1878–1953)

Susan Zimmermann (Wien): Gertrud Hanna (1876–1944): Eine Spitzenfunktionärin der deutschen und internationalen Frauengewerkschaftspolitik im Preußischen Landtag

Panel 4: Grundsätzliches I
Moderation: Kirsten Heinsohn (Hamburg)

Sabine Hering (Potsdam): Politikerinnen in Weimar, die Frauenbewegung und die Wohlfahrtspflege

Leonie Kemper (Münster): Die Neuen im Hohen Haus – Das Selbstverständnis der Parlamentarierinnen der Weimarer Nationalversammlung

Marion Röwekamp (Mexiko City): Die „Zölibatsklausel“ in Weimar. Eine Geschichte des institutionalisierten Verfassungsbruchs

Abendveranstaltung: Frau Ministerialrat hat jetzt Twitter: Frauengeschichte auf Social Media
Moderation: Christine Gundermann (Köln)

Ein Panel mit den Bloggerinnen, Podcasterinnen und Twitterstorians Laura Baumgarten/Bianca Walther/Jasmin Lörchner

Panel 5: Grundsätzliches II
Moderation: Ursula Bitzegeio (Bonn)

Julia Paulus: Verflechtungen – Entflechtungen: Politische Partizipationskulturen in der Provinz (1918 – 1933)

Panel 6: Lokales
Moderation: Kerstin Wolff

Thomas Höpel (Leipzig): Frauen im Leipziger Stadtparlament 1919 bis 1933

Lisa Neumann (Freiburg): ...dass wir nicht unvorbereitet in dieses Haus einziehen. – Die weiblichen Abgeordneten des Badischen Landtags 1919-1933

Panel 6: Roundtable: Demokratiegeschichte vor Ort
Moderation: Anja Kruke

Heike Stange (Berlin): Projekte zu weiblichen Abgeordneten mit Fokus auf Kommunalpolitik

Claudia von Gélieu (Berlin): Projekte zu Parlamentarierinnen in der Weimarer Republik aus drei Jahrzehnten

Judy Slivi (Erfurt): Thüringer Kommunalpolitikerinnen 1918 bis 1933

Abschluss und Debatte im Plenum
Anja Kruke/Barbara von Hindenburg/Kerstin Wolff


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Region(en)
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