Sozial- und Kulturgeschichte der Gegenwart. Gesellschaftlicher Wandel seit 1990

Sozial- und Kulturgeschichte der Gegenwart. Gesellschaftlicher Wandel seit 1990

Veranstalter
Archiv für Sozialgeschichte (Friedrich-Ebert-Stiftung)
Ausrichter
Friedrich-Ebert-Stiftung
PLZ
10785
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
26.06.2025 - 27.06.2025
Deadline
31.01.2025
Von
Redaktion Archiv für Sozialgeschichte, Archiv der sozialen Demokratie, Friedrich-Ebert-Stiftung

Sozial- und Kulturgeschichte der Gegenwart. Gesellschaftlicher Wandel seit 1990

Tagung des Archivs für Sozialgeschichte in Vorbereitung auf Band 66 (2026)

Social and Cultural History of the Present. Social Change since 1990

Conference of Archiv fuer Sozialgeschichte in preparation of vol. 66 (2026)

Sozial- und Kulturgeschichte der Gegenwart. Gesellschaftlicher Wandel seit 1990

Die Entwicklungen seit 1990 rücken zunehmend in das Blickfeld der historischen Forschung. Für den geplanten Band 66 (2026) des Archivs für Sozialgeschichte laden wir Autorinnen und Autoren aus der Geschichtswissenschaft und den historisch arbeitenden Sozial- und Kulturwissenschaften ein, mit uns über die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse nachzudenken, die sich von den 1990er-Jahren bis in unsere unmittelbare Gegenwart vollzogen haben. Es geht uns um die vielfältigen Umbrüche nach dem großen »Epochenumbruch« von 1989/90, eine Geschichte von Transformation und Ko-Transformation, die gegenwärtig intensiv debattiert wird. Anhand von vier analytischen Achsen möchten wir die Dynamik des gesellschaftlichen Wandels in der jüngsten Zeitgeschichte in erweiterter Perspektive vermessen.

Kapitalistische Transformation und der Wandel von Arbeit und Ungleichheit
Hatten neoliberale Ordnungsvorstellungen schon vor der Zäsur von 1989/90 an Einfluss gewonnen, so bestimmten sie nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in besonderer Weise die politische Agenda im Transformationsprozess. Doch wer genau steuerte diesen Prozess? Wie wirkungsmächtig waren neoliberale Deutungsangebote für politische Parteien und Institutionen, aber auch für Gewerkschaften oder etwa die Internationale Arbeitsorganisation? In welcher Weise prägten sie die Debatten über den Charakter des Kapitalismus in Ost und West? Vor allem aber: Welche Auswirkungen hatte die neoliberale Transformation unternehmerischer Politik und wirtschaftspolitischer Steuerung auf das Verhältnis von Kapital und Arbeit – sei es im Rahmen der wohlfahrtsstaatlichen Reformen seit Ende der 1990er-Jahre, im Zuge der europäischen Wirtschafts- und Währungsunion, durch unterschiedliche Politiken der Privatisierung, oder aber in den Auseinandersetzungen um Deindustrialisierung und Standortkonkurrenzen zwischen Ost und West sowie Nord und Süd? Neben Veränderungen in der Tarif- und Lohnpolitik und Versuchen, auf die Herausforderung des entfesselten Finanzmarktkapitalismus mit neuen Streik- und Protestformen zu reagieren, interessieren uns hier auch die Veränderungen der industriellen Arbeitswelt und dabei insbesondere die Rolle von klassen- und geschlechtsbedingten sowie- ethnischen Ungleichheiten bei der Entstehung einer neuen »Dienstleistungsklasse«, aber auch bei der zunehmenden Digitalisierung der Arbeit.

