Lobbyismus begleitet die Entstehung parlamentarischer Systeme von Beginn an. Der Begriff entsteht während der Englischen Revolution und bezeichnet ursprünglich die Begegnungen und Kommunikationsbeziehungen zwischen gesellschaftlichen Akteuren und Mitgliedern beider Kammern im Parlament von Westminster. Der Kontakt zwischen Volk und Volksvertretern galt, obgleich er im Parlament auf bestimmte Räume begrenzt und streng reglementiert war, als elementare Voraussetzung parlamentarischer Repräsentation. Zugleich wurde und wird die Aktivität von Lobbygruppen und Interessenverbänden von Beginn an als Gefahr für das Gleichheitsversprechen liberaler Demokratie kritisiert ‒ insbesondere dann, wenn sich Lobbyarbeit im parlamentarischen Arkanbereich abspielt und dabei der Verdacht ungleicher Zugangschancen, geheimer Absprachen und der Intransparenz politischer Entscheidungen entsteht. Mit dem Phänomen Lobbyismus verbinden sich daher demokratiehistorisch relevante Fragen nach dem Verhältnis von Partikularinteresse und Gemeinwohl, Öffentlichkeit und Vertraulichkeit, Korporatismus und Pluralismus sowie nach den verschiedenen Formen politischer Partizipation in der repräsentativen Demokratie.
Während die Einflussnahme von Interessenverbänden auf die staatliche Exekutive bereits vielfach erforscht worden ist, gilt das nur bedingt für die Beziehungen zwischen Lobby-Akteuren und Abgeordneten. Diese aber sind von fundamentaler Bedeutung für die moderne Demokratiegeschichte, berühren sie doch das Grundverständnis des Repräsentationsverhältnisses von Volk und Volksvertretung. Der Lobbyismus im parlamentarischen Raum steht deshalb im Zentrum der Tagung. Ausgehend von den europäischen Revolutionen 1848/49 sollen in exemplarischen Analysen aus verschiedenen Zeitschnitten Entwicklung und Wechselverhältnis von Lobbyismus und parlamentarischer Demokratie im 19. und 20. Jahrhundert im transatlantischen Raum diskutiert werden.
Die Tagung geht bewusst von einem offenen Lobbyismus-Verständnis aus: Es geht um Zugang, Kontakte und Kommunikation zwischen organisierten Interessengruppen oder einzelnen Akteuren und staatlichen Entscheidungsinstanzen, die das Ziel verfolgen, Einfluss auf politische, d.h. kollektiv verbindliche Entscheidungen zu nehmen. Lobbyismus in diesem Sinn lässt sich an historischen Fallbeispielen rekonstruieren, deren Spektrum deutlich über das Feld des Wirtschaftslobbyismus hinausreicht. Neben Themen der Verbands- und Wirtschaftsgeschichte sollen deshalb auch aktuelle Forschungen zu politischen und sozialen Bewegungen, Nichtregierungsorganisationen, Medienkampagnen und anderen Formen gesellschaftlicher Interessenartikulation berücksichtigt werden.
Neben den für legitim erachteten Formen des Lobbyismus sollen auch dysfunktionale Begleiterscheinungen und illegale Praktiken wie Bestechung und Korruption einbezogen werden. Je nach kulturellem Deutungskontext, wurde Lobbyismus als Ausdruck demokratischer Partizipation oder systemwidrige Intervention wahrgenommen und diskutiert. Im gesellschaftlichen Diskurs über Lobbyismus wird zugleich die normative Ordnung von Parlamentarismus und Demokratie verhandelt.
Themenvorschläge sollten sich an vier Leitlinien orientieren:
1. Theoretisch-systematische Perspektiven: Welche unterschiedlichen Begriffe und Definitionen von Lobbyismus gibt es und wie sind sie mit unterschiedlichen Demokratiekonzeptionen verbunden? Welche Rolle spielt Lobbyismus bei der Entstehung und Entwicklung der parlamentarischen Demokratie?
2. Kontaktzonen und Kommunikationsbeziehungen: An welchen Orten und über welche Kommunikationskanäle organisiert sich Lobbyismus in der repräsentativen Demokratie? Welche institutionellen Zugangswege und -beschränkungen bestehen für Lobbyistinnen und Lobbyisten, welcher Umwege bedienen sie sich? Welche Bedeutung haben Raum-Arrangements und örtliche Gegebenheiten für lobbyistische Praktiken?
3. Akteure, Kampagnen und Praktiken: Welche typischen Aktivitäten, Organisationsformen und Inszenierungen des Lobbyismus lassen sich historisch identifizieren? Wie sehen Karrieren, Selbstperzeptionen und Tätigkeitsprofile von Lobbyistinnen und Lobbyisten aus? Wie gestalten sich die Arbeitsbeziehungen und das professionelle Verhältnis zwischen Lobbyismus und Abgeordneten, wie wird Distanz zwischen Mandatsausübung und Lobbyarbeit gewahrt? Welche Bedeutung haben „Seitenwechsler“ und Verbandsfunktionäre im Parlamentarismus?
4. Regeln und Diskurse: Wie hat sich der gesellschaftliche Blick auf Lobbyismus im Laufe der Zeit verändert? Welche populären Perzeptionen und Demokratievorstellungen impliziert die Kritik am Lobbyismus? Welche Standards gelten und welche Abweichungen zeigen sich im internationalen Vergleich? Welche Regeln des politischen Fairplay wurden vor dem Hintergrund historischer Erfahrungen entwickelt?
Besonders willkommen sind Beiträge, die entlang dieser Leitfragen historische Fallbeispiele aus dem 19. und 20. Jahrhundert präsentieren und mit allgemeinen Betrachtungen über Lobbyismus und Demokratie verbinden, ebenso vergleichende Beiträge zu verschiedenen parlamentarischen Systemen sowie zum Lobbyismus in der Europäischen Union.
Das Theodor-Heuss-Kolloquium 2023 widmet sich dem Rahmenthema „Practising Democracy“ und knüpft an die vorangegangenen Kolloquien zu den Themen „Democracy Revisited. Praktiken, Ordnungen und Begrenzungen der liberalen Demokratie von den 1940er-Jahren bis zur Gegenwart“ (2019) und „Vom Bittbrief zur Hassmail? Bürgerbriefe als politische Kommunikationsform“ (2022) an.
Wir bitten um die Zusendung von Themenvorschlägen im Umfang von max. 4.000 Zeichen mit kurzem biographischen Profil bis zum 30. November 2022 an Andreas Schulz (schulz@kgparl.de) und Thorsten Holzhauser (holzhauser@stiftung-heuss-haus.de). Für Referent:innen können Übernachtungs- und Reisekosten gemäß den Richtlinien des Bundesreisekostengesetzes übernommen werden.