In jüngster Zeit sind im Zusammenhang mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine, den zunehmend angespannten Beziehungen zu Staaten wie China oder der globalen Umweltkrise Rufe nach einer stärkeren Ausrichtung der Wissenschaftsdiplomatie und einer Neudefinition der Ziele der Wissenschaftsdiplomatie immer stärker zu vernehmen. Dementsprechend haben die mit Wissenschaftsdiplomatie befassten deutschen Institutionen ihre Strategien neu formuliert, um den anstehenden Herausforderungen zu begegnen. Die Wissenschaftsdiplomatie, so ist zu lesen, soll selbstbewusster werden, sich der nationalen Interessen Deutschlands bewusst sein und kritischer in der Auswahl und Auseinandersetzung mit ihren ausländischen Partnern werden.
In unserem Workshop wollen wir diese gegenwärtig geführte Diskussion mit einem tieferen historischen Verständnis der Ideen und Ziele, die Wissenschaftsdiplomatie zugrunde liegen, unterfüttern. Es ist nicht das erste Mal, dass sich liberale Demokratien mit autokratischen Regimen auseinandersetzen müssen und die Rolle der Wissenschaft zur Förderung der internationalen Verständigung an prominenter Stelle diskutiert wird. Unser Ziel ist es, PraktikerInnen der Wissenschaftsdiplomatie mit PolitikwissenschaftlerInnen und HistorikerInnen zusammenzubringen, um im Idealfall ein besseres Verständnis für die 'longue durée' der Wissenschaftsdiplomatie zu entwickeln und auch Einblicke in die Anforderungen und den Alltag der Wissenschaftsdiplomatie zu gewinnen.
Die Science Diplomacy ist keine Erfindung der Gegenwart oder der letzten zwanzig Jahre, sondern lässt sich mindestens bis ins frühe zwanzigste, wenn nicht sogar bis ins neunzehnte Jahrhundert zurückverfolgen. Bereits in einer 2009 gehaltenen Rede an der Universität Oxford forderte der damalige britische Premierminister Gordon Brown, „die Wissenschaft in den Mittelpunkt der progressiven internationalen Agenda“ zu stellen. Wenn man die Forderungen nach einer stärkeren Betonung der Wissenschaftsdiplomatie über die letzten Jahrzehnte hinweg verfolgt und kontextualisiert, kann man argumentieren, dass diese Forderungen vor allem in Krisenzeiten in der gesamten Politik Widerhall fanden. Ist die Wissenschaftsdiplomatie also nur ein wertvolles Instrument, um konfliktreichen internationalen Situationen zu begegnen, sie abzuwenden oder zu bewältigen, mithin Kommunikationslinien offen zu halten, wenn traditionellere diplomatische Kontakte zusammenbrechen? Oder ist die Wissenschaftsdiplomatie auch in „normalen Zeiten“ ein nützliches Mittel in den internationalen Beziehungen, auch ohne den Kontext von Krisen? Wir sind der Meinung, dass sich die Geschichtsschreibung und die Politik zunehmend dieser letzteren Sichtweise anschließen. Jedoch ist festzustellen, dass die gegenwärtige Verquickung von Krisen die Ausdifferenzierung der verschiedenen Stränge in Bezug auf die Aufgaben der Wissenschaftsdiplomatie beschleunigt. Dies ist nicht zuletzt auch eine Folge der Tatsache, dass es keine eindeutige Definition des Begriffs gibt.
Während die Wissenschaftsdiplomatie in den Politikwissenschaften mittlerweile ein recht verbreitetes Forschungsfeld ist, werden die tiefgreifenden „Verflechtungen zwischen Wissenschaft, Außenpolitik und internationalen Beziehungen“ (Kunkel 2021) nur selten aus historischer Perspektive analysiert. Noch seltener wird versucht, ForscherInnen aus verschiedenen Disziplinen (z.B. Geschichtswissenschaft, Wissenschaftssoziologie, Politikwissenschaft, International Relations) mit PraktikerInnen der Wissenschaftsdiplomatie zusammenzubringen, die tatsächlich als WissenschaftsdiplomatInnen in privaten oder staatlichen Stiftungen, internationalen Instituten, als WissenschaftlerInnen im Ausland oder als DiplomatInnen an Botschaften arbeiten.
