Call for Papers
(english version: https://dgekw.de/wp-content/uploads/2024/11/CfP_DGEKW-Kongress_2025_ENG.pdf)
Kulturelle Phänomene und soziale Ereignisse lassen sich nicht bis ins Letzte durchdringen, sie zeichnen sich stets durch eine gewisse Unschärfe aus und verfügen über „offene Momente“ (Roedig/Zederbauer 2022). Faktoren, die unser Denken und Handeln bestimmen, sind oft nicht vorhersehbar, beabsichtigt oder erklärbar. Zwar kann der dadurch verursachte Mangel an Wiedererkennbarkeit von Handlungsmustern Verunsicherungen hervorrufen sowie Plan- und Erwartbarkeit unterlaufen. Jedoch eröffnen sich zugleich performative Spielräume, die zufällige Varianten und Möglichkeiten alternativer Realisierung zulassen. Schließlich können Situationen und Prozesse des Unbestimmten und Unbestimmbaren auch bewusst gesucht werden, etwa um Kreativität, Abenteuer oder eine Faszination am Neuen zu provozieren. In der Sichtbarmachung von Überraschung, Zufall und Kontingenz wird deren Wirkmächtigkeit betont und es können Potenziale subversiver Nutzung freigesetzt werden (vgl. Butler 2002).
Alltagskulturell wie wissenschaftlich werden individuelle und kollektive, auch institutionelle Anstrengungen darauf verwendet sowie verschiedene Techniken und Strategien eingesetzt, das Zufällige zu kontrollieren (und dabei „tendenziell zu negieren“ [Zollinger 1997: 43]), mit ihm zurechtzukommen beziehungsweise ihm etwas entgegenzusetzen (Rituale, Religion und Glaube, Mythos, Therapie, Versprechen) oder es berechenbar zu machen (Kalkulationsverfahren in der Prognostik, z. B. Konjunkturforschung, Versicherungswesen). Bewundert werden Diejenigen, die es „beim Schopfe packen“ (Kairos), die das Momentum auf ihrer Seite haben. Daneben wird aber auch gezielt auf das Zufällige hingearbeitet. Es zeigen sich zufallsaffine Praktiken, darunter das Spielen, die Spekulation, das Flanieren/Sich-treiben-Lassen, das Stolpern und das Lachen, das Reisen, aber auch das Suchen von „Aus-zeiten“ (Sabbatical, Abenteuer, Aufbruch, Risiko). Das Zufällige kann als ‚Randomness‘ inwertgesetzt und zertifiziert werden (Verschlüsselungssoftware/Passwortgenerierung, gesteuerter Zufall), es kann nachträglich plausibilisiert (Fleck 1980) und theoretisch fundiert werden (Chaostheorie).
Anschlussmöglichkeiten lassen sich zu verschiedenen Themenfeldern und Forschungsrichtungen der Empirischen Kulturwissenschaft ausmachen, so etwa zur Erzähl- und Biografieforschung, die nach dem Überraschenden als narrativem Element und dessen Bedeutungszuschreibungen fragt. Zufall erscheint als „Transmitter für etwas völlig Neues“, als Transporteur für „quasi Nicht-Erzählbares“ (Kasabova/Langreiter 2007: 198), als Stilmittel, das Erzählungen voranzutreiben vermag, sowie als Erklärungs- und Rechtfertigungsmuster. Da Unvorhergesehenes und Unvermitteltes immer erst ex post erkannt und erfasst werden kann, kommt seinen Spuren und Effekten – und damit der Materielle-Kultur-Forschung – eine zentrale Rolle bei der Auseinandersetzung mit dem Zufälligen zu. Diese trägt mit Konzepten wie der „Tücke des Objekts“ (u. a. Ferus/Rübel 2009) und dem „Eigensinn der Dinge“ (Hahn 2015) zum Theorieangebot im Themenfeld bei und verfügt in der Reflexion etwa zum Entstehen musealer Sammlungen (Weschenfelder 1992) auch über praxisrelevante Expertise. In der Medien- und Populärkulturforschung werden Repräsentationen des Möglichen untersucht und auf ihre Plausibilisierungspotenziale befragt. Forschungen zu Technik im Alltag erkennen diese als Bearbeitungstool von Kontingenzen (Beck 1997), die Be-forschung Digitaler Kulturen lenkt den Blick auf die Produktivität des Zufalls, z. B. in der Arbeit mit KI (Vepřek 2024), und hebt als Science and Technology Studies das spielerische Moment im wissenschaftlichen Handeln, etwa im Umgang mit Big Data (Dippel 2017), hervor. Und nicht zuletzt bringt die Empirische Kulturwissenschaft ihre Expertise in der Wissenschaftsforschung sowie speziell auch in der Methodenreflexion in die interdisziplinäre Beschäftigung mit dem Zufall ein. Ethnografie zeigt sich letztlich – und vielleicht zuvorderst – als ein Hineinstolpern in Situationen und Konstellationen, bei dem es darum geht, die „Chance von Zufallsfunden systematisch zu erhöhen“ (Lindner 2012: 8), beim Forschungseinstieg die Möglichkeiten unerwarteter Erkenntnis zu schaffen (Künzler 2017) und „Überraschungen zu organisieren“ (Breidenstein u. a. 2013: 121). Die Anthropologie der Zukünfte betont hier den gestalterischen Aspekt, das Designmoment im Umgang mit Zufälligem in der Ethnografie (Pink et al. 2023). Historische Forschung wiederum stützt sich auf überlieferte Materialien, deren Fortdauer Bestandteil eines auch auf Zufälle gründenden Spurgeschehens ist (Krämer 2007). Die historische Annäherung muss sich dabei wie die gegenwartsbezogene Ethnografie oftmals auf glückliche Fügungen verlassen. Das Prinzip der Serendipity und deren epistemisches Potenzial wurde auch in der Empirischen Kulturwissenschaft konzeptualisiert (vgl. Greverus 2002, Lindner 2012).
Ideengeschichtlich ist eine Vielzahl von Versuchen unternommen worden, das Zufällige, Kontingente, Unbestimmte zu fassen und dabei ähnlich gelagerte Begriffe und Konzepte zusammenzudenken, aber auch voneinander abzugrenzen (exemplarisch Vogt 2011). Der Zufall erscheint so als Fortuna (Glück, Vermögen), als Willkür, Nemesis (Verhängnis), als Risiko, das mit dem Scheitern verknüpft wird, und Gefahr, als Akzidens, Aleatorisches und Kontingenz sowie Spekulation. Er berührt – nicht zuletzt in seiner „konstitutiven ‚Plötzlichkeit‘“ (Bickenbach/Stolzke 2014: 48) – wesentliche Fragen, kann aber auch als Beliebiges in Alltagssituationen auftreten (Marquard 1986; vgl. Goffman 1977). Systemtheoretisch ermöglicht der Zufall die Autopoiesis sozialer Systeme (Luhmann 1997) und auch spieltheoretisch nimmt er eine Schlüsselstellung in der Beschreibung sozialer Prozesse ein (Caillois 2017). Zufall „lässt Deutungsmöglichkeiten offen, dort wo kausale Erklärungen nicht mehr greifen“, hat den „Beige-schmack des Erlebnishaften“, gilt vielen als „Sehnsuchtsort der Spontaneität und der Befreiung aus einem berechnenden und kontrollierenden Korsett“ (Wolfmayr/Frischling 2013: 3).
Auch wenn das Nachdenken über den Zufall deutlich älter als die Moderne ist, wird diese Epoche doch zentral mit dem Kontingenten verknüpft (Bauman 1991), die Frage von Sicherheit und Risiko zum Strukturmerkmal erklärt (Beck 1986) und der Unfall zum integralen Bestandteil des (technisch-industriellen) Fortschritts (Scharfe 1996, Virilio 2009). Nicht weniger intensiv, wenn auch anders gelagert – hier mit Akzent auf dem Spielerischen – entfaltet sich die postmoderne Theoriediskussion am Zufall (u. a. Derrida 2001). In bestehenden Forschungen zum Bei-spiel in den Geschichtswissenschaften (Böhme 2018) wiederum wird Zufall als Komplement zu Regeln dargestellt, ähnlich wie das Risiko zur Sicherheit, das Scheitern zum Gelingen. Oder es wird versucht, ihn als „unhistorische Kategorie“ (Koselleck 1979) ganz in der Gegenwart, im Präsentischen, zu verorten.