Legitimationsfragen des demokratischen Politikmodells
Zeitgenössisch galten die Umbrüche von 1989/90 als Ausdruck einer umfassenden demokratischen Erfolgsgeschichte. Kaum eine Rede bemühte nicht Francis Fukuyamas Diktum vom »Ende der Geschichte«. Für eine Vermessung der Umbrüche seit den 1990er-Jahren scheint es dagegen nötig, dieses Erfolgsnarrativ zu hinterfragen und zu historisieren. Woraus speiste sich die Legitimität demokratischer Systeme vor dem Hintergrund des sozioökonomischen und soziokulturellen Wandels? Wo zeigten die Demokratien sich stabil, wie wandelten sich, nicht zuletzt durch die forcierte europäische Integration, die Formen der politischen Partizipation, Kommunikation, Repräsentation und Problembearbeitung – wo und von wem wurde die parlamentarische Demokratie insgesamt als krisenhaft wahrgenommen? Auch hier gilt, dass der institutionelle Wandel der politischen Systeme auf längerfristige Verschiebungen sozial-moralischer Milieus reagierte, die weit vor 1989 zurückreichen. Vor diesem Hintergrund soll der Band dazu anregen, insbesondere die Pluralisierung des Parteienwesens in Europa seit 1990 in den Blick zu nehmen: die Geschichte der Etablierung neuer Parteien ebenso wie das Verschwinden alter Parteien (etwa der kommunistischen Parteien in Ost- und Mitteleuropa). Wichtig sind in diesem Zusammenhang auch Debatten über »Parteienverdrossenheit«, das Verhältnis zu den »neuen« sozialen Bewegungen und die Verbindung von Staats- und Parteienkritik, die aus unterschiedlichen Lagern kamen und aus denen sich etwa auch der gemischte Chor europaskeptischer Stimmen speiste – bis hin zum Aufstieg rechtspopulistischer und rechtsextremer Parteien. Nicht zuletzt ist nach der Pluralität demokratischer Pfade in Europa und nach dem Fort- und Nachwirken beziehungsweise einer Neubegründung ost-westlicher Spezifika zu fragen, ob auf institutioneller oder auf der Wahrnehmungsebene von Politik.

Internationale Kooperation und Konkurrenz
Auf dem Feld der Außen- und Sicherheitspolitik währte die Euphorie über das Ende des Ost-West-Konflikts 1989/90 nicht lange. An die Stelle des bipolaren Bedrohungsszenarios des Kalten Kriegs traten neue internationale und sicherheitspolitische Herausforderungen, die erhebliche gesellschaftliche Auswirkungen hatten. Willkommen für dieses Themenfeld sind etwa Beiträge zur Geschichte der militärischen Interventionen westlicher Staaten in den 1990er- und 2000er-Jahren (in Somalia, Jugoslawien und andernorts), vor allem mit gesellschaftsgeschichtlichen Fokus – zum Beispiel zu den vor allem in Deutschland geführten Debatten über die NATO und die Zunahme von »Out-of-Area«-Einsätzen der Bundeswehr. Von besonderem Interesse sind auch die politischen und gesellschaftlichen Reaktionen auf die Terroranschläge vom 11. September 2001, etwa mit Blick auf die weitreichenden Anti-Terror-Maßnahmen. In welchem Spannungsverhältnis stand die Bedrohung durch neue Formen des Terrorismus zur Einschränkung von Freiheitsrechten?

Nach »9/11« und den Kriegen in Afghanistan und im Irak verschoben sich allmählich die Grundlagen der internationalen Ordnung. So wurde etwa die Reformbedürftigkeit der Vereinten Nationen offenkundig, in deren Sicherheitsrat das Vetorecht der fünf ständigen Mitglieder zwischenstaatliche Konflikte häufig eher verfestigte als zu ihrer Lösung beitrug. Das komplexe Problem, wie multilaterale Organisationen mehr Durchsetzungsstärke entwickeln können, bildet – neben ersten Koordinierungen der Europäischen Union auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik – ein weiteres Themenfeld des geplanten Bandes, das sozialhistorisch eingeordnet werden könnte. Die gesellschaftspolitischen Dimensionen ließen sich aber beispielsweise auch anhand der bis in die 1970er-Jahre zurückreichenden Partizipationsansprüche von Nichtregierungsorganisationen untersuchen. In welcher Form traten in einer politisch zunehmend weniger fest gefügten Welt nichtstaatliche Akteure auf den Plan? Wie vernetzten sich diese national und länderübergreifend, um etwa auf dem Feld der Migrationspolitik und zur Bekämpfung der Klimakrise vergleichsweise machtlose Gruppen der Weltbevölkerung (Flüchtlinge, Klimageschädigte etc.) zu stärken und ressourcenschonende Ökonomiekonzepte zu propagieren?

Die digitale Revolution und die Diversifizierung der Alltagskultur
Ein zentrales Moment der sozialen Umbrüche seit 1990 ist der rasante Wandel der Medienwelt und der Kommunikationstechnologie. Seit den späten 1980er-Jahren entfaltete zunächst das Privatfernsehen mit seinen neuartigen Talk-, Casting- und Gameshows, sogenannten Realityformaten sowie eigenen Musik- und Pay-TV-Sendern enorme Popularität, verstärkte aber auch gesellschaftliche Parzellierungen. Doch schon in den 1990er-Jahren begann der weltweite Siegeszug der digitalen Revolution. Internet und Mobiltelefone weiteten dank immer schnellerer Datenverbindungen exponentiell die Zahl und den Zugang zu Kommunikationskanälen und Informationen ganz unterschiedlicher Art und Qualität. Beiträge, die diese Veränderungen kulturhistorisch analysieren, sind ebenso willkommen wie Vorschläge, die sich mit Fragen von Produktionsbedingungen, Teilhabe und Ungleichheiten in der neuen Medienwelt befassen.