Unser Workshop zielt darauf ab, das nach wie vor im Entstehen begriffene Feld der Wissenschaftsdiplomatie zu skizzieren und seine Akteure, Absichten und Arenen zu erforschen sowie theoretisch-methodologische und empirische Forschungsbeiträge zu diskutieren.
- Akteure: Wer war Teil der wissenschaftsdiplomatischen Bemühungen und warum engageierte man sie sich überhaupt in einer Kulturaußenpolitik, Science Diplomacy etc.?
- Absichten/Ideen/Diskurse: Wie stellten sich die beteiligten Akteure ihre wissenschaftliche Zusammenarbeit mit KollegInnen aus anderen Ländern vor? Inwieweit verstanden sie ihre Praktiken als eine Form der Wissenschaftsdiplomatie? Im Hinblick auf die entsendenden Institutionen gilt es auch zu fragen, warum Ministerien etc. bestrebt waren, MitarbeiterInnen oder WissenschaftlerInnen ins Ausland zu entsenden, und was sie von diesen wiederum erwarteten.
- Arenen: Wo fand Wissenschaftsdiplomatie statt und wie entstanden die Räume, in denen Wissenschaftsdiplomatie stattfand?
Ausgehend von diesen übergreifenden Bereichen können eingereichte Beiträge sich, zum Beispiel, mit mögliche Fragestellungen wie folgt beschäftigen (Beitragsvorschläge mit anderen Erkenntnisinteressen können natürlich auch eingereicht werden):
- Wie funktionierte die Wissenschaftsdiplomatie in verschiedenen Phasen der modernen Geschichte, etwa in den konfliktreichen 1920er Jahren, während des Nationalsozialismus in den 1930er Jahren, im Kalten Krieg oder im Prozess der Dekolonisierung? Welche Rolle spielten WissenschaftlerInnen in diesen Konstellationen und wie wurden „Wissenschaftsprogramme zu eigenständigen Instrumenten der Diplomatie“ (Kunkel 2021)?
- Welche aktuellen Trends gibt es in der geschichts-, politikwissenschaftlichen oder soziologischen Forschung zur Science Diplomacy? Was lässt sich zur Forschungsmethodik und den Quellen der Wissenschaftsdiplomatie sagen?
- Wie kann Wissenschaftsdiplomatie als eine Form von soft power eingesetzt werden, wenn andere traditionelle diplomatische Formen des Austauschs nicht mehr funktionieren?
- Wissenschaftsdiplomatie und ihre Beziehungen zu anderen Arten und Formen der Diplomatie, wie z.B. der öffentlichen oder kulturellen Diplomatie?
- Was soll die Wissenschaftsdiplomatie erreichen, welche Praktiken bringt sie mit sich, und welche Ziele kann sie sowohl kurz- als auch langfristig verwirklichen?
- Bemühungen von PraktikerInnen der Wissenschaftsdiplomatie (DiplomatInnen an Botschaften oder in Ministerien; im Ausland tätige WissenschaftlerInnen usw.), ihr Handlungsfeld neu zu gestalten.
Mit Blick auf diese Aspekte soll der Workshop dazu beitragen, Wissenschaftsdiplomatie sowohl als spezifische Form der kulturellen Außenpolitik als auch als neu entstehendes akademisches Forschungsfeld zu konzeptualisieren. Wir ermutigen insbesondere NachwuchswissenschaftlerInnen, die sich etwa in ihren Dissertationsprojekten mit Fragen oder Themen/Feldern der Wissenschaftsdiplomatie beschäftigen, sich zu bewerben. Der Workshop findet vom 22. bis 24. November 2023 in Hannover, Deutschland, statt. Dank der Förderung durch die VolkswagenStiftung können wir die Reisekosten und die Übernachtungskosten für bis zu zwei Nächte in Hannover erstatten. Es werden Vorschläge für Vorträge in deutscher oder englischer Sprache angenommen. Die Präsentationen sollten 15 Minuten nicht überschreiten. Bewerbungen (Kurzlebenslauf und Themenvorschlag von maximal 300 Wörtern, beides im PDF-Format) senden Sie bitte bis spätestens 15. August 2023 an sciencediplomacy@hist.uni-hannover.de. Über die angenommenen Beiträge wird bis Ende August informiert.