Staatsbildungsprozesse der Frühen Neuzeit basieren ganz wesentlich auf der Etablierung und Erweiterung geistlicher sowie weltlicher Verwaltungsapparate. Diese "innere Staatsbildung" skizzierte Max Weber als Herrschaft, die im Alltag primär Verwaltung sei, die aber nicht frei von Konflikten war. Gerade die klassische Verwaltungsgeschichte und ihr institutionsgeschichtlicher Blick auf administrative Problemstellungen hat sich mit dem Alltag des Verwaltens aber nur selten beschäftigt. Dagegen nimmt die neuere, kulturwissenschaftlich gewendete Verwaltungsgeschichte auch die sozialen Vollzüge und materiellen Settings im Prozess des vormodernen Verwaltungshandelns zentral in den Blick und schafft es deshalb, weite Perspektiven zu öffnen. So kann die Praxis des Verwaltens inzwischen mit vielfältigen interdisziplinär gewonnenen, kulturwissenschaftlichen Methoden und Ansätzen, darunter auch die Praxeologie, beschrieben und untersucht werden, die in den vergangenen Jahren beispielsweise von Historiker:innen, Soziolog:innen und Ethnolog:innen entwickelt, adaptiert und erprobt wurden.
Um verschiedene praxistheoretische Ansätze und ihre Herausforderungen miteinander ins Gespräch zu bringen und so einen produktiven Austausch zu stiften, möchten HistorikerInnen des Bochumer DFG-Projekts des Lehrstuhls für Frühe Neuzeit und Geschlechtergeschichte „Körperbeherrschung. Konfessionalisierte Ehegerichtsbarkeit in den Hohenloher Territorien zwischen (bevölkerungs-)politischem Verfahren und persönlichem Konflikt, 1648–1806“ Interessierte zu einem Doktorand:innen-Workshop einladen. Die Projektgruppe beschäftigt sich mit der Verwaltungspraxis von Ehegerichten in der frühneuzeitlichen Grafschaft Hohenlohe. Besonderes Augenmerk gilt der Pluralität von Normen der Verwaltungspraxis im Spannungsfeld zwischen verschiedenen Akteursgruppen wie FürstInnen, Supplizierenden, Beamten, Pfarrern und Gutachtern sowie der konfessionellen Konkurrenz in einem kleinräumigen Herrschaftsgebiet.
Vor dem Hintergrund der kulturwissenschaftlichen Wende sollen praxistheoretische Fragen und methodologische Zugänge ausführlicher diskutiert werden. Dazu sind Doktorand:innen zur Teilnahme eingeladen, um in kurzen Vorträgen ihre theoretische Konzeption und Perspektivierung vorzustellen. Die verschiedenen Ansätze werden von ausgewählten Expert:innen kommentiert und gemeinsam diskutiert. Ziel des Workshops ist es, im Austausch miteinander die unterschiedlichen Herangehensweisen an konkreten Beispielen und Problemen zu reflektieren, so Impulse für die jeweils eigene Forschungsarbeit zu erhalten und dadurch zur Weiterentwicklung der Promotionsprojekte beizutragen.
Der Workshop „Verwaltung als Praxis“ wird in Kooperation mit Ass.-Prof. Dr. Tim Neu (Wien) am 13. und 14. Juli 2023 in Bochum stattfinden. Interessent:innen senden bitte ein Abstract zum eigenen Promotionsprojekt mit einer Konkretisierung in Bezug auf Potentiale und Grenzen des gewählten theoretisch-methodischen Ansatzes (max. 500 Wörter) sowie eine Kurzvita bis zum 19. März 2023 an markus.albuschat@rub.de. Reise- und Übernachtungskosten der Beitragenden werden übernommen (Bahnfahrt 2. Klasse, zwei Übernachtungen).
Expert:innen:
Prof. Dr. Stefan Brakensiek
Prof. Dr. Marian Füssel
Prof. Dr. Ulrike Ludwig
Auswahlbibliographie:
Stefan Brakensiek, Akzeptanzorientierte Herrschaft. Überlegungen zur politischen Kultur der Frühen Neuzeit, in: Helmut Neuhaus (Hrsg.), Die Frühe Neuzeit als Epoche, München 2009, S. 395–406.
Stefan Brakensiek, Herrschaftsvermittlung im alten Europa. Praktiken lokaler Justiz, Politik und Verwaltung im internationalen Vergleich, in: Ders. / Heide Wunder (Hrsg.), Ergebene Diener ihrer Herren? Herrschaftsvermittlung im alten Europa, Köln u.a. 2005, S. 1–21.
Marian Füssel, Praxeologische Perspektiven in der Frühneuzeitforschung, in: Arndt Brendecke (Hrsg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte, Köln u.a. 2015, S. 21–33.
André Krischer, Die Co-Produzenten der Entscheidungen. Materielle Ressourcen in englischen Gerichtsprozessen des 18. Jahrhunderts, in: Ulrich Pfister (Hrsg.), Kulturen des Entscheidens, Göttingen 2019, S. 142–167.
Ulrike Ludwig, Verwaltung als häusliche Praxis, in: Arndt Brendecke (Hrsg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte, Köln u.a. 2015, S. 188–198.
Barbara Stollberg-Rilinger / André Krischer (Hrsg.), Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne, Berlin 2010.
Sabine Ullmann, Methodische Perspektiven der Herrschaftsgeschichte in komplexen territorialen Landschaften der Frühen Neuzeit, in: Sigrid Hirbodian / Christian Jörg / Sabine Klapp (Hrsg.), Methoden und Wege der Landesgeschichte, Ostfildern 2015, S. 191–208.