Problemstellung: Die Diskursformation der Historiographie ist bestrebt, historische Entwicklungen als großes und zusammenhängendes Ganzes darzustellen und historische Einzelereignisse im Sinne linearer, kausaler und kohärenter Verknüpfungen einzuordnen. Diese Vorgehensweise ist immer wieder einer grundsätzlichen Kritik unterzogen worden; immer wieder wurden die Prämissen von Kontinuität, Linearität, Kohärenz, Kausalität, Teleologie oder Referenzialität radikal in Frage gestellt. Traditionelle historiographische Ansprüche und die Kritik daran bewegen sich in eine doppelte Aporie: Einerseits enthalten die Prämissen der Geschichtsschreibung in ihrem Inneren bereits Selbstwidersprüchliches, vor allem, weil sie in der praktischen narrativen Überformung nie vollständig eingelöst werden können. Andererseits führt die grundsätzliche Hinterfragung historiographischer Ansprüche in das Dilemma der Ratlosigkeit: Wie soll und kann zukünftig Geschichte noch geschrieben werden?
Die schwierigen Aushandlungen des Verhältnisses von materialbasierter, „quellengesättigter“ historischer Forschung auf der einen Seite und ihrer mehr oder minder bewussten darstellerischen Gestaltung auf der anderen Seite können auf eine lange Tradition zurückblicken, die von Aristoteles bis Hayden White reicht. Unter den Vorzeichen des Klimawandels sowie unter den Prämissen eines identifizierten Anthropozäns scheint diese Diskussion allerdings noch einmal eine andere Richtung einzuschlagen. Denn nun stellt sich mit Nachdruck die Frage, wie eine Geschichtsschreibung noch aussehen kann, die sich auf eine solcherart grundsätzlich veränderte Situation einzulassen hat. Der Verdacht liegt nahe, dass es gerade literarische und andere künstlerische Erzählformen sind (Film, Fernsehserie, bildende Künste), die mit ihren experimentellen Darstellungsweisen Möglichkeiten für eine andere Historiographie anbieten. Dem Medium Literatur und anderen Künsten kann also eine seismographische Funktion bezüglich der Implementierung geschichtstheoretisch relevanter Entwicklungen attestiert werden.
Zielsetzung: Die Tagung widmet sich daher der Frage, inwiefern eine literarische bzw. künstlerisch informierte Geschichtsschreibung sich von den Prämissen einer traditionellen Historiographie abwenden kann und inwiefern sie Möglichkeiten für andere Geschichtsschreibungen bietet, um Auswege aus dem Modernisierungsdilemma aufzuzeigen. Damit einhergehend soll eruiert werden, welche Auswirkungen dies auf das Selbstverständnis einer kritischen Historiographie und dementsprechend auch auf das Verhältnis zwischen Literatur und Historie haben kann. Zum Problem der Legitimität literarischer Geschichtsthematisierungen gesellt sich zudem die Frage nach möglichen Synergien zwischen Literaturwissenschaft, Historie, Geschichtstheorie, Ästhetik, Sprachwissenschaft und weiteren benachbarten Disziplinen – auch in diachroner Perspektive.
Selbstverständnis: Die Tagung möchte daher Aushandlungsraum zwischen ästhetisch ausgerichteten Fächern einerseits und historisch orientierten Disziplinen andererseits sein, deren Beziehungsstatus sich immer wieder als wechselseitig problematisch erwiesen hat. Eingeladen wird zu einer transdisziplinären Diskussion, die Gelegenheit bieten soll für den gemeinsamen Brückenbau – nicht nur über etablierte Disziplingrenzen hinweg, sondern ebenso in ungewisse zukünftige Konstellationen hinein, für die etablierte
Beschreibungsformen nicht mehr angemessen zu sein scheinen.
Folgende Fragen können als Anregung für einen produktiven Dialog zwischen Geschichtswissenschaften, Literaturwissenschaften und weiteren Disziplinen dienen (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):
1.Geschichte in der Literatur:
- Wie beeinflussen literarische Auseinandersetzungen mit historischen Ereignissen die kollektive Wahrnehmung dieser Ereignisse selbst?
- Fiktionalisierung der res gestae: Lizenzen und Grenzen der literarischen Bearbeitung historischer Stoffe.
- Wo verlaufen diskursive Grenzen, welche für eine sinnvolle Auseinandersetzung mit den res gestae gewahrt werden müssen?