Pluralisierung von Lebensstilen, Veränderungsdruck und neue soziale Ungleichheiten prägten auf verschiedene Weise das Alltagsleben. Innerhalb Europas wurden Beschränkungen nicht nur für Arbeitsmärkte, sondern auch für Reisende abgebaut. Mit der Liberalisierung der Luftfahrt und des Bahn- und Busverkehrs entstanden neue Reisegewohnheiten, die durch »Billigflieger« und Pauschalreisen, Vergleichsportale und Mitfahrbörsen ausgestaltet wurden. In den Auslagen der Supermärkte und vor allem in der Angebotspalette großer Onlinemarktplätze spiegelte sich die steigende Vielfalt der internationalen Warenproduktion ebenso wider wie die durchschlagende Dynamik der globalen Preis- und Standortkonkurrenz und eine wachsende lebensweltliche Kluft zwischen reich und arm. Wir sind außerdem dankbar für Beitragsideen, die neuere jugend- und popkulturelle Phänomene wie Hiphop, Techno, Gaming oder Cosplay mit ihren spezifischen Liveevents, Fanritualen und Dresscodes jenseits reiner Diskursanalysen sozial-, alltags- und medienhistorisch verorten.

Auf einer Tagung, die am 26./27. Juni 2025 von der Friedrich-Ebert-Stiftung voraussichtlich in Berlin ausgerichtet wird, möchten wir Beitragsideen, Themenangebote und gemeinsame Fragen des hier skizzierten Rahmenthemas des Archivs für Sozialgeschichte 66 (2026) diskutieren und weiterentwickeln. Wir laden alle Interessierten ein, uns bis zum 31. Januar 2025 Vorschläge an afs(at)fes.de einzureichen. Sie sollten 3.000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) nicht überschreiten und können – ebenso wie die Vorträge und die späteren Texte – auf Deutsch oder Englisch verfasst werden. Die anschließend von der Redaktion für den Band ausgewählten Beiträge im Umfang von etwa 60.000 Zeichen sollten bis zum 31. Dezember 2025 fertiggestellt werden.

Social and Cultural History of the Present. Social Change since 1990

Developments since 1990 are increasingly becoming the focus of historical research. For the issue 66 (2026) of the Archiv für Sozialgeschichte, we invite authors from the fields of history and the historical social and cultural sciences to reflect with us on the processes of social change that have taken place from the 1990s to the immediate present. We are interested in the manifold upheavals after the great »epochal change« of 1989/90, a history of transformation and co-transformation that is currently the subject of intense debate. Using four analytical axes, we aim to fathom the dynamics of social change in recent contemporary history from a broader perspective.

Capitalist transformation and shifts in labour and inequality
While neoliberal ideas of order already gained influence before the caesura of 1989/90, they came to dominate the political agenda in the transformation process after the collapse of communism. But who exactly steered this process? How powerful were neoliberal interpretations for political parties and institutions, but also for trade unions or the International Labour Organisation? How did they shape the debates on the nature of capitalism in East and West? Above all, how has the neoliberal transformation of corporate policy and economic governance affected the relationship between capital and labour – whether in the context of welfare state reforms since the end of the 1990s, in the course of the European Economic and Monetary Union, through various privatisation policies, or in the disputes over deindustrialisation and competition between East and West, and North and South? In addition to changes in collective bargaining and wage policy, and attempts to respond to the challenge of unleashed financial market capitalism with new forms of strike and protest, we are also interested in changes in the industrial world of work, and in particular the role of class, gender and ethnic inequalities in the emergence of a new »service class«, as well as the increasing digitalisation of work.