Der Zufall hat eigene Figuren ausgeprägt: so unter anderem den ‚Deus ex machina‘ in Literatur und Theater oder den ‚Black Swan‘ in der Ökonomie. In der Kriminalistik wird der Zufall zum Komplizen der Ermittelnden (Holzhauer 2016) und auch in Kunst und Literatur ist er längst als unverzichtbar nobilitiert worden. Hier erweist er sich als kreativer, innovativer Impuls, der gesucht und ausgestaltet sowie zum Prinzip erhoben (Improvisation) wird und neue „Ordnungen des Unvorhersehbaren“ (Pflaumbaum u. a. 2015: 8) hervorzubringen vermag. Dabei kann sich eine Beschäftigung mit den Ästhetiken des Zufalls auf diesen als Dargestelltes ebenso richten wie auf die Ebene der Handlungslogik oder den künstlerischen Produktionsprozess (ebd., Boden 2014). Noch einmal vorangetrieben wird die Akzentuierung des Zufälligen – verbunden mit dem Aleatorischen – im Bereich des Digitalen: Beziehungen zwischen Programm, Code, Interface, User:innen sowie Mensch-Daten- bzw. Mensch-Maschine-Relationen, verstanden als sozio-materielle Gefüge, erweisen sich als kontingent (Chun 2008, Suchman 2007).
Die Kongressveranstalter:innen freuen sich über Vorschläge für Beiträge, die sich in den skizzierten und weiteren Feldern mit den folgenden und ähnlich gelagerten Fragen beschäftigen:
- Welche Praktiken und Vorstellungen des Zufälligen lassen sich in Alltagskultur und Wissenschaft antreffen? Wie wird mit dem Zufall umgegangen und wie sehen Transformationen in Routinen und Rituale aus?
- Wie können kulturwissenschaftliche Annäherungen an Phänomene des Überraschenden, des Zufalls und der Kontingenz aussehen? Mit welchen Zugängen können Unbestimmtheiten erfasst werden und wie wirken diese wiederum auf Methoden und Theorien ein?
- Welche Fragen von Macht und sozialer (Un-)Gleichheit sind an Zufall geknüpft (Politiken des Zufalls), welche Erwartungen (Chancen und Krisen) sind an das Zufällige gerichtet?
- Welche Effekte (auch: Humor und Ironie) bringt das Unerwartete hervor?
- Wie sehen Operationalisierungen aus und welche Interessen verbinden sich damit (Zufallsökonomien)?
- Welche Emotionen (Hoffnungen, Ängste, Gleichgültigkeit) lagern sich an Bilder und Narrative des Zufälligen an und welche Ästhetiken bringt es hervor?
- Wie ist das Zufällige mit Fragilität, Störung, Umschwüngen und (Auf-)Brüchen, aber auch mit Stabilitäten beziehungsweise Stabilisierungen, Kontrolle und Transformation verkoppelt? Gibt es „Umschlags-momente“ (Pflaumbaum u. a. 2015: 12) und wie werden diese wahrgenommen, gestaltet und diskursiviert?
- In welchen semantischen Konstellationen bewegen sich Überraschung, Zufall und Kontingenz; in welchen Relationen befinden sie sich zu anderen Prinzipien wie (Ir-)Rationalität, (Un-)Sicherheit, (In-)Determinismus; wie und von wem werden sie ausgehandelt und lassen sich Verschiebungen beobachten (hier auch: Skalierung und Reichweiten)?
- Wo liegen Herausforderungen und Potenziale von Überraschung, Zufall und Kontingenz in der wissenschaftlichen Praxis – speziell auch der Empirischen Kulturwissenschaft? Wie verhalten sich Methodiken und Methodologien zum Zufälligen; wie wird es in Forschungsdesigns identifiziert und reflektiert, wie epistemisch wirksam (gemacht)?
Die Beiträge können sich genauso theoretisch wie empirisch im Themenfeld bewegen. Sie können sich etwa auf Räume des Unbestimmten richten (zum Beispiel Transitorte, Kreativräume), Zeitrelevantes auf Kontingentes befragen (konkrete historische Ereignisse, Gelegenheiten, Auslöser) oder zufallsbezogene Praktiken (Moderieren, Popularisieren, Intensivieren, Tabuisieren, Ignorieren) sowie Kulturtechniken des Zufalls (Probabilistik, Aleatorik, Experiment) in den Blick nehmen.