- Wie beeinflussen Klimawandel und Anthropozän die Darstellung historischer Ereignisse in der Literatur und anderen Medien?
2. Literatur als Geschichte/n:
- Was sind die Bedingungen für einen produktiven Dialog zwischen Literatur und Geschichte?
- Wie konstituiert sich das Verhältnis der Disziplinen zwischen dem geteilten Ziel Geschichte/n zu schreiben?
- Wie kann Literatur zum adäquaten Medium von Geschichtsthematisierung werden?
- Wie können literarische und künstlerische Darstellungsformen bei der Beschreibung langfristiger historischer Prozesse wie dem Klimawandel helfen? Welche Modi des Erzählens stellen sie zur Verfügung?
- Abbau von disziplinären Barrieren: Was passiert, wenn die „Gräben“ zwischen Literatur(-wissenschaft) und Historik überwunden werden? Was haben „wir“ zu verlieren? Zwingt uns das Anthropozän letztlich dazu, Brücken (intellektuell) neu zu bauen?
- Hat die nachweisbare Lektüre von Literatur einen epistemologischen und/oder stilistischen Einfluss im Oeuvre von Historiker*innen?
- Wer schreibt? Wessen Geschichte/n wird bzw. werden erzählt? Inwiefern werden bereits vorhandene Konzepte der Autorschaft durch den Anthropozän tangiert? Gewinnen angesichts der Problematik der Klima(un)gerechtigkeit mündliche und kollektive Erzählformen an Bedeutung?
3. Neuorientierung der Geschichtsschreibung im inter- und transmedialen Kontext:
- Welche Wechselbeziehungen und Bezugnahmen der Literatur zu anderen Medien (Intermedialität) sind im genannten Kontext möglich? Wie beeinflussen fremdmediale Techniken die literarische Darstellung von Geschichte? (z.B. Visualität und Ausrichtung an Signifizierungsmechanismen der neuen visuellen Medien des 20.Jahrhunderts)
- Welche Rolle spielen z.B. visuelle Darstellungsverfahren in der literarisch-ästhetischen Thematisierung und Darstellung von Geschichte?
- Inwiefern lassen sich auch Bezugnahmen und Wechselbeziehungen zwischen (anderen ästhetischen) Medien und Historiographie nachweisen? Welche Rolle spielen mediale Produkte (z.B. Fotografie, Film, (serielle) YouTube-Produktionen) für die Historiographie? Welchen Status haben Bilder für die Historiographie / Historik?
- Welche Relevanz haben intermediale Wechselwirkungen unter den Bedingungen des Anthropozäns?
4. Laboratorium: Geschichte/n schreiben?
- Wie kann die Skepsis den „Geschichten“ gegenüber produktiv überwunden werden?
- Zwingt uns das Anthropozän, abermals Geschichte vielmehr als Geschichten zu schreiben?
- Können epistemologische Transparenz und Metareferenz als Lösungsstrategie dienen? Oder muss das Schreiben von Geschichte/n nun als unmögliches Unterfangen aufgefasst werden?
Organisatorisches:
Die interdisziplinäre Tagung "Geschichte/n schreiben im Anthropozän" findet vom 4.9. bis zum 6.9.2024 an der Universität Konstanz statt.
Beitragsvorschläge aus den historischen Wissenschaften, der Literatur- und Kulturwissenschaft, sowie angrenzenden Disziplinen für 20-minütige Vorträge können bis zum 1.9.2023 an das Organisationskommitee gesendet werden: anthropo@germlit.rwth-aachen.de.
Beitragsvorschläge von interessierten Nachwuchswissenschaftler:innen sind ausdrücklich erbeten!
Bewerbungsabstracts sollten einen Umfang von maximal 1DIN A4-Seite nicht überschreiten, kurze biobibliographische Angaben sind beizufügen.
Über die Auswahl der Tagungsbeiträge wird im Frühjahr 2024 Rückmeldung gegeben.
Die Veranstaltungssprachen sind Deutsch, Englisch und Französisch; eine Publikation der Beiträge in Sammelbandform ist geplant. Es wird angestrebt, Reise- und Unterkunftskosten für Vortragende zu übernehmen.
Mit bestätigten Vorträgen von u.a.
Prof. Dr. Dipesh Chakrabarty (University of Chicago)
Prof. Dr. Ewa Domańska (Stanford University)
Prof. Dr. Gabriele Dürbeck (Universität Vechta)