Legitimation processes of the democratic political model
At the time, the upheavals of 1989/90 were seen as the expression of a comprehensive democratic success story. There was hardly a speech that did not refer to Francis Fukuyama’s declaration of the »end of history«. In order to fathom the upheavals since the 1990s, however, it seems necessary to question and historicise this narrative of success. What has underpinned the legitimacy of democratic systems in the context of socio-economic and socio-cultural change? Where did democracies prove to be stable, how did forms of political participation, communication, representation and problem-solving change, not least as a result of forced European integration – where, and by whom, was parliamentary democracy as a whole perceived to be in crisis? Here, too, the institutional change in the political systems responded to long-term shifts in social and moral milieus that took place long before 1989. Against this backdrop, the volume aims to encourage a particular focus on the pluralisation of the party system in Europe since 1990: the history of the emergence of new parties as well as the disappearance of old parties (such as the communist parties in Eastern and Central Europe). Also relevant in this context are debates about »party disenchantment«, the relationship to the »new« social movements and the combination of state and party criticism from different camps, which, for example, fed the mixed chorus of Eurosceptic voices – right up to the rise of right-wing populist and far-right parties. Last but not least, the plurality of democratic paths in Europe and the continuation and repercussions, or rather the revival, of East-West specificities must be analysed, whether at the institutional level or at the level of political perceptions.

International cooperation and competition
In the field of foreign and security policy, the euphoria over the end of the East-West conflict in 1989/90 did not last long. The bipolar threat scenario of the Cold War was replaced by new international and security policy challenges that had a considerable impact on society. For this subject area, we invite contributions on the history of military interventions by Western states in the 1990s and 2000s (in Somalia, Yugoslavia and elsewhere), especially with a socio-historical focus – for example, on the debates, particularly in Germany, about NATO and the increase in »out-of-area« missions by the Bundeswehr. Of particular interest are the political and social reactions to the terrorist attacks of 11 September 2001, for example with regard to the far-reaching anti-terrorism measures. What was the tension between the threat of new forms of terrorism and the restriction of civil liberties?

After »9/11« and the wars in Afghanistan and Iraq, the foundations of the international order gradually shifted. For example, the need for reform of the United Nations became apparent, where the veto power of the five permanent members of the Security Council often perpetuated inter-state conflicts rather than helping to resolve them. The complex problem of how multilateral organisations can become more assertive is – along with the European Union’s initial coordination in the field of foreign and security policy - another thematic area of the planned volume that could be interpreted in socio-historical terms. However, the socio-political dimensions could also be examined, for example, on the basis of the demands for participation of non-governmental organisations dating back to the 1970s. How did non-state actors enter the scene in an increasingly politically unstable world? How did these organisations network nationally and transnationally in order to strengthen comparatively powerless groups of the world’s population (refugees, people affected by climate change, etc.) and propagate resource-saving economic concepts, for example in the field of migration policy and in combating the climate crisis?

The digital revolution and the diversification of everyday culture
A central moment of social upheaval since 1990 has been the rapid transformation of the media world and communications technology. Since the late 1980s, private television, with its new talk, casting and game shows, so-called reality formats, and its own music and pay TV channels, has initially enjoyed enormous popularity, but has also reinforced social parcelling. However, the global triumph of the digital revolution began in the 1990s. Thanks to ever faster data connections, the Internet and mobile phones exponentially expanded the number of and access to communication channels and information of very different types and qualities. Contributions that analyse these changes from a cultural-historical perspective are just as welcome, as are proposals that address questions of production conditions, participation and inequalities in the new media world.

The pluralisation of lifestyles, pressure for change and new social inequalities shaped everyday life in various ways. Within Europe, restrictions were removed not only for labour markets but also for travellers. The liberalisation of air, rail and bus transport gave rise to new travel habits, characterised by low-cost airlines and package holidays, comparison portals and car-sharing platforms. Supermarket displays and, above all, the range of products offered by large online marketplaces reflect the increasing diversity of international goods production, the resounding dynamics of global price and location competition, and the widening gap between rich and poor. We are also grateful for ideas for contributions that go beyond pure discourse analysis and place recent youth and pop culture phenomena such as hip hop, techno, gaming or cosplay, with their specific live events, fan rituals and dress codes, in the context of social, everyday and media history.

At a conference to be hosted by the Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin on 26/27 June 2025, we would like to discuss and further develop ideas for contributions, topics and general questions on the subject of the Archiv für Sozialgeschichte 66 (2026) outlined above. We invite all interested scholars to submit proposals to afs@fes.de by 31 January 2025. They should not exceed 3,000 characters (including spaces). Abstracts, conference papers and subsequent contributions may be submitted in German or English. Subsequently, the editors of the Archiv für Sozialgeschichte will select contributions for the inclusion in the volume, which should be approximately 60,000 characters (including footnotes). The submission deadline for contributions is 31 December 2025.

Kontakt

Dr. Philipp Kufferath
+49 228 883-8057
afs@fes.de

https://www.fes.de/afs/cfp