Das Organisationsteam hat zur Orientierung und Vorbereitung eine Auswahlbibliografie zum Kongressthema erstellt:
https://dgekw.de/wp-content/uploads/2024/11/AUSWAHLBIBLIOGRAFIE.pdf
Organisatorische Informationen
Der DGEKW-Kongress 2025 bietet Interessierten verschiedene Beteiligungsformate:
Plenarbeiträge: Im Plenum stattfindende ca. 30-minütige Einzelbeiträge mit anschließender Diskussion. Die Auswahl erfolgt seitens der Kongressorganisation aus den Einsendungen. Daneben werden einzelne Expert:innen direkt angefragt.
Sektionen: Parallel stattfindende zweistündige Einheiten aus üblicherweise drei thematisch verwandten Einzelvorträgen (jeweils ca. 20 Minuten Präsentationsdauer mit anschließender Diskussion). Die Gruppierung der Vorträge erfolgt durch die Kongressorganisation.
Panels: Parallel stattfindende zweistündige Einheiten mit einem übergreifenden Thema. Die Panels mit maximal fünf(!) thematisch bezogenen Einzelvorträgen (inkl. Einleitung, Kommentaren o. ä.) werden von einer Panelleitung vorgeschlagen. Das gemeinsame Abstract umfasst die Titel und Kurzabstracts aller einzelnen Panelbeiträge sowie die Namen und Kurz-CVs der Panelteilnehmenden.
Innovative und experimentelle Formate: Neben diesen klassischen Präsentationsformen soll es auch Raum für individuelle Formate geben, die etwa neue oder ungewöhnliche didaktische Methoden oder interaktives Arbeiten ermöglichen.
Der Kieler Kongress will darüber hinaus die auf den vorherigen Kongressen etablierte Tradition der forschungs-praktischen und fachpolitischen Workshops weiterführen. Themen können hier etwa Fragen der Forschungs-ethik, Methodologie, Digitalisierungspraxis etc. sein.
Eine wichtige Rolle nimmt auch das studentische Panel ein, das verschiedene Möglichkeiten bieten soll, laufende studentische Forschungsarbeiten und Projekte zu diskutieren. Hierzu erfolgt seitens der studentischen Vertretung im Hauptausschuss der DGEKW ein gesonderter Call for Papers.
Richtlinien für Einreichungen
Beachten Sie bei der Einreichung Ihrer Abstracts folgende Vorgaben:
- Die Abstracts müssen außer einer kurzen inhaltlichen Zusammenfassung Angaben über die Fragestellung und die empirische Basis enthalten bzw. Auskunft über den Kontext geben, in dem der Beitrag entsteht, gegebenenfalls mit Angaben zu bereits vorliegenden Veröffentlichungen, dem Stand der ei-genen Forschung bzw. ersten Ergebnissen.
- Es muss sich selbstverständlich um neue und bislang unveröffentlichte Forschungspräsentationen handeln. Die Bereitschaft zur Erstveröffentlichung des Beitrages im Rahmen des Kongressbandes im Nachgang der Veranstaltung wird unbedingt vorausgesetzt (Einsendeschluss im Frühjahr 2026)!
- Beiträge können in deutscher oder englischer Sprache präsentiert und publiziert werden.
- Bitte geben Sie aktuelle Kontaktdaten an; bei Panelvorschlägen sowohl der verantwortlichen Organisator:innen als auch aller Beteiligten! Bei späteren Änderungen informieren Sie uns entsprechend.
- Die Abstracts für Einzelvorträge dürfen 2.500, die für Panels 5.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) nicht überschreiten. Einreichungen, die diese Grenzen überschreiten, können für die Auswahl nicht berücksichtigt werden!
- Abstracts und persönliche Angaben können ausschließlich über das dafür vorgesehene Online-Formular eingereicht werden. Nur vollständige und unter Einhaltung der Zeichengrenzen ausgefüllte Formulare können akzeptiert werden.
- Einsendeschluss ist der 15. Januar 2025, 0:00 Uhr (Ausschlussfrist).
Um das Auswahlverfahren zu erleichtern und transparent zu gestalten, werden alle Einreichenden dringend ersucht, diesen Vorgaben zu folgen. Vorstand und Hauptausschuss werden auf ihrer gemeinsamen Sitzung mit Vertreter:innen des lokalen Ausrichters im Februar 2025 die Beiträge auswählen und das Programm festlegen. Eine Benachrichtigung über Annahme oder Ablehnung erfolgt im März 2025.
Das Einreichungsformular zum Call for Papers finden Sie hier:
https://dgekw.de/veranstaltungen/kongresse/dgekw-kongress-2025-beitragseinreichung/